Paul schüttelte den Kopf. "
Nein, für einen Mörder halte ich Dich nicht. Du bist betrunken von billigem Fussel und leicht verdienten Siegen.", dachte er und sagte: "
Wenn der Aufstand weitergeht, dann wird es auch andere Tage geben. Ihr Gegner war überrascht und schlecht bewaffnet. Das war eine wilde Keilerei, in der Tat. Aber wenn er sich gesammelt hat, wie wird er Ihnen entgegentreten. Was glauben Sie? Und was ist mit Ihnen? Wozu brauchen Sie diese Kanonen? Da Sie sie nun haben, werden Sie auch benutzen. Und dann werden Menschen sterben.", sagte Paul streng. Aus dem Augenwinkel sah er die Nationalgardisten den Platz räumen. Darum beeilte er sich zu sagen: "
Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass das Blutvergießen sich vermeiden lässt. Kommen Sie heute Abend gegen 19 Uhr zu Pater Grouès in der Rue de Doutes." Dann nahm er sein Tasche und eilte davon.
Paul blickte auf die schwere Uhr über der Tür und wischte sich mit einem Taschentuch feine Schweißperlen von der Stirn. "
Schon fast 19 Uhr. Es ist bald Zeit für die Andacht.", stellte er fest. Sein Blick wanderte durch den Raum, der bis auf den letzten Platz mit Männern besetzt war. Es waren mehr als sonst, man hatte die Suppe mit einem halben Eimer Wasser strecken müssen. Die Stimmung war angespannt, kaum einer redete mehr als einige Worte. Die Luft war verbraucht und feucht von der heißen Suppe. Jemand hatte ein Fenster geöffnet, durch das der Lärm der Straße hineinkam. Nach einigen Minuten half Paul, die Teller zusammenzuräumen und dann gab es nichts mehr, womit er den Moment hinauszögern konnte. Paul fürchtete sich etwas. Er fürchtete, dass er den Respekt der Männer verlieren könnte, dass die Stimmung umkippen konnte, es vielleicht zu einer Schlägerei kommen könnte. Grouès nickte Paul zu. Paul stand auf.
Er räusperte sich und wartete, bis er die Aufmerksamkeit aller hatte. Dann sagte er: "
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Der Friede Gottes sei mit Euch.", worauf hin die Männer mechanisch antworteten: "
Und mit Deinem Geiste.".
"
Herr, wir kommen vor Dich in diesen Stunden mit unserer Verwirrung und unseren Ängsten. Wir leiden unter unsere Bedrückung und der Armut. Da sind die langen Arbeitsstunden in den Fabriken und die Verluste des Krieges. Wir können nichts tun, um unsere Situation zu verbessern, so scheint es. Zwar sehnen wir uns nach dem Frieden Deines Reiches, doch wir müssen erkennen, dass wir gefangen sind in dieser ungerechten Welt. Wir wollten für uns eintreten, aber wir haben keine Stimme unter den Mächten. Wie oft haben wir es friedlich versucht? Herr, sieh in die Herzen dieser Menschen. Unsere Ohnmacht weicht der Wut; wir fragen uns, warum wir uns unser Recht nicht mit Gewalt nehmen. Die Situation ist günstig wie nie. Herr was sollen wir tun?"
Die Männer rutschten unruhig auf ihren Sitzen herum. Paul sah viele errötete Gesichter. Die Männer waren aufgerührt, doch wagten noch nicht, einzugreifen. Einige blickten misstrauisch. Sie erwarteten, dass Paul gleich mit einem jener billigen Tricks die ganze Situation wendete. Man kannte die Formen der Pfaffen. Nur Grouès blieb ruhig. Vor der Andacht hatte er Paul gut zugeredet. "
Paul, Du weißt, dass Du richtig handelst. Sprich aus dem Herzen zu Ihnen. Es wird die Richtigen überzeugen und die anderen waren ohnehin nicht bereit.", hatte er gesagt - Worte, die jetzt gut taten.
Er räusperte sich noch einmal und schlug die Bibel auf: "
Die Lesung für den heutigen Abend kommt aus dem Matthäus-Evangelium, Kapitel 21."
Jesu Einzug in Jerusalem
1 Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus
2 und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt, und gleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir!
3 Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen.
4 Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht (Sacharja 9,9):
5 »Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.«
6 Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte,
7 und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf und er setzte sich darauf.
8 Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg.
9 Die Menge aber, die ihm voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!
10 Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und fragte: Wer ist der?
11 Die Menge aber sprach: Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa.
"
Wollen Sie uns jetzt mit Weihnachtsgeschichten vertrösten, Pater?", rief ein vorlauter Junge von vielleicht siebzehn Jahren, der hinter zwei großen Männer halb versteckt saß.
Paul ließ sich nicht beirren. "
Tatsächlich, aus mir schwer verständlichen Gründen wird die Perikope gerne am ersten Advent verlesen. Doch darum geht es mir nicht. Die Perikope erzählt nämlich nicht nur vom kommenden Messias, sondern auch von der Not des israelischen Volks. Ihr müsst Euch vorstellen, dass das Volk Israel von Mose aus der ägyptischen Knechtschaft geführt wurde. Sie erstritten sich ihren Platz in dem Land, in dem Milch und Honig fließt, wie es heißt. Weil das Herz der Israeliten aber boshaft und verstockt war, lies der Herr sie von den Fremdvölkern bedrängen. Doch immer tat ihm das Wehklagen und Schreien seiner Kinder leid und er erwählte starke Helden, die die Feinde verdrängten und den Frieden wieder herstellten."
"
Und Sie, Pater? Sind Sie unser Held, der uns aus der Knechtschaft der Burgeousie befreit?", höhnte ein rotbackiger Mann.
"
Nein, und jetzt sei still, Ramon. Deine Frechheit bringt Dich in Verlegenheit", gab Paul scharf zurück. "
Deine Anmaßung steht für das israelische Volk. Denn kaum waren sie erretet, da fielen sie auch schon ab und buhlten um die mächtigen Fremdvölker. Der Herr macht wiederum andere Völker stark und lies sie über das Land herfallen[1]. Es gab kaum eine Zeit, in den vielen Jahrhunderten, da herrschte Israel in seinem eigenen Land. Zu Zeiten Jesu waren es die Römer, die das Land besetzt hielten. Sie zwangen den Israeliten ihre Gesetze und ihre Kulte auf. Sie erpressten ein hohes Steuergeld und es gab mindestens eine Hungersnot im Land. Die Bedrückung wird deutlich in den Rufen 'Hoasianna, Hosianna'. Das sind nämlich keine Heilsrufe, sondern es es bedeutet: 'Hilf doch!'."
"
Die Menschen hofften auf den Sohn Davids, der die römischen Besatzer schlagen und den israelischen Thron wieder besetzen sollte. Sie beteten zum Herrn, dass er ihnen einen starken Feldherren senden sollte. Was musste es für ein seltsamer Anblick gewesen sein, als da der Gottessohn in die Stadt einritt: er war verlumpt und ritt auf einem Esel! Er hatte keine Armee bei sich, sondern gerade einmal eine Scharr von zwölf Jüngern. Es muss deutlich gewesen sein, dass dieser Gottessohn die Besatzer nicht schlagen würde. Warum kam der Gottessohn dann in die Welt, wenn er das Land nicht befreite?"
Paul machte eine kurze Pause, um der letzten Frage Raum zu geben. Er hatte die Männer vor sich nicht mehr im Blick, sie verschmolzen zu einer Masse ohne Gesichter. Paul versuchte nicht mehr zu überzeugen, sondern er sprach aus Überzeugung. "
Der Gottessohn kam in diese Welt um den Frieden zu bringen. Der Herr hatte erkannt, dass es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben könnte, wenn das menschliche Herz keinen Frieden und keine Gerechtigkeit kannte. Die Geschichten des Alten Testaments haben es doch gezeigt. Wie oft wurde das Volk Israels aus der Not befreit - und kaum war die Not vorrüber, da folgte es wieder fremden Göttern und verging sich wieder. Also, erst wenn diese bösen Herzen versöhnt würden, würde auch ein sozialer Frieden möglich sein. Was die Versöhnung des Herzens bedeutet, dass hat Jesus in der Bergpredigt niedergelegt. Ich will Euch stellvertretend nur eine Auslegung in Erinnerung rufen:21 Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist (2.Mose 20,13; 21,12): »Du sollst nicht töten«; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein.
22 Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig.
23 Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat,
24 so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe.
25 Vertrage dich mit deinem Gegner sogleich, solange du noch mit ihm auf dem Weg bist, damit dich der Gegner nicht dem Richter überantworte und der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen werdest.
26 Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast.
"
Liebe Brüder! Ihr glaubt, dass Ihr die Gerechten seid und die momentane Stärke macht Euch kühn. Aber Ihr seid schwach und uneins. Und selbst für den Fall, dass Ihr siegen solltet, das böse Herz ist wankelmütig und verräterisch. Noch eint Euch das gemeinsame Feindbild. Doch ich schwöre Euch, wenn der letzte Feind gefallen ist, dann werdet Ihr über einander herfallen und euch gegenseitig unterdrücken, weil jeder meint, gerechter zu sein."
Pauls Stimme war im Laufe der Predigt angeschwollen und er hatte sich heißgeredet. Er spürte die Hitze im Kopf und an den Wangen. Nun aber wurde er wieder ruhiger, aber seine Stimme verlor nicht jenen eindringlichen Ton. "
Versteht doch! Die Nachfolge Christi bedeutet nicht, die Ungerechten totzuschlagen. Sie bedeutet, selbst den Feind anzunehmen und zu lieben und ihn auf den rechten Weg zurückzuführen. Das ist aber nur möglich, wenn Ihr selbst auf dem gerechten Weg geht. Ich bitte Euch, lasst von den Kämpfen ab und lasst Euch für die Nachfolge Christi begeistern!"
[2]