Archiv > Kagematsu: Was zurück bleibt

[Szene 11] Ein Taubenschwarm im Schatten des Adlers

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Miko Yumi:
Chúsei merkte, dass sie nicht nur mit ihren Argumenten bei dem jungen Krieger nicht durchkam, sonder auch ihren emotionalen Ausbruch nicht ungeschehen gemacht hat. Da er sie sowieso noch festhielt, schmiegte sie sich in ihrer Verzweiflung tiefer in den Griff hinein. Sie merkte, wie sehr sie ihren Mann vermisste. In seinen Armen hatte sie sich immer geborgen gefühlt und vor dem Ungemach der Welt beschützt. Doch die Erinnerung an ihn ließ ihr auch etwas anderes klar werden: Dies hier war ein fremder Mann.

Von ihrem eigenen Verhalten angeekelt, gerade auch weil sie den Eindruck gewann, dass es nicht ohne Reaktion des anderen vonstatten ging, nutzte sie einen Moment der Lockerung und des Umgreifens, um einen weiteren Versuch zum Losreißen - diesmal wesentlich ernster und mit ihrer beachtlichen Stärke - zu unternehmen. Dabei keifte sie fast instinktiv, um ihr eigenes Unbehagen und Unglück mit dem eigenen Verhalten zu überspielen: "Wie fasst ihr eine verheiratete Frau eigentlich an?!"

Tsuyoshi:
Selbst ohne großes Einfühlungsvermögen war zu spüren, wie der Zorn in der Frau in sich zusammenbrach und zunehmender Verzweiflung wich. Der Ronin hämmerte sich ein, dass er sie nur vor einem Schritt bewahrt hatte, der sie und alle die Närrinnen, die ihr vielleicht gefolgt wären, in den sicheren Tod geschickt hätte – samt ihren Alten und Kindern. Aber es fiel ihm schwer, jene andere Stimme in sich zum Schweigen zu bringen, die ihm beharrlich zuflüsterte, dass er ihr auch den Mut genommen hatte. Einen selbstzerstörerischen Mut vielleicht, aber doch immerhin einen, der ihr Hoffnung gegeben hatte. Als sie sich fester an ihn schmiegte, schloss der junge Mann daher, gänzlich mit der Situation und so viel Nähe überfordert, seine Arme um sie und hielt sie fest. "Du darfst nicht weinen" murmelte er hilflos. "Ich werde..." Ja... was würde er eigentlich tun? Was im Namen aller Ahnen ließe sich mit seiner Ehre vereinbaren und wäre mit einer halbwegs realistischen Chance auf Erfolg versehen?

Noch ehe er mit seinen Überlegungen so recht gediehen war, überraschte ihn Chúsei aber bereits ein weiteres Mal, indem sie sich nun plötzlich wieder von ihm losriss – was angesichts seiner Verblüffung auch gelang, denn er gab sie frei, um sie vollends ratlos anzustarren. Dann jedoch sickerte allmählich die Erkenntnis durch die Verwirrung seiner Gedanken, wessen sie ihn soeben bezichtigt hatte. Der Ronin wich einen halben Schritt zurück und hob abwehrend eine Hand. "Aber ich habe... niemals habe ich..!" brachte er heraus, ehe er verstummte und den Kopf schüttelte. Für einen Herzschlag wollte die Empörung aufflammen, wie diese einfache Frau wagte, einem Samurai gegenüber aufzutreten. Dann jedoch siegten Disziplin und Ausbildung, die von ihm verlangten, sich stets moralisch einwandfrei zu verhalten, und er bezwang seinen Zorn. Zunächst neigte er förmlich den Kopf und erwiderte: "Ich hatte nicht die Absicht, deine Ehre zu beflecken und entschuldige mich." Daraufhin sah er wieder auf, schaute ihr in die Augen und fügte hinzu: "...ich hatte nur den Eindruck, du... bräuchtest Trost." Womit er abbrach, verlegen um weitere Worte. Wie man sich einer Frau gegenüber verhielt die einem... nun, nicht mehr ganz gleichgültig war, das hatte ihm kein Sensei erklärt.

Miko Yumi:
Das sie eine ehrliche, offene Entschuldigung erhielt, nahm Chúsei den Wind aus den Segeln. Sie bekam sogar ein schlechtes Gewissen, schließlich war sie nicht ganz unschuldig an der Situation gewesen. So wich seinem Blick aus und murmelte, ihren Ausbruch zurücknehmend: "Es ist ja nichts geschehen. Ver...gessen wir es. Und-und danke für eure Worte." Sie nahm noch etwas mehr Abstand ein und wartete mit gesenktem Blick, ob sie gehen durfte oder für ihre Dreistigkeiten noch eine Konsequenz erlitt.

Ihre Gedanken kehrten wieder zu den 'Ergebnissen' der Beratung der Dorfältesten zurück. Es war unfassbar und wäre, wenn jüngere Männer dabei gewesen wären, sicher anders ausgefallen. Sie würde wieder alles selbst machen - zur Not. Der Gedanke an ihre Tochter gab ihr allen Mut, den sie brauchen würde, egal für welches Schicksal. Eine ruhige, fast fatalistische Entschlossenheit kehrte in ihre verweinten Gesichtszüge zurück. Wehe dem Banditen, der ihr unterkam.

Tsuyoshi:
Dass sein Gegenüber mit der Situation, der plötzlichen Nähe und dem darauffolgenden Abstand ebenso überfordert schien wie er selbst, brachte den Ronin dazu, sich mit der Andeutung eines verlegenen Grinsen am Hals zu kratzen. Er warf ein rasches "Einverstanden!" hin, um seine Unsicherheit zu überspielen. Da Chúsei nunmehr die eigentlich traditionelle devote Pose einnahm, die Tsuyoshi aber von ihr gar nicht mehr erwartet hatte, fügte er beschwichtigend hinzu: "Es ist ja wirklich nichts passiert." Die Form hätte es nun von ihm verlangt, sie gehen zu lassen. Er konnte sich aber schwer dazu entschließen und musterte sie stattdessen noch eine ganze Weile. Bis ihm schließlich bewusst wurde, dass sie das womöglich als Anzeichen einer Bestrafung betrachten würde, die über ihrem Haupt schwebte.

Immerhin war sie ziemlich ungehörig gewesen. Er verspürte aber weder den Wunsch, seinen Stand zu unterstreichen, indem er sie ihre unbedachten Worte büßen ließ, noch wollte er sie wegschicken. Daher beschloss er sich umso mehr der Tatsache zu entsinnen, dass er derjenige war, der zu bestimmen hatte, wies in die Richtung, in der ihre Hütte stand, und sagte ruhig: "Komm jetzt. Ich bringe dich zurück zu deiner Tochter. Sie wird dich vermissen." Bei aller Entschlossenheit, die sie zeigte – er war sicher, dass sie nicht weit von einem neuerlichen Ausbruch – oder vom Zusammenbruch – entfernt war. Diese Frau, all die Frauen in diesem Dorf, brauchten irgendetwas, woran sie sich orientieren und aufrichten könnten, und zwar bald...

Tsuyoshi:
~ Ende der Szene ~

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