Bei Furiz' Lied schaut Siola verwundert auf - trotz der Feldarbeiter auf dem gut zu Hause, trotz der letzten drei Wochen ist Jareshs Ziehtochter die herberen Töne nicht gewohnt. Doch nach nur einem Liedschlag ist die Überraschung aus ihrem Blick verschwunden und ein mildes Lächeln an dessen Stelle getreten. Das muss man ihr zugute halten: sie versucht sich anzupassen, nicht zu Last zu fallen, nicht aufzufallen. Sie lächelt kurz zu Sanjan rüber, während noch gesungen wird. Bei Mezhegos Rüffel kreuzt sich ihr Blick dagegen mit Amaaras - auch mit einem Lächeln.
Dann ist wieder ein Ruf von Basilio zu hören. Tarqetik grunzt und deutet mit dem Kopf in die Richtung des Korakers. "
Man merkt unserem Freund an, dass er aus einem Binnenland stammt, was? Das Meer hat wohl seinen Verstand vernebelt." Der Spruch geht an Bostar - auch die anderen bekommen ihn mit. Wohl nur Basilio nicht - er sitzt zu weit vorn, wo das Getöse der Wellen alles übertönt.
[1]In der besagten halben Stunde kommt das Schiff im Hafen von Prompeldia an. Der Kothon nimmt täglich Dutzende von Handelsschiffen auf und dient zugleich auch als Anlegestelle für die kleine Marine des Stadtstaats. Über die Jahrzehnte ist er immer weiter ausgebaut und befestigt worden. Die natürliche Einfahrt in die Bucht wurde durch steinerne Mauern, die vom Grund aus gebaut wurden, weiter verengt, ein Eisengitter sinkt bei Bedarf bis unters Wasser und versperrt die Durchfahrt. Doch nicht heute Abend - die
Sazari darf rein.
Die Karavelle gleitet zwischen kleinen Fischerbooten, dickbäuchigen Handelsschiffen und einigen Fregatten der prompeldischen Marine vorbei. An den Docks wimmeln Matrosen, Lastträger, Besucher, Händler mit Bauchläden und an Ständen. In zweiter Reihe sind Kontore, Ausbesserungsmulden, Tavernen, Gasthäuser. Das beständige Summen von hunderten Stimmen füllt die Luft, gewürzt mit Hundegebell, Geschrei, den Klängen verschiedener Instrumente, dem Klappern, Hissen und Quitschen von Holz, Sandalensohlen, Seil auf Mast, Segeln. Doch es ist der Geruchssinn, der noch vor den Augen und Ohren gefordert wird. Den Gefährten kommt es so vor, als würden Hunderte von Gerüchen sich miteinander vermengen: Fauliger Fisch - Überbleibsel von den Fischauktionen, vertrocknete Innereien an den Docks, eilig rausgeschabt und nicht ins Wasser geworfen; der Schweiß von Dutzenden Männern - Menschen, Kargi, Elfen, sogar Halblinge - von Kindes- bis ins Greisenalter; gebratenes Fleisch, das auf offenen Feuerstellen zubereitet wird, Zwiebeln, unzähligen Gewürze, feuchtes Leder, Färbemittel, hunderte von Waren, die be- und entladen werden und über alledem: Salz und Holz.
Als das Schiff endlich anlegt, ist Siola gerade dabei, ihre Habseligkeiten in ihrem Rucksack zu verstauen. Auch sie hat sich von vielen Dingen im Verlauf der Reise getrennt und nur das Nötigste behalten - ebenfalls ein Lernprozess. Als Grimnir neben ihr auftaucht, krault sie dem Wolf das Fell hinter den Ohren. "
Ja, mein Guter. Ich weiß, du passt auf, dass ich nichts vergesse", murmelt sie.
Schließlich ist das Schiff vertäut und gesichert. Eine Holzsteige wird angelegt. Die Gefährten können von Bord. Mezhego verabschiedet sich von allen gebührend. Die Mannschaft in der ihr eigenen Weise laut und mit Witzen, doch herzlich und offen. Vor allem Amaara wird von einigen noch einmal ganz herzlich umarmt - etwas fester und länger, als unbedingt nötig, würde man meinen.
Auch Flannait und El`ssa werden mit netten Worten und besten Wünschen verabschiedet. Furiz schlägt sogar bei El`ssa noch einmal ein Paar Akkorde an, um anzudeuten, dass er das begleitende Trommeln geschätzt hat. Und Sanjan?: So sehr die Seemänner sich Späße erlaubt haben, so offenherzig gehen sie jetzt mit ihm um und wünschen ihm Glück.
Bostar greift Tarqetik an den Unterarm und zieht ihn zu sich heran. "
In der Stadt kann man leicht den Kopf verlieren, mein Junge - im übertragenden, aber auch im wörtlichen Sinne. Pass auf, dass dir beides nicht passiert. Wäre schade."
Tarqetik nickt. "
Keine Sorge, mein Freund. Meistens sind es diejenigen, die Streit mir haben, die ihre Köpfe verlieren, nicht ich." Er hält kurz inne, wirkt nachdenklich. "
Manchmal auch diejenigen, die zu lange in meiner Nähe sind", fügt er etwas leiser hinzu.
Bostar runzelt die Stirn. Er will nachfragen, was damit gemeint war, doch Tarqetik dreht sich um, verhindert die Nachfrage. Der Kempe schaut, wie Siola gerade mit ihrem schweren Rucksack kämpfend den Gehsteig zum Hafen runterläuft. Das Schiff wackelt leicht, ebenso der Steig. Hilfe würde Siola sicher nicht schaden. Doch er schmunzelt nur und schaut wieder zu Bostar. "
Sie sagt, sie will sich selbst finden auf dieser Reise. Meiner Erfahrung nach geht das am besten, wenn man seine Päckchen selber trägt."
Noch einmal gibt Tarqetik Bostar die Hand und macht sich ebenfalls auf dem Weg zum Hafen runter. Die anderen Gefährten folgen. Auch Basilio, der von vielen der Matrosen zum Abschluss geherzt wird, ist dabei.
Unten ist das Wirrwarr aus Menschen und Stimmen noch einmal näher, direkter. Es ist schwer, sich ein klares Bild zu machen. Tarqetik schaut zu Amaara rüber. "
Nun denn - du bist die Einheimische hier. Ich nehme an, wir sollten uns aufmachen, mit deinem Auftraggeber, diesem Efet zu sprechen. Dem guten Herrn, der ja auch Jareshs Verbindungsmann ist. Ich will das schnell hinter mich bringen, damit hoffentlich noch Zeit bleibt, sich die Tavernen hier genauer anzusehen. Zu schauen, ob das Bier hier anders schmeckt, als im Norden."
Bevor Amaara antworten kann, schneidet ein schriller Schrei durch das Stimmengewirr. "
Haltet den Dieb!" als die Gefährten sich umdrehen, sehen Sie, wie ein hagerer Mann hinter seinem Karren hervorspringt und mit dem Finger nach vorne deutet. "
Er klaut meine Melonen! Haltet den kleinen Bastard! Der Finger ist auf einen schnellen Schatten gerichtet. Klein, Flink, vielleicht drei Fuß hoch. In der Menschenmenge ist er zunächst nicht gut auszumachen, doch bald erkennen die Gefährten, wer der Schatten ist. Ein Kind, ein Junge mit dunkler Haut. In jeder Armbeuge klemmt eine Melone, während er sich den Weg durch die Menschenmenge bahnt. Seine Fluchtbahn führt ihn geradewegs auf die Gefährten zu. Noch ein Paar Lidschläge und er wird zwischen ihnen vorbeisausen.
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