Familie und KindheitWie in ihrer Welt üblich, lebte Olga im Großverband ihres Clans. Die Kinder all ihrer Onkel und Tanten galten als Geschwister, so dass sie, obwohl einziges Kind ihrer Eltern, mit zahlreichen Spielkameraden aufwuchs. Mit dem Erreichen des fünfzehnten Lebensjahrs allerdings wurde sie wie alle Mädchen von den Jungen getrennt. Da die Hochländer ganz besonders unter der Tatsache leiden, dass so wenige Mädchen geboren werden, kommt Frauen in ihrer Kultur eine besondere Bedeutung zu. Es gilt sie unter allen Umständen vor Schaden zu bewahren und als künftige Mütter für die Sippe zu erhalten. Dementsprechend gelten alle Betätigungen, die sie weit von der heimatlichen Siedlung weg und in mögliche Gefahren führen würden, insbesondere die Jagd und das Waffenhandwerk, als unschicklich und unverantwortlich für Frauen und sind somit den Männern vorbehalten.
Wie bei ihrem Volk üblich wurde auch Olga im Bewusstsein dieser Traditionen streng erzogen und wandte sich nach der rituellen Beendigung ihrer Kindheit, der sogenannten "Hochzeit von Land und Meer", einem schicklichen Beruf zu. Sie erlernte das Handwerk der Kräuterfrau, welches hochangesehen ist, umfasst es doch zwei der vornehmsten weiblichen Aufgaben in den Augen der Zwerge: Zum einen die der Hebamme, die den so kostbaren und herbeigesehnten Kindern in die Welt verhilft, zum anderen die des Schnapsbrennens. Tatsächlich haben es die Hochländerfrauen zu einer hohen Kunstfertigkeit darin gebracht, aus allen möglichen Beeren, Nüssen oder Getreidesorten Liköre und Schnäpse zu fertigen, die als wohlschmeckend und bekömmlich, wenn auch mitunter sehr stark, in ganz Llair geschätzt werden und einen der wichtigsten Exportartikel der Zwerge darstellen – soweit sie die hochprozentigen Getränke nicht gleich selbst verbrauchen.
Jugend, Einstieg ins BerufslebenNachdem Olga ihre Bestimmung gewählt und es zu einer gewissen Kunstfertigkeit darin gebracht hatte, wäre es für sie eigentlich an der Zeit gewesen, ihren Eltern zu signalisieren, dass sie sich nach einem geeigneten Mann für sie umsehen sollten. Im Sinne der pflichtbewussten Zwerge wäre es liederlich und geradezu ehrlos, würde eine gebärfähige junge Frau nicht ihre heilige Pflicht gegenüber dem Clan, dem Volk und der Muttergöttin Danna erfüllen, die allein den Fortbestand der Zwerge sichert und darum ihre am meisten verehrte Gottheit darstellt. Olga indes hatte spürbar mehr des zwergischen Eignsinns und eine gehörige Portion mehr der Sturheit in sich als die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen. Obwohl sie natürlich niemals daran dachte, sich ihren Pflichten zu entziehen – daran hinderten sie Ehrgefühl und Erziehung – war sie doch nicht willens, sich ganz in die Rolle drängen zu lassen, die die Traditionen ihr vorgaben.
Sie hatte schon als Kind gern den Erzählungen der Männer zugehört, die jagend über die Ebenen und Hügel und durch die wenigen Wälder der Insel streiften, um dem Clan Fleisch zu bringen. Die Jagd faszinierte sie, und mit ihrem unnachgiebigen Drängen und Bohren schaffte sie es schließlich, selbst einmal in der sicheren Umgebung der Palisaden um ihr elterliches Gehöft einmal eine Armbrust in die Hand nehmen zu dürfen. Von da war es nicht mehr weit bis zu dem Tag, an dem sie – unerlaubt und ohne das Wissen der Eltern – selbst auszog, um sich zu versuchen. Von nun an huldigte sie nicht nur Danna, der sie sich verschrieben hatte, sondern auch dem Gott Skedi, dem Patron der Jagd. Es gab zwar reichlich Groll wegen ihres starrköpfigen, traditionsfeindlichen Verhaltens, vor allem von den Ältesten, doch war man letztendlich übereingekommen, das Verhalten der jungen Hebamme, die ihre sonstigen Pflichten vorbildlich erfüllte, stillschweigend zu ignorieren, solange sie nur keine weiteren Schwierigkeiten machte oder gar die übrigen Frauen auf dumme Ideen brachte.
ErwachsenenalterAls Olga 30 Jahre alt und damit nach den Sitten der Hochländer erwachsen geworden war, begann die Situation nach und nach untragbar zu werden. Noch immer war sie keinem Mann versprochen, und noch immer ging sie der Jagd leidenschaftlich nach, ja, sie schien sogar immer mehr selbständige Ideen zu entwickeln und begann sogar an der traditionellen Aufteilung der aufgaben zwischen Mann und Frau zu zweifeln – ein unglaubliches Ärgernis! Man begann sich den Kopf zu zerbrechen, wie man die rebellische Olga wieder zähmen könnte, denn eine Frau aus dem Clan zu verstoßen war noch viel weniger denkbar.
Moment der finsteren ErwählungWas die Zwerge allerdings nicht wussten, war, dass die junge Frau in ihrem Inneren durchaus auch von Zweifeln geplagt war. Immer wieder fragte sie sich, ob sie nicht in ihrem Eigensinn zu weit gegangen war und sich lieber wieder in die Rolle fügen sollte, die man ihr zugewiesen hatte. Doch da war jedes Mal ein nagender, brennender Wille zum Widerspruch, der gerade dann umso stärker aufflammte, wenn sie glaubte, sich für ihre Pflicht und gegen ihren Stolz entschieden zu haben. Eine lockende Stimme war es, eine, die ihr wieder und immer wieder leise, doch unüberhörbar zuflüsterte, dass es ihr Recht sei, ihren Willen über das Wohlergehen des Clans zu stellen, dass sie nicht geboren sei, um langsam zu verkümmern, sondern um großes zu leisten.
Freiheit! Grenzenlose Freiheit verhieß ihr die Stimme, wenn sie nur den Mut aufbrächte, ihre Fesseln zu zerreißen und die Traditionen über Bord zu werfen. Und das schlimmste war, dass die Stimme ihre eigene war – ihre innersten Wünsche und Sehnsüchte formulierte, während sie doch zugleich vor solch frivolem, ja, götterlästerlichem Stolz zurückscheute. Es war ihr, als sei da etwas, das den rebellischen Geist in ihr entzündet hatte, dessen Feuer sich nun nur noch schwer eindämmen ließ. Das schlimme an diesem Prozess war, dass er sich schleichend, fast unmerklich vollzog, wie eine zarte Berührung zuerst, sanft und kaum spürbar. Als sie schließlich einen Widerwillen gegen das Etwas in sich entwickelt hatte, war es bereits so untrennbar mit ihr verbunden, dass sie selbst kaum mehr unterscheiden konnte, welche Gedanken von ihr selbst stammten und welche von dem Ding hervorgelockt wurden, das auch sie selbst zu sein schien.
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Die Stadt der Menschen
Die Ketten zogen Olgas Handgelenke schwer nach unten. Kaum brachte die junge Zwergin die Kraft auf, weiterhin in ihrer stolzen Haltung zu verharren und sich mit erhobenem Kinn stehend zu halten. Doch die Wut loderte heiß in ihr. Scham, verletzter Stolz und dieses leise, leise Wispern in ihrem Hinterkopf, das irgendwo zwischen spöttisch, mitfühlend und eine hilfreiche Hand ausstreckend lag, halfen ihr, nicht zusammenzubrechen oder die Tränen zu vergießen, die in ihren Augen brannte. Sie wusste noch immer nicht, wie man sie derart vollständig hatte überrumpeln können. Bei ihren Streifzügen hatte sie sich scharfe Sinne erworben, und dazu einen Instinkt, der sie für gewöhnlich vor Gefahren warnte. Aber als sie dieses Mal auf einem ihrer Streifzüge ihr Nachtlager vorbereitet hatte, war sie nicht darauf vorbereitet gewesen, so zu erwachen: All ihrer Waffen, ihrer Rüstung und ihrer sonstigen Ausrüstung beraubt, nackt bis auf einige Tücher, die kaum reichten, sie schamhaft zu bedecken, und, was noch schlimmer war: in Ketten!
Wütend zerrte die stämmige Zwergin noch einmal an ihren Fesseln, obwohl sie mittlerweile wusste, dass es sinnlos war. Doch sie wollte zeigen, wollte ihren Entführern und sich selbst zeigen, dass ihr Mut nicht gebrochen war. Ihr Blick schoss zu den dunklen, schlanken Gestalten hinüber, die sie um mehr als Hauptslänge überragten. Elfen..! Wer sonst als diese gemeinen, gierigen und grausamen Wesen konnte ihr dies hier angetan haben? Nicht einmal kämpfen hatte sie können... Die Ketten rasselten und klirrten, als sie die gefesselten Hände hob, um sich wütend eine Träne wegzuwischen. Diese elenden spitzohrigen Langbeine würden sie nicht weinen oder aufgeben sie, niemals!
Leider hatten die Kerle ihre Ketten auch an einem festen Ring im Boden festgemacht, sonst hätte sie dem, der schließlich vor sie trat und sie mit einem abschätzenden Blick musterte, ihre eisernen und sehr schweren Ketten liebend gern vor die Brust gerammt, dass seine jämmerlichen dürren Rippen nur so geknackt hätten! Doch ihr blieb nur, wütend mit den Zähnen zu knirschen. "Kräftig gebaut ist sie ja. Wird bestimmt gut arbeiten" meinte der Fremde endlich, nachdem sie sich lange gegenseitig in die Augen gestarrt hatten ohne dass einer von beiden auch nur zwinkerte. Olgas Augen blitzten zornig auf, als er sprach, als sei sie gar nicht anwesend. Dieser clanlose Bastard..!
"Verkaufen kann man sie aber trotzdem nur als Dienstmagd – als Leibdienerin wird die keine Dame haben wollen. Zu plump" fügte der Fremde an. "He..! Was glaubst du stinkiger Halunke eigentlich, wen du vor dir..!" fauchte sie den Fremden an, als dessen Hand nach vorn schoss, ihren Kiefer packte und sich wie eine Eisenklammer darum legte. Ächzend hob Olga ihre gefesselten Hände und suchte sich zu befreien, doch der Mann war stark, sehr stark. Stärker als jedes der Spitzohren, das sie jemals gesehen hatte. Als sie sich im Griff des reich und fremdländisch gewandeten Sklavenhändlers wand, zog er die kleine, aber massige Frau scheinbar mühelos auf ihre Zehenspitzen hoch und brachte ihr Gesicht direkt vor das seine. "Und auch zu aufmüpfig! Soll ich dir beibringen, wem du nun zu gehorchen hast, Zwergenweib..?!"
Und noch während sie wütend darum kämpfte, ihren Kiefer für eine geharnischte Erwiderung freizubekommen, fiel ihr Blick auf die Ohren des Mannes, die rund waren, rund wie ihre eigenen. Und mit einem Mal fielen ihr all die Dinge auf, die Details, die nicht stimmten. Der Bart des Mannes, dicht wie der eines Zwergenpatriarchen, wie ihn kein Elf jemals gehabt hatte. Seine breiten Schultern, die kräftige, ja muskulöse Gestalt, die ihr nur so schlank vorgekommen war, weil er sie so weit überragte. Seine Kleidung, gut gearbeitet zwar, doch von gänzlich anderem Schnitt und von gröberem Tuch als die Gewänder der Elfen... "Ihr Götter... wo bin ich..?" lallte sie unbeholfen durch die Finger des Mannes und sah in ein höhnisch grinsendes Gesicht. "Du bist auf meinem Schiff, Weib, und hier bin ich der Herr über dich, dein Leben und deinen Leib!" Alles in ihr bäumte sich gegen das auf, was ihr immer deutlicher heraufdämmerte, und sie trat in blinder Wut gegen die Schienbeine des Mannes, verstauchte sich ihre Zehen an seinen massiven Beinschienen, bis er sie grob zu Boden schleuderte, wo sie erschöpft liegenblieb. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und fühlte die ersten salzigen Tränen zwischen ihren Fingern hervor rinnen.
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Das Kloster der Schwestern
"Ich weiß, wie du empfindest, Schwester..." Die Worte der Schwertmutter klangen leise in der kleinen Klosterzelle auf. Olga hörte die Anteilnahme darin, obwohl die Amazone eine tiefe, raue Stimme hatte. "Viele unserer Schwestern haben einen Leidensweg wie du hinter sich bringen müssen, ehe sie zu uns fanden." Unwillkürlich lehnte sich die Zwergin fester gegen die Frau. Nebeneinander saßen sie auf dem kargen Nachtlager in Olgas Zelle. Dies hier war in erstaunlich kurzer Zeit ein Zuhause für sie geworden. Fast konnte sie den Worten der Schwertmutter glauben und ihre Erinnerungen nur für einen bösen Traum halten. Die Schläge, die Demütigungen, die Verzweiflung. War das alles unwirklich gewesen? Noch immer konnte sie sich nicht erklären, in welches ferne, unbekannte Land die Sklavenjäger sie entführt haben mochten. Konnte überhaupt wirklich sein, woran sie sich zu erinnern glaubte? Die Zeit als geschundene Dienstmagd in den Häusern der Menschen, jener hochgewachsenen Wesen, die den Zwergen in manchem so ähnlich, in anderem aber unglaublich fremd waren? Wie lange war das überhaupt gewesen? Musste es nicht ein Traum sein, wenn es binnen so kurzer Zeit hier im Kloster zu einem bloßen vagen Schemen verschwamm?
Doch sie konnte sich genauso wenig erklären, wie sie hierher gelangt war. Der Brand im Haus ihres Herrn... hatte sie ihn selbst entfacht? Gewollt hatte sie es unzählige Male... aber sie konnte sich beim beste Willen nicht mehr daran erinnern, ob sie ihren Rachplan auch in die Tat umgesetzt hatte. Das Feuer hingegen, das sie von allen Seiten bedrohte, ihr Todesangst einjagte, das war noch sehr real in ihrem Kopf. Wie auch die helfenden Hände, die sich ihr entgegengestreckt hatten, die Umrisse von Frauen in eigenartigen Brünnen, mit hohen Federbüschen auf ihren glänzenden Helmen. Die Schwertschwestern. Wenn sie aber erneut ein unbekanntes Land betreten hatte, ohne zu wissen, wie und wo... dann konnte das kein Argument sein, mit dem sich die Realität ihrer Zeit als Sklavin anfechten ließe. Denn die Schwestern, das Kloster – sie waren doch real. So real wie ihre Kindheit und ihre Jugend in den Hochlanden, an die sie noch immer mit Wehmut dachte. Was wohl ihre Eltern, ihre Sippe, ihr Clan nun taten, wie es ihnen wohl erging? Nannten sie ihren Namen nicht mehr, weil sie ihre Pflicht nie erfüllt, dem Clan kein einziges Kind geschenkt hatte? Oder machten sie sich Sorgen um sie? Wie viel Zeit war eigentlich vergangen, seit die Menschen sie damals im Schlaf überwältigt hatten? Vielleicht galt sie den Ihren ja bereits als tot...
Olga zuckte zusammen, als die Hand der Schwertmutter über ihre Stirn fuhr, einen ihrer schweren Zöpfe sanft zur Seite schob und ihr Kinn behutsam herumschwenkte, bis sie sich in die Augen sahen. "Ich sehe Schmerz in deinen Augen, Schwester, Schmerz, Zweifel und Verwirrung..." sagte sie. "Ah Mutter, Ihr könnt das gewiss nicht verstehen" seufzte sie, genoss die zärtlichen Berührungen, schämte sich jedoch zugleich für diese Schwäche – wie konnte eine stolze Hochlandzwergin eine Nichtzwergin brauchen, um sich geborgen zu fühlen?! "Ich vermisse meine Leute, mein Land, die Schafe, die Meeresbrandung, die grünen Wiesen... all das fehlt mir furchtbar. Und dann ist da noch..." Die Mutter legte ihr einen Finger auf die Lippen. "Schscht..! Du sollst dich nicht immer wieder daran erinnern, was man dir während deiner Gefangenschaft angetan hat. Hier bist du sicher, hier gilt jede Schwester, jede Frau gleich der anderen! Niemand befiehlt uns, und niemand kann uns verletzen oder erniedrigen. Wir sind die Schwertschwestern, und du, die du deinen Weg zu uns gefunden hast dank der Gnade der Großen Mutter, bist uns willkommen! Lass ab von deinen Sorgen und Ängsten, öffne dich uns und sei unsere Schwester..!"
In ihrer Brust wallte dieses eigenartige, inzwischen so vertraute Gefühl auf. Ja, hier wäre sie frei, so frei wie noch nicht einmal in ihrer Kindheit! Geborgen war sie damals gewesen, gut beschützt und, ja, gewiss geliebt – aber doch nicht Herrin ihrer selbst, sondern untertan so vielen Zwängen, den Traditionen, den Patriarchen, den Pflichten und Sitten. Hier gab es keine Patriarchen, keinen Rat der Ältesten, keine Regeln, die Sitte, Moral und Tugend bestimmten. Hier waren alle Frauen gleich. Sie liebte die Freiheit, das berauschende Gefühl, nicht eingeengt zu sein, hatte es lieben gelernt während ihrer ungezählten Streifzüge durch die Natur von Kurtz. Manchmal glaubte sie, diese Liebe sei bereits in ihr gewesen und nur noch zum Vorschein gebracht worden, als sie die Freiheit in kleinen Stücken zu kosten bekommen hatte. Dann wieder nagte an ihr ein vager Zweifel, ob der Rauschzustand, der sie all ihre Erziehung, ihre Überzeugungen vergessen ließ, wirklich aus ihrem tiefsten Inneren kam oder nur von dort zu kommen schien... Fühlte sie überhaupt, was sie fühlte? Es war widersinnig, doch sie freute sich, ohne in der Lage zu sein, dieses Gefühl ganz auszukosten. Es hatte einen nicht fassbaren Beigeschmack, der sie abstieß und reumütig daran denken ließ, wie glücklich sie hätte werden können, wäre sie den Wegen gefolgt, die die Vorfahren schon für gut befunden hatten...
Dennoch, das Gefühl des Rauschs blieb, und es vermischtes sich mit der eigenartigen Empfindung, als die Hand der Mutter tiefer glitt, über ihr Kinn und ihren Hals bis an ihre Brust. Erneut schienen zwei Herzen in ihr zugleich zu empfinden: Eines, das geradezu gierig darauf drängte, dem immer eindeutiger werdenden Werben der Mutter nachzugeben – viele Schwestern teilten ihr Lager miteinander, wie sie der völlig perplexen Olga mit einem nachsichtigen Lächeln erklärt hatten. Es gab in der Schwesternschaft keine Gesetze, die die körperliche Liebe zwischen zwei Frauen verboten, und keine Mitschwester nahm Anstoß daran. Was sollte also schon dabei sein? Die zwergischen Traditionen, ihre Ansichten zu Anstand und Sitte... sie waren doch so weit weg wie ihre Heimat, vielleicht unendlich weit weg – auf jeden Fall nicht so real und gegenwärtig wie dies hier. Diese war nun ihre Welt, dies waren ihre Schwestern, die sie gütig aufgenommen, niemals bevormundet oder getadelt hatten. Und dieses Herz schlug kräftiger, als die Handfläche der Mutter, rau aber zärtlich, langsam unter die leichte Tunika der Zwergin glitt und über ihre Brust strich...
Doch das andere, das zweite Herz in ihr schlug ebenfalls heftig. Nicht vor freudiger Erregung, sondern vor Schreck. Abscheu, ja, Ekel, Abwehr durchfluteten die Zwergin. Wie konnte es sein, dass sie alle Lehren ihrer Eltern, ihrer Vorfahren und Patriarchen vergaß? War dies die Freiheit, zu tun, was sie wünschte, oder war dies die Freiheit von jeglichen Grundsätzen, Prinzipien, von allem, an dem sich eine Seele festhalten könnte? War sie denn nicht schon völlig unsicher, zu welcher Welt sie überhaupt gehörte, was Traum war und was Wirklichkeit, was sie fühlte und was sie nur zu fühlen glaubte? Ihre Hand fuhr nach oben, legte sich um das Handgelenk der Mutter. Deren Finger krümmten sich nur ganz leicht, streichelten liebkosend über ihren Busen. "Du brauchst keine Angst zu haben – ich werde ganz sanft sein" hauchte sie Olga ins Ohr und fuhr fort, sie zu streicheln. Die junge Zwergin atmete heftig aus, dann packte sie das Handgelenk fester, zog die Hand der Mutter in einer fahrigen Bewegung aus ihrer Tunika und starrte dann mit rot brennenden Wangen zu Boden. "Ich will... ich kann das nicht, Mutter..! Bitte verzeiht mir, aber etwas sagt mir, dass dies nicht meine Gefühle sind, dass dies nicht ich bin..!" flüsterte sie heiser.
Als die Mutter nach einem endlos erscheinenden Schweigen in einer fürsorglichen Bewegung Olgas Tunika wieder zurecht zupfte und ihre Zöpfe richtete, brachte sie keine Vorwürfe vor, versuchte die Zwergin nicht zu überzeugen, noch zu erweichen oder gar zu zwingen. Jede Schwester war vollkommen frei in ihren Entscheidungen. Nur der Blick, den sie mit Olga austauschte, traf diese bis ins Mark. Du bist frei in deinem Handeln, schien dieser Blick zu sagen. Die Fesseln, die dich hindern, existieren nur in deinem Kopf. Es ist an dir, sie zu überwinden – oder dich ihnen zu füge... In den Augen der Mutter lagen Enttäuschung und, für Olga viel schmerzhafter, Mitleid. Sie waren das letzte, was sie sah, bevor ihre eigenen Augen in Tränen schwammen und sie krächzend versuchte, sich der Mutter zu erklären. Dann wurde die Welt um sie herum nachtschwarz.
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Nagende Zweifel
Noch wusste sie nicht einzuschätzen, wohin es sie diesmal verschlagen hatte. Doch es schien Olga wie beim letzten Mal, da die Erinnerung an das furchtbare Feuer sie noch lange in ihren Träumen begleitet hatte, dass auch diesmal die letzten Eindrücke sie weiter begleiteten. Der Blick der Mutter, ihr Bedauern und ihr Mitleid schienen sich regelrecht in ihrer Gedächtnis gefressen zu haben. Und sie schürten die Zweifel in ihr. Hatte sie falsch entschieden? Hatte sie sich nur aus angeborener zwergischer Sturheit heraus geweigert, ihr Glück bei den Schwestern zu finden? Hatte sie nichts gelernt aus der Zeit des Schmerzes und der Erniedrigung in der Stadt der Menschen? Oder wurde sie wahnsinnig, träumte sich von einem Hirngespinst zum nächsten, während man sie sich in Wahrheit womöglich noch auf dem Hof ihrer Eltern befand? Vielleicht in ihrem Bett angebunden, eine sabbernde Irre, die wirres Zeug plapperte..? Das Gefühl der Hilflosigkeit war überwältigend und schmerzhaft –wie sollte sie entscheiden, wenn sie nicht einmal wusste, ob sie nur glaubte, was sie zu wissen meinte?! Diese Gefühle, die sie immer intensiver, immer heftiger verspürte, schienen der einzige Wegweiser, der ihr verblieben war in einer persönlichen Welt ohne Richtungen und Entfernungen. Aber sie zögerte, sich ihnen anzuvertrauen. Denn ein einziges Gefühl hatte sie schon genauso stark gehabt, bevor all dies begonnen hatte, also war Verlass darauf: Und das war ihr Widerstandswille.
Herkunftswelt (Anzeigen)
Olga ist auf der Insel Kurtz geboren und aufgewachsen. Dieses Eiland ist das größte einer Inselgruppe im Nordmeer des Reiches Llair. Umgeben von der oftmals stürmischen, kalten See, ist das hügelige, von weiten Grasflächen überzogene Land der Insel ein idyllisches Fleckchen Erde, das indes zu manchen Zeiten ein raues Klima aufweist, besonders im Herbst und im Frühling, wenn sich die Jahreszeiten abwechseln. Bewohnt wird Kurtz hauptsächlich von zwergischen Großclans, die sich traditionell in die Tief- und die Hochländerclans teilen.
Während die Tiefländer geschickte Handwerker sind und in ihren kleinen, aber wohlbewehrten Siedlungen, in denen es für Eroberer wenig zu holen gibt, kaum einen Feind fürchten, sind die weniger sesshaften Hochländer stetigen Raubzügen der Elfen von der südlicher gelegenen Klingenküste ausgesetzt. Da die Elfen sich vieler Waffen und Apparate bedienen, die ihre geschickten Erfinder und Baumeister anfertigen, kommt es immer wieder vor, dass die Hochländer empfindlich von ihnen getroffen werden. Die Clanskrieger der Zwerge gelten als unnachgiebig und zäh, doch waren ihre Zahlen niemals hoch, zumal die Geburtenrate unter ihnen niedrig ist und kaum jedes vierte Kind weiblichen Geschlechts.
Dennoch weigern sich die stolzen und sehr traditionalistischen Hochländer nach wie vor, ihre althergebrachte Lebensweise aufzugeben. Noch immer leben sie in ihren strikt patriarchalisch geordneten Sippen von der Schafzucht, dem Fischfang und der Schnapsbrennerei, wie es schon ihre Vorfahren taten. Und noch immer schlagen sich die Clans gegenseitig die Köpfe um alter Ehrenfragen willen ein, wenn sie nicht gerade mit Eindringlingen aus den Tieflanden oder von der Klingenküste zu kämpfen haben. Die einzigen Gesetze, die sie anerkennen, sind ihre alten Traditionen und die Richtersprüche ihrer Thains.