Hintergrund (Anzeigen)Außenposten 77-31B. Bunkeranlage tief im Inneren des balkhanischen Raumes- weniger von den Voivoden gebilligt als vielmehr zu tief im Niemansland als das sich jemand darum gekümmert hätte. Die Besatzung? Ein verlorener Haufen von abgerissenen Gestalten- seit über einem Monat von der Versorgung abgeschnitten, seit dem Moment, als der unterirdische Tunnel entgültig eingestürzt ist. Und zu allem Überfluss haben die Angriffe auf den Außenposten durch die verdammten Menschenfresser wieder angefangen. Irgendein archaischer, degenerierter Stamm von inzestverdrehten Spinnern hatte die hellvetische Besatzung schon vorher als Zwischenmahlzeit auserkoren- war bisher aber jedes Mal von einem Trommelfeuer aus dem montierten Maschinengewehr und den gezielten Salven des halben Dutzends Wegbereiter aufgehalten worden. Jetzt schwieg das Geschütz- die Kaliber-50-Munition war bis auf einen kümmerlichen Rest verbraucht. Jeder der Soldaten hatte die Munition schon rationiert. Mehr als ein Angriff war mit improvisierten Nahkampfwaffen anstatt mit Gewehrfeuer zurückgeschlagen worden. Und inmitten dieses Irrsinns lag sie. Michelle Kyburg. Hochschwanger, für einen Gefechtseinsatz nur unzureichend ausgebildet, Fourier. Ihr eigentliches Werkzeug der Wahl war der Uplink- sie eigentlich, gemeinsam mit ihrem Mann, nur hier um die Lage zu prüfen und neue Anforderungen zu bearbeiten- die Funkverbindung von 77-31B war vor Ewigkeiten schon als zu schwach und auch kaum realisierbar abgetan worden. Und jetzt sollte dieser Bunker ihr Ende werden? Ihr Grab? Ihr Mann schien angespannt. Ebenso beunruhigt- auch wenn Federico Kyburg versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Er war im Gegensatz zu seiner Frau Verteidigungskämpfe gewohnt- ursprünglich als Grenadier häufiger Monate aus der Alpenfestung abwesend gewesen, tief im feindlichen Balkhangebiet, Territorialregion IV auskundschaften. Den wenigen Dörfern, die sich dem Schutz Hellvetikas unterworfen haben beistehen. Sein letzter Kampfeinsatz war deutlich weniger lange her- auch wenn er sich ihr zuliebe zur Festungswache hatte versetzen lassen. Und jetzt steckte er mit ihr zusammen in diesem Loch fest- lag schon wieder mit angelegtem Wegbereiter an einer Schießsscharte, ließ immer wieder einen der Läufe aufblitzen, wenn ein weiterer Wilder seinen Kopf hervorstreckte. Gerne wäre Michelle neben ihn geeilt, hätte versucht, zumindest irgendwie seine Flanke zu denken- aber die Schmerzen in ihrem Unterleib waren inzwischen zu stark geworden. Sie fühlte, wie das Kind sie trat- zu früh. Deutlich zu früh. Den Bunkerärzten zufolge hatte sie noch einen halben Monat- mindestens. Nur schien der Stress den Wunsch des Kindes, diese Welt zu entdecken deutlich beschleunigt zu haben. Aebischer, ihr Sani, warf ihr schon immer wieder besorgte Blicke zu- ehe er wieder mit einem gezielten Schuss aus der gebastelten Armbrust auf ein Ziel ausserhalb ihres Sichtfeldes beschäftigt war. Die Schmerzen waren inzwischen unerträglich- und die donnernden Explosionen der Schüsse hallten in ihrem Schädel wieder. Alles drehte sich. Alles verschwamm. Alles schien absolut unreal zu werden. Jemand schrie. Laut. In ihrer Nähe? Sie konnte es nicht sehen. Dann bemerkte sie es. Sie schrie. Spürte, wie jemand ihr aus dem Asbestanzug half, ihr gut zuredete. Aebischer? Ja, die Stimme passte zu dem alten Hellvetiker. Immer intensiver wurden die Schmerzen- und sie fühlte die Ohnmacht nahen. Immer noch sprach Aebischer mit ihr- sie verstand ihn nicht. Und dann wurde die Welt entgültig schwarz.
Für jemand anderes zeigte sich die Welt in einem anderen Blickwinkel. Hell. Grell. Hässlich. Laut. War im Bauch seiner Mutter noch alles gedämpft und in angenehme Dunkelheit gehüllt, so war die Welt hier draussen grell und übersteuert, so als wäre sie eine Karikatur seiner heilen Welt in Mamas Bauch. Er wünschte sich zurück- und schrie, als man ihn stattdessen weiter von ihr wegzog, weiter in diesen Lärm, diese Helligkeit. An diesem Tage hatte jener Soldat, der später einmal Dario Kyburg heissen sollte, den ersten Fehler seines Lebens gemacht. Er war geboren worden. Und er bereute es schon jetzt, schrie seine Enttäuschung über diese Welt draussen mit heller, lauter Stimme heraus.
Federico Kyburg hatte nur wenig Zeit sich über den Ausruf Aebischers, die Verkündung, es sei ein Junge, zu freuen- zu sehr war er damit beschäftigt, mit dem Vorschlaghammer Schädel zu zertrümmern. Die Schreie des Babys schienen noch mehr von den verdammten Wilden angelockt zu haben- und diejenigen, die sowieso schon auf dem Weg in den Bunker gewesen waren in einen todesverachtenden Rausch zu versetzen. Sie fielen wie die Fliegen- aber ebenso wie Fliegen konnte man noch so viele erschlagen, sie schwärmten immer weiter auf sie ein. Federicos Arme wurden müde. Schmerzten. Sein Visier war von Blut und Schweiss fast blind. Und immer noch riss der Strom nicht ab. Einen Moment hatte er Zeit zu verschnaufen- Joden, der Sappeur, hatte das 50er für einen Augenblick doch noch einmal Deckungsfeuer geben lassen- ehe der Lauf doch wieder schwieg, hungrig und leer. Unten sammelten sich schon wieder die nächsten Fresser, bereit, sich heute frisches Fleisch zu holen. Und zu allem Überfluss donnerte es auch noch. Donner? Der Himmel war klar- Wolkenlos. Das Donnern wurde intensiver. Lauter. Steigerte sich in ein Krachen. Unruhig ging er einige Schritte zurück, warf einen Blick in das Loch, aus dem ihm Staub und Erde entgegenblickte- Staub und Erde, die vor sich hinvibrierten. Und schließlich den Blick auf die Quelle des Donnerns freigaben. Mit einem Jubeln wandte er sich an den Bunker. "Tunnelbohrer!"
Er griff nach seinem Wegbereiter. Legte die Schulterstütze an- jetzt gab es keinen Grund mehr, mehr als sparsam zu sein. Donnernd ergoss sich eine Welle von Geschossen in die kleiner werdende Welle der Kannibalen- unterstützt von der Verstärkung, formierte sich 77-31B wieder zu einem Bollwerk. Nichtmal zehn Minuten später war es vorbei, konnte Federico seinen Sohn im Arm halten. Suchte sein Blick seine Frau- und als seine Augen den schuldbewussten Blick Aebischers trafen, wusste er Bescheid. Michelle Kyburg hatte die Geburt nicht überlebt.
Für Frederico Kyburg brach eine schwere Zeit an- er versuchte, die Trauer über seine Frau, die Heilung des halben Dutzends Wunden und das Kümmern um seinen Sohn unter einen Hut zu bekommen. Hatte sich in den Innendienst versetzen lassen- hatte genug vom Kämpfen und Bekämpft werden, so dass die nächsten Jahre nichts gefährlicheres als ein paar Schlägereien zu bieten hatten. Dario wuchs prächtig heran- trotz des Umstandes, dass er zu früh auf die Welt gekommen war, ohne Defekte, die ihn vom Dienst am hellvetischen Volke abhalten würden. Und schließlich kam der Tag, auf den sich der junge Kyburg seit Jahren gefreut, vorbereitet und gefürchtet hatte: Seine Musterung. Mit deutlich weniger Mystik als er gedacht hatte wurde er gemessen. Gewogen. Und schließlich für gut genug befunden. Seine physischen Werte waren allesamt hervorragend- ein Erbe seines Vaters. Seine Ausstrahlung und sein Intellekt erfüllten nur grob die Anforderungen- aber für einen Soldaten hielt man solcherlei Werte für "vernachlässigbar". Mit Elan und Begeisterung stürzte er sich in die Ausbildung. In Territorialregion IV konnte man gute Soldaten brauchen- und er erwies sich als genau der richtige Soldat für die Aufgabe, sehr zum Leidwesen seines Vaters, der ihn wohl auch lieber im Festungsdienst gesehen hätte. Immer weiter baute der Trupp unter Hauptfeldwaibel Schneidemühler den Einfluss der Hellvetiker an jenen Orten der Region IV aus, wo selbst die Voivoden sich ungern hintrauten. Schneidemühler peitschte seine Trupps auch in jene Regionen. Rottete feindlich gesinnte Sipplinge mit Stumpf, Stiel und Feuer aus, gliederte friedliche Sipplinge an die Tunnel der Hellvetiker an, jagte Geißler und Wiedertäufer dorthin zurück wo sie herkamen. Und inmitten dieser Kämpfe Dario Kyburg. Mit dem Wegbereiter in der Hand und dem Glauben daran, dass das was sie hier taten das Richtige war stieß er mit ebensolcher Flamme im Herzen wie sein Kommandant in die Wespennester, die korrumpierte Sippenverbände und zur Anarchie übergegangene Banden darstellten. Und alles ging gut. Bis es den Bach runterging.
Eigentlich lief auch diese Befreiung ab wie die vorhergehenden Befreiungen. Schema Delta-1B, die zum Sturm eingeteilten Truppenteile hielten gut sichtbar auf das Tor des Dorfes, das mit versporten Sektenspinnern, die in finsteren Gesängen einer für die Soldaten unhörbaren Musik folgten. Die Sappeure hatten sich mit Granatwerfern und Maschinengewehren auf den Spitzen der Hügel verborgen, auf das Tor angelegt, warteten nur darauf, dass es aufgestoßen würde, das die Krieger dieser versporten Irren hervorbrechen und den Konflikt suchen würden. Und wie jedes Mal funktionierte es. Das Tor öffnete sich.
Und die Sappeure ließen die Hölle regnen. Wie eine Sense aus Kugeln fuhren die beiden Kaliber-50-Maschinengewehre gegenläufig durch die Reihen- ehe die Granaten der Werfer die schon zerstreute Truppe noch weiter aus dem Takt brachte. Wie jedes Mal mussten die Versporten einen Augenblick ihren Rythmus wiederfinden- und diesen Augenblick hatten sie nicht. Bevor sie sich wieder in ihrem finsteren Singsang gefangen hatten, waren die vorrückenden Soldaten und Grenadiere zwischen ihnen, trafen mit Messern und Bajonetten auf die verstreuten Klaner, brachen der Verteidigung endgültig das Genick. In weniger als einer Stunde war das Dorf schutzlos und gesichert- und es folgte das, was von Wiedertäufern als Läuterung, von den Spitaliern als Desinfizierung, und von den Hellvetikern als Säuberung bezeichnet wurde. Die verbliebenen Dörfler, die Meisten kaum mehr als Kinder, schwächliche Frauen oder Alte, wurden zusammengetrieben, in die Hütten gesperrt- und dann die ganze von Sporen und Burn verseuchte Kolonie angezündet. Eine Standardprozedur. Bereits oft genug durchgeführt, um solche Siedlungen an der Ausbreitung zu hindern.
Dieses Mal machte ihnen aber ein "Geschenk" des Löwen einen Strich durch die Rechnung. Sie hatten Anzeichen gesehen, dunkle Hautfarben, Masken, sogar vereinzelte Sturmgewehre. Aber keiner hatte es wirklich ernst genommen. Erst als die Flammen schon an den Häusern leckten, sich durch den Boden fraßen, die Keller erreichten wurde klar was das hier ursprünglich gewesen war, ein Vorposten der NeoLybier und Geißler.
Und ein Treibstofflager.
Für einen Moment war die Welt nichts als Feuer, Hitze und Schmerz. Dann wurde es glücklicherweise für Dario Kyburg Nacht. Dunkel. Erloschen Schmerz und unangenehme Helligkeit- wie er annahm, für Immer. Es war nicht für immer. Als er wieder aufwachte, sah er in ein Gesicht, nicht unattraktiv, einige Jahre älter als er, leicht verdreckt- mit einem blauen Streifen quer über dem Gesicht. Ein Klaner- und sie war Kyburg so nahe dass er sie hätte berühren können wenn er wollte. Er startete den Versuch, hob die Hand in Richtung ihrer Wange- und wurde rüde unterbrochen, als ihm ein anderer Klaner einen Speer direkt vor die Augen hielt- ein Klaner, den er bisher nicht einmal gesehen hatte. Jetzt erst sah er sich um- bemerkte, dass in dieser Hütte noch mindestens zwei weitere mit Speeren und Äxten bewaffnete Klaner Wache hielten, neben der jungen Frau, die jetzt mit deutlicher Aggression in der Stimme völlig unverständlich auf den Krieger einredete- bis dieser sichtlich zögernd die Waffe wegnahm. Seine Retterin blickte ihn wieder an. Sagte etwas zu ihm. Und er verfluchte den Umstand, dass er ihre Sprache nicht beherrschte, nur wenige Brocken- nicht genug, dass er ein Gespräch hätte führen können. Sie schien es auch zu bemerken- probierte es mit Gesten. Half ihm auf, zeigte auf sich. "Dina." Dario musste noch einen Moment mit dem Gleichgewicht kämpfen, ihm schwindelte- offenbar hatten sie ihm irgendetwas gegeben. Zeigte schließlich auf sich selbst. "Dario". Dina lachte. Nahm ihn bei der Hand. Zog den immer noch schwankenden Jungen mit sich. Heraus aus der lederbespannten Hütte. Mit einer allumfassenden Geste sagte sie ein weiteres Wort. "Ponosan!" Auch dieses verstand er nicht. War das vielleicht der Name, den dieses Volk sich selbst gegeben hatte? Was hier, in einer kleinen Schlucht, sich angesammelt hatte war vielleicht ein Dutzend Hütten- ein kleiner Stamm. Und jeder von ihnen trug die blaue Tätowierung. Dina führte ihn noch ein Wenig herum. Zeigte ihm das Dorf. Und er folgte ihr. Versuchte ihr zuzuhören. Ihre Sprache zu verstehen, immer noch benommen und verwirrt. Die Verwirrung endete irgendwann. Dafür kam der Schmerz. Sein Gesicht brannte mit einem Mal wie Feuer. Er brach in die Knie. Konnte sich nicht auf den Füßen halten- und zum ersten Mal sah er in einer Pfütze was geschehen war. Erstarrte. Als die Explosion ihn erwischt hatte war das Visier seines Harnischs nicht geschlossen gewesen- und auch wenn er offenbar weit genug weg gewesen war um die größte Wucht zu verfehlen, so war eine Hälfte seines Gesichtes nun nur noch eine verbrannte Narbenlandschaft. Jetzt erst kamen ihm andere Gedanken. Was war mit seinem Trupp? Wo war er- und wie war hierher gekommen? Er brannte darauf es jemanden zu fragen, überschüttete Dina mit einem Redeschwall- doch die blickte ihn mit eine Mischung aus Verwirrung und Entschuldigung an. Sie verstand ihn ebensowenig wie er sie. Leise wimmerte er. Die Schmerzen wurden nicht besser- und die Schmerzen in seinem Inneren ebensowenig besser. Dina redete beruhigend auf ihn ein, in ihrer Sprache, die er nicht verstand. Führte ihn zu einer kleinen, unauffälligen Hütte, legte ihn dort in die Kissen. Hörte nicht auf ihm zuzureden, mit ihrer ruhigen, weichen Stimme. Schließlich drückte sie sich an ihn, der nur mit einer Hose und einem Hemd, beides geliehen, bekleidet war. Er genoss ihre Wärme, ihre Weichheit- und zu seinem eigenen Erstaunen war er bald eingeschlafen.
Die nächsten Wochen verbrachte er mit dem Stamm- lernte langsam ihre Sprache, wurde Teil der Gemeinschaft- bekam sogar die Tätowierung des Stammes, den blauen Streifen der ihn als Krieger auswies. Immer mehr verblasste die Erinnerung an die Hellvetiker- die von hier aus fern und unerreichbar waren, jedenfalls unerreichbar, wollte man nicht mitten durch feindliches Gebiet (inzwischen hatten die Geißler den Verlust ihres Lagers bemerkt und einen Sperrgürtel errichtet, bis sie die restlichen Lager umgeschichtet hatten). Kyburg wurde empfangen wie einer der Ihren. Jagte mit ihnen, kämpfte mit ihnen, lebte mit ihnen- liebte mit ihnen, mit vielen von ihnen, denn der exotische Hellvetiker war gefragt, kräftig und aussergewöhnlich. Aus Wochen wurden Monate. Schließlich ein Jahr. Die Alpenfestung war kaum mehr als eine Erinnerung an vergangene Tage- und doch sollte sie bald wieder sein Leben bestimmen. Und zwar an jenem Tag, an dem die ehemalige Schweiz und ihr langer militärischer Arm sie fand. Bis heute weiß Kyburg nicht, ob sie sich einfach den Weg freigeschossen haben oder ein Abkommen mit den Geißlern geschaffen hatten- aber ein Trupp der weiß gekleideten Soldaten traf in ihrem Dorf ein- und Kyburg erinnerte sich. Trat vor, nur noch in Leder und Felle gekleidet, das Beil, dass er genutzt hatte seit seinem Gewehr vor über neun Monaten die Munition ausgegangen war in der Hand, salutierte zackig- und meldete sich zurück zum Dienst. Die Soldaten nahmen ihn mit. Ließen seine Geschichte überprüfen- und schließlich reihte er sich wieder in die Reihen Hellvetikas ein, zwar entehrt, aber zumindest wieder vollwertig. Einzig die neue Mission, die sie für ihn hatten, schmeckte ihm garnicht. Suchen und Retten.
Was eine miserable Aufgabe.