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« am: 25.06.2017, 21:55:56 »
Alicia starrte in das dunkle Gebräu, das vor ihr auf dem klebrigen, feuchten Tresen stand. Den Boden des Steinkrugs erkannte sie nicht. Missmutig hob sie den Humpen an die Lippen und trank die Hälfte in einem Schluck. Hinter ihr wurde Karten gespielt, direkt neben ihr vergnügte sich ein bärtiger Trunkenbold mit einer kichernden Hafendirne, die bei ihrem Gespiel nicht nur einmal an Alicia's Schulter stießen. Alles in allem ein durchschnittlicher Nachmittag in einer der vielen Hafenkaschemmen Niewinters, wie sie es nun schon seit fast einem Zehntag ertragen musste. Die junge Frau mit den hüftlangen, blonden Zöpfen und der wettergegerbten Haut blickte verdrießlich drein und ließ ihren melancholischen Gedanken freien Lauf. Sie vermisste das Leben auf See, die Wogen der Wellen und die steife Brise. Wieder ein Schluck aus dem Krug. Landgang war schlimmer als ein gebrochener Mast, doch es ging nicht anders. Der Brief um den Tod ihres Ziehvaters ereilte sie in einem schwierigen Lebensabschnitt und machte alles nur noch schlimmer. Sicher, Alicia hatte lange keinen Kontakt zu Orbus, der sie damals bei sich aufnahm und ihr ein wohlbehütetes Heim bot, doch er hatte immer einen Platz in ihrem Herzen. Am schlimmsten jedoch war die Tatsache, dass sie sich an die letzten Worte zu ihm nicht einmal erinnern konnte. Jedesmal wenn sie versuchte sich zu erinnern, versetzte ihr dies einen Stich. Der tiefe Schmerz klang nur langsam ab und seid sie in Niewinter angekommen ist, ruht ein dicker Kloß in ihrem Hals, dem sie scheinbar nur mit schlechtem Schnaps und Bier entgegen treten kann. Noch ein Schluck. Doch heute gilt es sich zusammen zu reißen, das wusste sie. Alle würden da sein, nun zumindest hoffte sie das, um ihrem Vater die letzte Ehre zu erweisen, und so es das Schicksal wollte, auch sie. Der letzte Schluck glitt ihre Kehle hinunter. Am besten sie würde sich noch einen für den Weg mitnehmen...
Die Abendsonne verschwand schnell hinter den Häusern der inneren Viertel und würde nun noch einige Zeit auf den sanften Wellen am Horizont der See der Schwerter verweilen. Alicia liebte diese Zeit, doch nun befand sie sich geradewegs auf dem Weg in die äußeren Gebiete. Den Reise-Umhang tief ins Gesicht gezogen, nahm sie einen Schluck aus der verdreckten Pulle, die sie zu einem günstigen Preis erstanden hatte und schlurfte missmutig über das zersprungene Kopfsteinpflaster. Raus aus dem Treiben der Enklave, hinein in die ärmlicheren, zerstörten Ruinen der einst so prunkvollen Stadt.
Den Kopf gesenkt, das rechte Bein angewinkelt an der Wand, stand Alicia etwas abseits der anderen Anwesenden und widmete dem aufgebahrten Orbus nur wenige verstohlene Blicke. Es war schlimmer, als sie es sich erdacht hatte. Ihr war schlecht. Schlecht vom Rum, schlecht von all dem Elend, was sie gerade ihr Leben nannte und schlecht von der Trauer, die sie übermannt hatte, als sie diesen Raum vor wenigen Minuten betrat. Furchtbar, wie er dort lag. Als würde er gleich aufstehen und sie alle fragen, was sie beim Allvater hier treiben würden. Die Pulle war fast leer. Ihr Kopf brummte, doch die ironische Begrüßung des Halb-Elfen entging ihr nicht. Sie schnaubte verächtlich, schüttelte leicht den Kopf und nahm noch einen Schluck Rum.