Die Nacht ist sternenklar und der Mond gießt sein silbernes Licht hinab auf das Blätterdach des Ocostun Dschungels. Fledermaus Schwärme durchkreuzen den Himmel. Eine bunte Mischung unterschiedlichster Laute und Tierstimmen künden von der unendlichen Vielfalt des Lebens. Darunter mischt sich das ewige Rauschen und Murmeln der Lebensader, wie sie mit stetig großer Kraft die Wassermassen aus den Bergen von Pelankal in das Taylola Weltmeer schiebt. Am Ufer des Yana Stroms
[1], sitzt eine junge Frau zusammengekauert auf einem umgefallenen Baumstamm, welcher weit ins Wasser ragt. Ihr Haar ist wild zerzaust, ihr Blick wirr und der zerbrechliche Körper trägt Prellungen und Blessuren, welche vom schützenden Mantel der Dunkelheit verschleiert werden. Eine Träne fließt an ihrer runden Backe herunter ins Dunkle und tritt ein in den Kreislauf des Wassers. Als Kind ist sie immer gerannt – diesmal ist sie stehen geblieben. Necahual weiß selbst nicht, was sie sich davon erhofft hatte. Sie wollte es anders machen, anders als in den Jahren zuvor.
Stumm starrt sie mit leerem Blick auf die kleinen Wellen des Yana Flusses. Gleich eines Lichterregens, spiegelt sich das Mondlicht in tausend kleinen silbernen Punkten. Necahual merkt wie ihr unwohl wird und sie klammert sich fest an den umgefallenen Baum. Immer schneller scheinen die Lichter zu tanzen und sie schließt die Augen. In ihr formt sich der Wunsch dem tanzenden Rhythmus der Lichter zu folgen und sie beginnt zu schwanken. Urplötzlich entschwindet ihr jegliche Kontrolle über ihren Körper und wie ein entwurzelter Baum schlägt sie auf dem Wasser auf. Kühlend streicht der schwarze Fluss um ihren geschundenen Leib – jegliche Form von Bewusstsein ist verloren. Ihr ganzer Körper verkrampft sich und wie eine steinerne Statue sinkt sie immer tiefer unter Wasser dem Grund entgegen gleichzeitig wird sie von der Strömung des Flusses erfasst und davon getragen. Ein in der Dunkelheit der Nacht nicht sichtbarer Blutnebel umhüllt die junge Frau der von der gebissenen Zunge ausströmt. Dann setzen die unkontrollierbaren Zuckungen ein und Necahuals kleine körperliche Hülle bebt als werde sie von hundert Blitzen getroffen.
Gleißende Lichter wirren umher und ziehen dabei Kometen gleich, dicke graue Nebelschwaden hinter sich her. Mit jedem Augenblick der vergeht verlischt eines der Lichter und der sich dahinter befindende Nebel wird von leuchtenden Wabenmustern überzogen welche orange zu glimmen beginnen. Die Schwaden formen nun zu einander symmetrische Wellen die im Zentrum aufeinandertreffen und von dort aus wieder in alle Richtungen gespiegelt werden als ob die gesamte Wahrnehmung explodieren würde. Wie die Gesteinssplitter beim Ausbruch eines Vulkans, wird Necahual mit den tiefsten Gefühlen ihres bisherigen Lebens beschossen und von deren Intensität hinweg geschwemmt. Unendlicher Schmerz – die Geburt und der Tod der Mutter. Selbsthass und Verzweiflung – die Zurückweisung durch den Vater. Freude – das Entdecken der Wunder des Waldes. Einsamkeit – die Diskriminierung in der Gemeinschaft des Dorfs. Dankbarkeit, Liebe und Trauer – die Aussöhnung mit dem Vater an dessen Sterbebett. Mut – den Konflikt wagen. Enttäuschung – die unveränderte Ablehnung durch die Gemeinschaft. Zweifel – die Abkehr von der Dorfgemeinschaft. Der glühende Lavafluss der Emotionen trifft auf den Felsen des Egos und reißt Stück für Stück das Ich hinfort, bis nur ein endloser Raum bleibt. Nichts – die Bereitschaft zu sterben.
Aus der Ferne nimmt Necahual wahr, wie ihr Körper, einer Brise des Windes gleich, von Unten sanft gestupst wird. Sie ist nicht mehr allein, jemand beschützt sie. Wie eine Armee von Ameisen, krabbelt die Lebensenergie zurück in ihren Körper - sie japst nach Luft. Nach und nach füllt sich der endlose Raum ihres Geistes mit dem vertrauten Bild des Waldes. Einklang und Harmonie erfüllen Necahual und zum ersten Mal fühlt sie sich wirklich geborgen. Mit ihrer Hand greift sie neben sich ins Wasser, spürt die unter ihr liegende Sandbank und den makellos glatten Körper neben sich, der sie darin hindert wieder hinab ins Flussbett zu sinken. Ein dankbares Lächeln umspielt ihre Lippen und sie schläft vor Erschöpfung ein.
Das Kreischen der Affen und die ersten Sonnenstrahlen wecken Necahual aus ihrem Schlaf. Als sie die Augen öffnet liegt neben ihr im Wasser ein majestätischer Arapaima
[2] und schaut sie mit seinen schwarz-smaragdenen Augen so eindringlich an, dass es sie tief in ihrer Seele berührt. Ein unsichtbares Band scheint sich zwischen den beiden Wesen zu flechten und Necahual spürt, dass dieses Band untrennbar sein wird. Noch nie hat sie sich einem anderen Wesen so verbunden gefühlt. So schön und erfüllend dieses Gefühl auch ist, so unerträglich scheint ihr die Offenbarung ihrer Seele. Sie streckt ihre zittrige, schwache Hand nach dem wunderbaren Wesen aus. Doch ehe sie den Fisch berühren kann, windet sich der Arapaima weg vom Ufer der Sandbank und gleitet mit einem Wink seiner roten Flosse hinab ins Schwarz des Yana Flusses. Ihre Hand gleitet daraufhin ins Wasser und bleibt auf einem glatten Gegenstand ruhen. Zögerlich betastet Necahual was sich da unter ihrer Hand befindet. Es muss ein Stück Holz sein, das da am Bodengrund liegt. Mühsam richtet sie sich auf. Noch immer benommen, reibt sie mit ihrer freien Hand über ihr glühendes Gesicht. Es fühlt sich an als ob das Fleisch, das ihren Schädel bedeckt, wie eine Maske von ihrem Kopf gleitet. Ihre Augen sind noch immer schwer und das grelle Sonnenlicht macht es zu einer aussichtslosen Willensprobe, diese nicht sofort wieder zu schliessen und erneut in den Schlaf zu sinken. Ohne genau zu wissen warum sie es tut, greift Necahual erneut nach dem Holz und legt es auf ihr Gesicht. Langsam perlt das Wasser von der Rinde auf ihre Wangen. Das Holz schmiegt sich fast schon an ihr Gesicht, da es durch das Wasser aufgeweicht und aufgequollen ist. Unter dem Schutz der hölzernen Gesichtsbedeckung schliesst sie die Augen und schläft erneut ein.
Als sie erwacht, blinzelt die rote Sonnenkugel schon hinter den Baumwipfeln hervor und kündet vom nahenden Abend. Sie legt das Holz das auf ihrem Gesicht geruht hat bei Seite, streckt ihre schlaffen Glieder und erhebt sich und schaut sich um. Der Yana Strom musste sie lange mitgezogen haben, denn auf den ersten Blick kann sie keine bekannten Landschaftsmerkmale ausmachen. Unentschlossen setzt sich Necahual wieder auf die Sandbank und greift zum am Boden liegenden Holz. Lange lässt sie es durch die Finger gleiten, spürt die kräftigen Adern, die Knorpel zweier Äste, die Stelle an der das Holz vom Stamm abgebrochen sein musste. Sie wiegt das Stück Holz von einer Hand in die andere während sie darüber nachdenkt wie es wohl wäre wenn sie einfach nicht mehr zum Stamm zurück kehren würde. In Gedanken versunken starrt sie auf das Stück Holz in ihren Händen und auf einem Mal ist sie sich nicht mehr sicher ob sie sich den Arapaima einfach nur eingebildet hat oder ob dieses Wesen sie wirklich gerettet hat denn das Holz in ihren Händen hat große Ähnlichkeiten mit dem Kopf dieses Flussgigantens. Sie nimmt die Obsidian Klinge ihres Vaters aus der Kordel um ihre Hüften und beginnt damit die Formen des Holzes nach zu ziehen. Necahual wird von einem Eifer ergriffen, welchen sie sonst von sich nicht kennt. Mit jedem Ritzer der Klinge nimmt der Kopf des Arapaimas mehr und mehr Gestalt an.
„Ich habe versucht mutig zu sein, mich dem Spott und der Häme zu stellen, doch meine Seele war nicht frei von Furcht! Sie haben es mir angesehen.. wie bei einem Mazama Reh, dass in die Augen des Jaguars blickt.“[3] spricht Necahual zu sich selbst in Gedanken, dabei führt sie das Stück Holz an ihr Gesicht. „Die Augen des Arapaimas sind dagegen unbezwingbar wie Obsidian. Die Kinder des Dschungels fürchten ihn denn die Sagen erzählen von einem Fisch der so groß wurde, dass es die Boote der Fischer umwarf und sie bei ganzem Leib verschluckte.“ spricht sie nun laut, blickt durch die Augen der hölzernen Arapaima Maske und sie vermeint zu spüren wie sich hinter ihrem Nacken Schuppe um Schuppe endlos aneinander reihen und ihr Körper in die Länge wächst, gerade so als ob sie zu jenem sagenumwobenen Fisch würde. Ein bisher fremdes doch berauschendes Selbstbewusstsein keimt in ihr auf, wie sie so die Maske vor ihr Gesicht hebt. Angetrunken von dieser Selbstermächtigung, reißt sie sich ihre Kleider vom Leib. Mit der nun nutzlos gewordenen Kordel bindet sie sich die Maske fest vor das Gesicht und schneidet die übrig gebliebene Schnur mit der Obisidan Klinge ab. Sie wird noch Zähne eines Jaguars für das Gebiss und Federn des Purpur Spechts,
[4] für die Schuppen sammeln müssen um die Transformation zu vollenden. Genau dies ist nun ihr einziges Ziel, als sie mit schubartigen, schnellen Schritten, wie der Flossenschlag eines Fischs, ins Dickicht des Dschungels gleitet.
Bereits innerhalb der ersten sieben Unal gelingt es Necahual die benötigten Federn zu sammeln und sogar einen verendeten Purpur Specht zu finden. Sie lebt in der Wildnis, tagsüber schläft sie in einfachen Erdkuhlen, erst des Nachts traut sie sich heraus dann kann sie sicher sein keinem Menschen über den Weg zu laufen. Innerhalb dieser Zeit, vollzieht sich auch eine für Necahual unerklärliche Entwicklung: Mit jeder Nacht die sie durch den Dschungel schweift, gewinnen ihre Augen an übernatürlicher Sehkraft, so dass es für sie bald keine Rolle mehr spielt ob es vollkommen dunkle Nacht oder helllichter Tag ist. Auf der Suche nach den Jaguarzähnen, lässt sich von den Geistern durch das Unterholz leiten. Ein Baum berichtet ihr von den Verletzungen seiner Rinde. Tierkadaver zeichnen eine Spur des Todes und der Sand am Flussufer flüstert ihr von den sanften Pfoten. Sie selbst ist zu ungeschickt und würde es niemals wagen eine solche Raubkatze allein mit der Obsidian Klinge zu töten und so muss sie sich darauf beschränken dem Jäger zu folgen.
Nachdem ein Tun vergangen ist, denkt sie daran die Suche auf zu geben. Sie würde sich mit anderen Zähnen zufrieden geben müssen. Doch an einem dieser Tage voller Zweifel, bekommt sie Besuch von den Geistern des Waldes. Es war ein seltsamer Tag gewesen an dem sie einfach nicht schlafen konnte. Erschöpft und deprimiert sinkt sie am Fuße eines Ranken bewachsenen Baumes nieder. Sie schliesst die Augen beginnt weg zu dösen, als eine Stimme, wie der Hauch des Windes zu ihr flüstert: „
Habe Vertrauen in dich und dein Schicksal – folge dem Pfad den du beschritten hast und du wirst finden was du suchst. Trinke den Sud der Seelenranke und dein Geheimnis wird sich dir offenbaren.“ Erschrocken schaut sich Necahual um doch egal in welche Richtung sie auch blickt, sie kann niemanden entdecken. „Wer spricht da?“ fragt sie vorsichtig und die Worte verlassen nur widerwillig ihre Zunge, zu lange schon hatte sie nicht mehr gesprochen. Doch aus den Tiefen des Dschungels vernimmt sie keine Antwort. Niedergeschlagen lässt sie ihren Kopf zurück gegen den Baum sinken als dieser gegen einen knochigen Ast stößt, der sich um den Baum geschlungen hat.
[5] Verdutzt dreht sie sich um. „
Da ist sie also, die Seelenranke!“ Necahual betrachtet die Pflanze eingehend. Erinnerungen an den Vater werden plötzlich in ihr wach. Er war ein einfacher Mann, kein Krieger. Das kleine Feld, welches er zu Lebzeiten bestellte, brachte in manchen Jahren sogar weniger Ertrag als die gleichen Pflanzen in der Wildnis des Dschungels. Dennoch hatte er eine einzigartige Gabe: Wenn er durch den Dschungel schritt, war es als ob er eins werden würde mit der Pflanzen- und Tierwelt die ihn umgab. So konnte es passieren, dass er ganz und gar dem Wald verfiel und mehrere Tage nicht nach Hause fand. Für ihn schien auch ein direkter Zusammenhang zwischen Necahuals Mutter und dem Wald zu bestehen denn in den seltenen Fällen wenn er von ihr erzählte, nannte er nie ihren Namen sondern sprach voller Ehrfurcht von der Mutter des Waldes. Natürlich hatte sie gelernt, die Geister die in jedem Wesen ob Pflanze, Tier oder Mensch wohnten zu achten. Was ihre Mutter jedoch mit den Geistern des Waldes zu tun hatte war ihr nie klar geworden. Vielleicht war es die Vorstellung des Vaters gewesen, dass ihr Geist nach ihrem Tod im Dschungel verblieb und er durch sein Einswerden mit dem Dschungel Kontakt zu ihr aufnehmen konnte. Sie beschliesst der Stimme zu folgen. Was hat sie denn schon zu verlieren? Vielleicht waren es auch jene Stimmen denen ihr Vater durch den Dschungel folgte.
Necahual zieht die Obsidian Klinge aus der ledernen Kordel um ihren Unterarm und beginnt damit einen dicken Zweig der Ranke ab zu trennen. Sie muss dabei äußerst vorsichtig vorgehen, damit die feine Klinge nicht zersplittert. Nachdem sie ein Stück der Ranke abgetrennt hat, schabt sie die Rinde in feinen Fasern ab und wickelt diese in ein großes Blatt. Nachdem sie auch noch die Blätter der Chacruna Pflanze gepflückt hat, begibt sie sich auf die Suche nach einem geeigneten Stein, der ihr als Gefäß für den Sud dienen soll. Necahual hat diesen Sud selbst nie zubereitet doch sie weiss aus den Erzählungen ihrer Großmutter, wie die Schamanen dabei vorgingen. Natürlich kennt sie nicht alle Details doch das ihr überlieferte Wissen reicht aus um bei der Herstellung des Suds keine größeren Fehler zu machen. Mit den improvisierten Zubereitungsmitteln, dauert es ganze drei Stunden ehe die Ranke mitsamt den Blättern ganz eingekocht ist. Es ist tiefste Nacht, als sie den dunkelbraunen Sud zu sich nimmt. Sofort setzen die ersten Magenkrämpfe ein und Necahual muss sich so lange übergeben bis ihr Körper nichts mehr hergeben kann. Die Beine an den nackten Körper gezogen, liegt sie auf dem Waldboden und beisst die Zähne zusammen. Sie zweifelt an der Weisheit ihrer Entscheidung und hofft darauf, dass die Schmerzen bald verschwinden.
Nach dem sie eine gefühlte Ewigkeit so verharrt hat, gelingt es ihr mit dem Nachlassen der Schmerzen, ein wenig Kraft zu sammeln und zu einer kleinen Wasserstelle zu kriechen. Nach Vorne übergebeugt sitzt Necahual nun vor der Pfütze und betrachtet ihr Spiegelbild. Ihr ist schummrig und sie hat Mühe ihren Kopf gerade auf den Schultern zu halten. Mit getrübten Sinnen sieht sie in den Spiegel ihres Antlitzes. Hinter ihr taucht der Mond zwischen dem dichten Blätterdach hervor und unter dem silbernen Licht beginnt das Gesicht in der Pfütze zu zerschmelzen. Die Konturen lösen sich auf zu kleine schwarze Ameisen, welche auf endlos verschlungenen Pfaden laufen um dann die Form von Schlangen an zu nehmen, deren Körper sich im silbernen Licht winden und in hunderte kleinere Schlangen aufteilen. Dann plötzlich stockt das Bild und beginnt wie ein gigantisches Spinnennetzt im Wind zu pulsieren. Krampfhaft starren Necahuals Augen in die vor ihr liegende Pfütze, ihr Mund ist vor Staunen weit geöffnet und sie fährt sich mit beiden Händen über die Wangen und zieht dabei ihr Gesicht lang, um sich selbst und die Realität zu spüren. Das Netz beginnt unter sprühenden Funken ab zu brennen und hinterlässt graue Rauchfäden die sich erst im Chaos verlieren um sich dann wieder zu finden und eine geisterhaft anmutende Frau in Erscheinung treten lassen. Necahual meint sich selbst in der Frau erkennen zu können. „Bist du ich?“ fragt sie benommen und ihre Stimme trifft in Form von golden glitzernden Wellen auf die Gestalt vor ihr und plätschert dann in tausend Tropfen an dieser herab. „Ich bin nicht du. Du aber trägst mich in dir denn ich trug dich bis du geboren wurdest!“ Necahual schlägt die Hände vors Gesicht, Tränen prasseln auf ihre Wangen herab, zwischen den Fingern hindurch und über den Rücken ihrer Hände, wie schwere Regentropfen auf das Blätterdach des Urwalds. „Mutter.“ ist alles was sie nun noch über die Lippen bringt.
Mit diesem Tag beginnt Necahuals Weg zurück zu ihrer Mutter, welche ihre Tochter in die Welt der Geister einführt. Im Abstand von wenigen Tagen kehrt Necahual, mit Hilfe der Seelen Ranke, immer wieder zurück zu ihrer Mutter und in die Welt der Geister. Sie lernt die guten und die bösen Geister kennen und verstehen. Denn je tiefer sie eintaucht umso klarer erscheinen ihr die Zusammenhänge. Das vermeintlich chaotische Spiel der Geisterkräfte beginnt sich mehr und mehr für sie zu ordnen und nach und nach geling es Necahual die Geister zu beeinflussen. Dennoch vergehen ganze fünf Tun in der Wildnis, ehe sie endlich die Jaguarzähne für ihre Maske findet.
Ein glücklicher Zufall und ein Wink der Geister führen sie zu dem Skelett eines Jaguars. Dieser muss beim Versuch ein Affenkind zu erjagen auf die wütende Gruppe Gorillas gestoßen sein, welche ihm dank ihrer immensen Kraft das Genick brachen. Voller Aufregung nimmt Necahual den großen Raubkatzenschädel in die Hand. Vorsichtig fährt sie mit den Fingern über die Zähne des Raubtiers. Dann nimmt sie ihre Maske ab und holt sich einen Stein um damit die Zähne einzeln raus zu brechen. Unter den Schlägen des Steins knirschen und knacksen die Kieferknochen, bis sie schliesslich splittern und die Zähne frei geben. Die gelockerten Zähne befestigt Necahual mit einem Lehmgemisch am Maul der Arapaima Maske. Mit jedem Zahn der dazu kommt nähert sich die Maske der vorläufigen Vollendung. Unruhe keimt in ihr auf denn sie erinnert sich das Versprechen, welches sie sich gab. Sie würde wieder zum Stamm zurückkehren sobald sie ihre Maske vollendet hat. Als der letzte Backenzahn seinen Platz im hölzernen Arapaima Kiefer gefunden hat, betrachtet Necaual ihr Werk. Das schnabelförmige hölzerne Maul, besetzt mit den gewaltigen Zähnen des Jaguars, die Aussparungen der Astlöcher für die Augen, der massive Schädelteil, der durch ein Federschuppenkleid des Purpurs Spechts bedeckt ist und das lederne Band, welches die Maske auf dem Gesicht des Trägers halten soll. Dann setzt sie die Maske auf und taucht ein in ihre neue Rolle als Wiederkehrende - als Schamanin.
Das Ufer des Yana Stroms soll ihre erste Station auf dem Weg zurück zum Stamm sein. Sie möchte die Sandbank aufsuchen, zu der sie der Arapaima getragen hat und welche den Beginn einer neuen Zeit in ihrem Leben darstellt. Dort will sie ihren vom Leben im Dschungel gezeichneten Körper reinwaschen. Obwohl die Pflanzen und Tiere hier nicht anders aussehen als an den meisten anderen Flecken im Wald, spürt Necahual bereits aus großer Ferne, wie sie sich dem Yana Strom immer mehr nähert. Ihr Herz beginnt höher zu schlagen und die Schritte ihrer Füße werden schneller und schneller. Mit ihren dünnen Armen schlägt sie Blätter, Zweige und ganze Äste bei Seite. Voller Hast eilt sie durch den Wald als ob sie ein Pfeil sei den man auf ein entferntes Ziel geschossen hat. Immer wieder ist sie kurz davor zu stolpern, doch ihr ausgezeichneter Gleichgewichtssinn helfen ihr wie einer Katze, immer wieder auf den Füßen zu landen.
Dann endlich erreicht sie die Böschung! Mit einem Satz springt sie hinab und landet auf allen Vieren im Sand des Yana Ufers. Mit zwei Handgriffen hat sie die Maske und die Obsidian Klinge abgelegt und gierig schaufelt sie sich nun das dunkle Wasser über den geschundenen Leib. Ausgelassen, mit der Unbeschwertheit eines Kindes taucht sie ganz ins Wasser ein, dreht sich wie ein Fisch um die eigene Achse und lässt sich im Strom treiben. Als sie wieder auftaucht und sich dabei mit beiden Händen das Wasser aus dem Gesicht reibt und die langen, nassen Haare aus dem Gesicht wischt, strahlt sie bis über beide Ohren. Lange war sie nicht mehr so glücklich gewesen wie in diesem Moment.
Plötzlich berührt sie etwas Hartes an der Schulter. Necahual erschrickt, schreit laut auf vor Schreck und dreht sich um. Es ist der leblose Körper eines Menschen der von der Strömung gegen sie getrieben wurde. Vorsichtig tastet sie mit einer Hand nach dem Körper um sicher zu sein, dass dies nur eine Hülle ohne Geist ist. Ihre Hand berührt den Mann am Nacken, erschrocken zieht sie ihre Hand wieder zurück. Trotz des kühlen Wassers schien der Körper geradezu zu glühen! Dieser Mann war alles aber nicht tot! Entschlossen legt sie ihren schmalen Arm um den Hals des Fremden, so dass dessen Kopf über Wasser bleibt und beginnt mit kräftigen Zügen gen Ufer zu schwimmen. Als sie den sicheren Flussstrand erreicht haben, muss Necahual all ihre Kraft aufbringen um den kräftigen Mann ans Ufer zu zerren. Nachdem dies geschafft ist, sinkt sie entkräftet neben dem Mann in den Sand. Viel Zeit zum Ausruhen bleibt ihr jedoch nicht. Der Mann neben ihr röchelt schwer, hustet immer wieder verschlucktes Wasser heraus und wird von Zitteranfällen die sich über den ganzen Körper ausbreiten gepeinigt. Schnell bemerkt sie die fürchterliche Wunde am Bein des Mannes. Dies scheint das Tor zu sein über das die Geister des Leidens in seinen schwachen Körper eindringen und in seinem Körper aufquellen können. Sie streicht dem Fremden mit ihrer schmalen Hand über das Gesicht und fühlt die Hitze seiner Stirn dann steht sie auf und spricht leise: „Ich werde dich hier nicht sterben lassen aber du musst durchhalten bis ich wiederkomme!“ Necahual greift nach ihrer Obsidian Klinge und der Maske und entschwindet zwischen den Bäumen am Ufer.
Es dauert beinahe eine Stunde ehe die Schamanin zu dem Mann am Ufer zurückkehrt. In einem großen Blatt hat sie Moos, verschiedene Beerenfrüchte, Rinde und einen Pilz gesammelt. „Ich bin zurück.“ Sie öffnet vorsichtig den Kiefer des Mannes und legt ihm die Rinde zwischen die Zähne. „Die Geister werden dich nicht kampflos verlassen. Behalte die Rinde in deinem Mund.“ Sie beugt sich hinab zu seinem Bein und zückt die Obsidian Klinge. Ohne zu zögern, ritzt sie entlang des verfärbten Fleischs. Gelber übel riechender Körpersaft quillt zähflüssig wie Hartz aus der schwer entzündeten Wunde. Necahual nimmt ihre lederne Kordel und bindet das Bein oberhalb der Wunde ab. Dann presst sie mit ganzen Körpereinsatz die Seiten zusammen, so dass auch der letzte Tropfen der bösen Geistertränen aus dem Körper weichen, als ihr plötzlich ein silbernes Ei aus dem Bein des Mannes entgegen blitzt. Hier also hatte sich der böse Geist eingenistet! Ihre Augen weiten sich vor erstaunen und entschlossen greift sie danach. Mit ihren beinahe schon krallenartigen Fingernägel gelingt es ihr das Fleisch um das silberne Ei zurück zu drängen und das runde Auge heraus zu schneiden. Der Fremde gibt dabei außer kraftlosem Stöhnen keinen Laut von sich und Necahual öffnet vorsichtig seine verkrampfte Hand und legt ihm als Zeichen des Triumphs das silberne Ei in die Hand. Dann zerdrückt sie die gesammelten Beeren und legt sie in die Wunde, tränkt sie das Moos im Fluss und bindet es geschickt über das Tor um den Eingang für die bösen Geister zu schliessen. Dann nimmt sie dem Fremden die Rinde aus dem Mund und schöpft mit ihren Händen Wasser, welches sie ihm einflößt. Drei Mal wiederholt sie dies, ehe sie ihm den kleinen giftgelben Pilz zwischen die Backen schiebt und seinen Kopf leicht erhöht auf dem Sand bettet.
Den ganzen Tag und die ganze Nacht harrt sie so neben ihm aus, wechselt den Moos Verband und schöpft für ihn Wasser. Am folgenden Tag füttert sie ihn mit einer zerdrückten Mangofrucht doch ansprechbar ist er noch nicht. Am dritten Tag dann richtet er sich zum ersten Mal alleine auf und öffnet die Augen. Ängstlich aber auch erfreut blickt Necahual in die amazongrünen Augen des Fremden, als vom anderen Ufer wildes Kampfgeschrei ertönt und eine Meute, bis an die Zähne bewaffneter Krieger durch das Flussbett auf sie zugestürmt kommt.