Autor Thema: [Szene 11] Ein Taubenschwarm im Schatten des Adlers  (Gelesen 2261 mal)

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Tsuyoshi

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Nur mühsam beherrschte sich Tsuyoshi, als er die Versammlung endlich verließ. In der schwülen Atmosphäre, die ein Unwetter ebenso verhieß wie das Unheil, welches dem Dorf drohte, hatten die alten Männer hin und her geredet, sich gezankt, verzagt gezeigt, sich gegenseitig Vorwürfe an den Kopf geworfen und dabei in den Augen des Ronin einzig eines bewiesen: Im Umkreis der Hütten war außer ihm kein einziger Mann, der sich so hätte nennen können. Kinder und unwissende Halbwüchsige, zögerliche Greise... und die wehrlosen Frauen. Die Zähne fest aufeinander gebissen, die Hände zu Fäusten geballt, so hatte er sich aus der Versammlung zahnloser alter Stänkerer und Besserwisser entfernt, nur ein knappes Neigen des Kopfes als Minimum an Höflichkeit für diese Narren zeigend, die im Angesicht einer tödlichen Bedrohung nicht handeln würden!

Mit großen, kraftvollen Schritten entfernte sich der herrenlose Samurai und wählte seinen Weg mitten durch das Dorf hindurch, ohne auf die verwunderten Blicke der Kinder zu achten, die ihm mit offenem Mund verständnislos nachsahen, oder die ängstlich besorgten der Dorffrauen, die wohl schlimmes ahnten. Was konnte einen Krieger das Schicksal dieser dummen Bauern kümmern, die nicht einmal den Mut hatten, sich zu wehren, wenn ihnen der Tod als einzige Alternative blieb! Wenigstens von den Männern, und seien sie noch so gebrechlich, hätte er das nötige Rückgrat erwartet. Aber die Bauern, gewohnt, sich immer zu verneigen und zu entschuldigen, um Schwierigkeiten aus de Wege zu gehen, waren auch mit den flammendsten Worten nicht zu einem Entschluss zu bewegen gewesen. Welche Verschwendung..! Mit einem frustrierten Schnauben trat er aus dem spärlichen Schatten zwischen zwei niedrigen Hütten und blinzelte missgestimmt in die grelle Sonne.

Miko Yumi

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[Szene 11] Ein Taubenschwarm im Schatten des Adlers
« Antwort #1 am: 09.09.2019, 18:10:01 »
Chúsei hatte durchaus mitbekommen, dass sich der Ältestenrat des Dorfes zusammenfand, um die neusten Entwicklungen zu beraten und einen Plan zu entwerfen. Sie sah zwar nicht, was es groß zu besprechen gab und wäre gerne dabei, doch nötigten die Alten ihr genug Respekt ab, von solchen Einwendungen abzusehen. Nichtsdestotrotz wollte sie wissen, was geplant worden war, schließlich betraf es sie auch, ja sogar vorallem, als eine der kräftigsten und aktivsten Frauen im Dorf. Entsprechend unruhig streunte sie den Nachmittag und Abend in der Nähe des Anwesens des Dorfsprechers herum. Als die Herren aufbrachen, wurde sie von ihnen ignoriert, keiner der Gehenden ließ sich auf ein Gespräch mit ihr ein.

Frustriert und mit banger Sorge stapfte sie ins Dorf zurück und wäre beinahe mit dem jungen Krieger zusammengestoßen. Sie erinnerte sich - er war auch eingeladen gewesen und als einer der ersten vom Hof geeilt. Sie zögerte, war die letzte Begegnung doch eine intensive gewesen. Andererseits schien er offen zu sein und sich für die Belange der einfachen einsetzen zu wollen. Sie raffte ihren Mut zusammen, trat zwei Schritt zurück, um außer Reichweite eines Schlages zu sein, und begann zu sprechen: "Herr, Edler? Verzeiht, darf ich fragen - was...was beschlossen wurde..eben?"

Tsuyoshi

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[Szene 11] Ein Taubenschwarm im Schatten des Adlers
« Antwort #2 am: 14.09.2019, 11:48:56 »
Zunächst reagierte der Ronin gar nicht auf die Frage der Dorffrau. Sein Gesicht wirkte verschlossen, während er vor sich hinstarrte, die Hand auf dem Griff des Katana. Erst als ihn das lastende Schweigen aus seinem Gedankengang riss, sah er auf. Wie es einem Samurai zukam, zeigten seine Züge wenig Regung. Nur seine Augen verrieten, dass er sich des vorigen Treffens mit ihr sehr wohl erinnerte. "Beschlossen?" fragte er und löste seine Linke mit einer sichtlichen Anstrengung von der Waffe. Sieben Atemzüge, exakt abgemessen, ehe er schließlich ohne besondere Betonung antwortete: "Gar nichts. Reden und Vorschläge, Streitereien und keine Ergebnisse." Noch immer beherrscht fuhr er fort, nur einen leisen Unterton von Bitterkeit in der Stimme: "Sie werden sich wahrscheinlich noch gegenseitig beschimpfen, wenn ihre abgeschlagenen Köpfe im Staub liegen." Chúsei mochte auch eine Spur von Verachtung aus seinen Worten heraushören, wie er seinen Blick so über die Hütten schweifen ließ. Leicht nur hob sich ein Mundwinkel, als er sich ihr wieder zuwandte. "Du hättest kaum weniger Recht als eure Ältesten gehabt, an dieser Versammlung teilzunehmen."

Miko Yumi

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[Szene 11] Ein Taubenschwarm im Schatten des Adlers
« Antwort #3 am: 21.09.2019, 23:21:15 »
Da es so lange dauerte, bis Tsuyoshi antwortete, machte sich Chúsei nur umso mehr Sorgen. Sie blieb sicherheitshalber außerhalb der Reichweite seines Schwertarmes und flüsterte: "Herr?" Sie fragte sich, ob er sie gehört hatte. "...durfte ich wohl nicht fragen...", murmelte sie nervös zu sich und begann, langsam zurückzuweichen.

Doch dann bekam sie endlich eine Antwort, die sein Zögern in ein ganz anderes Licht rückte. Und ihre Furcht wieder erstarken ließ, die die vergangenen Worte der Alten gedämpft hatte. Schrecken und Unglaube zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab: "Das...ist doch wohl nicht deren Ernst! Wir haben kaum eine Chance zu überleben, mein Kind erst recht, und die..." Ihre Gesichtszüge wechselten zu Wut hinüber. "Das waren mit Sicherheit ...", sie nannte vier Namen, die wahrscheinlich vorhin gefallen waren, keiner von ihnen der Hausherr aus Kimikos Verwandtschaft. "Mal sehen, was die ihren Frauen zu erzählen gedenken. Ach was, das höre ich mir selbst an!" Die Frau des Schmiedes schiebt ihre Ärmel hoch und lässt ihre Muskeln spielen, die Gegenwart des jungen Kriegers scheint in ihrem Anfall rechtschaffener Wut vergessen.

Tsuyoshi

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[Szene 11] Ein Taubenschwarm im Schatten des Adlers
« Antwort #4 am: 24.09.2019, 12:01:03 »
Nachdenklich ließ Tsuyoshi seinen Blick auf der Frau ruhen, die so ganz und gar nicht in das Bild passte, das man sich für gewöhnlich von einer einfachen Dorffrau machte. Kurz kräuselte ein Lächeln seine Lippen, als ihm einmal mehr der Gedanke kam, dass an ihr womöglich ein Mann und guter Krieger verloren gegangen war. Vielleicht hätte ihr Kind in der Tat selbst verteidigen können, als Mann geboren... Doch gerade die Tatsache, dass ihre Worte durchaus nicht sein Missfallen erregten, ließ ihn vor sie treten und ihr den Weg versperren. "Das hat wenig Sinn" hielt er ihr vor. "Ich habe versucht, ihnen klarzumachen, dass sie handeln oder untergehen müssen. Glaubst du, wo meine Worte nicht gegen Feigheit und Trägheit ankamen, wirst du Erfolg haben?" Als ihm klarwurde, dass er damit vermutlich Hoffnungen zerschlug, die sie hegte, und dass sie niemals gelernt hatte, wie ein Samurai Schicksalsschläge bis hin zum Tod gleichmütig zu ertragen, fasste er Chúsei am Arm, hob mit der anderen Hand ihr Kinn und sah ihr in die Augen. In deren Tiefen suchte er zu ergründen, was diese Frau bewegte.
« Letzte Änderung: 24.09.2019, 13:03:48 von Tsuyoshi »

Miko Yumi

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[Szene 11] Ein Taubenschwarm im Schatten des Adlers
« Antwort #5 am: 27.09.2019, 23:08:06 »
Erst das in-den-Weg-treten schien Chúsei Tsuyoshis Gegenwart wieder klarzumachen, zumindest zuckte ihr Blick zu ihm, wenn er auch noch immer von Wut erfüllt war. Erst mit seinen Worten und seinen Griffen nach ihr zuckte sie zusammen und ihr wurde bewusst, dass sie den Sicherheitsabstand (und jeden Respekt) vernachlässigt hatte. Sie versuchte auszuweichen, traute sich aber nicht, ihre Körperkraft einzusetzen und verlor so das kleine Gerangel. Der junge Krieger bekam so einen widerwilligen Blick und heiße Tränen der Wut zu sehen, begleitet von einer ziemlich steifen Haltung, denn sie versuchte, ihre überbordenen Emotionen in den Griff zu kriegen. Mit einem Zischen - heißem Eisen im Wasser gleich - brachte sie hervor: "Es kann, es darf so nicht bleiben. Es muss etwas getan werden! Soll, nein muss ich alles allein organisieren, gegen diese..." Im letzten Augenblick unterdrückte sie wohl ein äußert unhöfliches Wort. sie schluckte, bekam sich besser in den Griff, und ergänzte mit ruhigerem Ton: "Herr?"

Tsuyoshi

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[Szene 11] Ein Taubenschwarm im Schatten des Adlers
« Antwort #6 am: 29.09.2019, 14:32:29 »
Die Wut, die sich hier offen sichtbar Bahn brach, überraschte den Ronin. Im Allgemeinen wurden Mädchen zu Duldsamkeit, Zurückhaltung und Höflichkeit erzogen. Doch Chúsei schien hier ein wenig aus der Art zu schlagen. Immerhin, sie war noch so weit bei Sinnen, dass sie sich nicht ernsthaft gegen seinen Griff wehrte. Es wäre ihm angesichts seiner Ausbildung wiederum schwer gefallen, eine Jiujutsu-Technik wie einen Hebel oder Wurf einzusetzen, um sie an Dummheiten zu hindern. Eine Kampftechnik, im Ernst gegen eine Frau eingesetzt – eine schwere Hypothek für seine Ehre als Samurai. Darum war er innerlich erleichtert darüber, dass sie doch genug Vernunft zeigte, auch wenn er sich nichts davon anmerken ließ. "Beruhige dich" forderte er sie in ernstem Ton auf, während er nach Worten suchte, sie von ihrem verständlichen, aber wohl sinnlosen Vorhaben abzubringen.

Wie ihr beibringen, dass die Bauern hier niemals gegen die Banditen ankommen würden? Greise, Frauen und Kinder: Selbst wenn man sie zu einem Widerstand überreden könnte, wäre es mit der Entschlossenheit spätestens vorbei, wenn sie blitzende Klingen in den Händen der Angreifer sehen würden. Sicherlich handelte es sich bei diesen bis auf die paar Ronin in ihren Reihen auch selten um Männer, die jemals in einer Schlacht gekämpft hatten. Doch Blut vergossen und getötet würden sie bereits haben. "Du darfst nicht verzweifeln" suchte er Zeit zu gewinnen und nahm sie unbeholfen in den Arm. Wenn er in einem Gebiet weder über Ausbildung noch über Erfahrung verfügte, dann war es darin, dieser zwischen Angst und Trotz schwankenden Frau Trost zu spenden.
« Letzte Änderung: 29.09.2019, 14:33:03 von Tsuyoshi »

Miko Yumi

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[Szene 11] Ein Taubenschwarm im Schatten des Adlers
« Antwort #7 am: 15.10.2019, 06:04:51 »
Es dauerte eine Weile, bis sich die Frau des Schmiedes soweit in den Griff bekam, sich nicht mehr gegen den Griff zu stemmen, sondern stattdessen die Tränen wegzuwischen - was nicht allzuviel half, denn es kamen weitere. Mit schmalen Augen starrte sie auf die Hände des jungen Kriegers, die sie festhielten, und zischte: "Ich werde es nicht zulassen, das meiner Tochter etwas geschieht! Der Fürst mag mir meinen Mann genommen haben - NIEMAND wird ihr auch nur nahe kommen!"

Trotz der Worte machte sie nicht mehr den Eindruck, als würde sie gleich losstürmen wollen. Herausfordend starrte Chúsei Tsuyoshi an: "Und Herr, was habt ihr nun vor? Werdet ihr uns trainieren und führen?" Es war nicht eindeutig zu erkennen, welche Antwort sie bevorzugen würde, aber es war deutlich, dass sie einer Frau der Tat, wenn es so etwas gäbe, sehr nahe kam. Und mit ihrer Physik und Entschlossenheit würde sie vermutlich auch eine Herausforderung für einfache Krieger darstellen - sowie ein leuchtendes Beispiel für ihre Mitkämpfer.

Tsuyoshi

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[Szene 11] Ein Taubenschwarm im Schatten des Adlers
« Antwort #8 am: 15.10.2019, 19:49:32 »
Mit einem wachsenden Gefühl der Besorgnis sah der Ronin die heftige Reaktion der Frau. Und ihre Frage brachte ihn in eine böse Zwickmühle: Einerseits konnte er gut verstehen, wie sehr sich alles in ihr dagegen sträubte, ihr Schicksal einfach zu akzeptieren. Andererseits... "...euch anführen?" echote er langsam. Und dann entschloss er sich, deutlich zu werden, um sie vor schlimmerem zu bewahren. "Ist dir bewusst, dass ich dann die meisten von euch, vielleicht alle, in den Tod führen würde?" Seine Stimme wurde lauter, der Blick hart, und er packte sie so fest am Oberarm, als wollte er ihr vor Augen führen, was sie erwartete. "Es sind erfahrene Kämpfer unter den Banditen!" Den Titel eines Samurai wollte er einem Ehrlosen nicht zugestehen, der sich an Wehrlosen vergriff, um zu rauben und zu morden. Noch nicht einmal den eines Ronin...

Den Griff seiner Finger wie eine Eisenklammer verstärkend, fuhr er fort: "Hier sind nur Frauen, ein paar Greise und Kinder – wenn ihr gegen sie antretet, werden sie euch alle erschlagen! Du kannst nicht erwarten, dass die anderen Frauen ebenfalls willens sind, in einem Kampf zu sterben. Wenn ihr euch nicht wehrt..." Er brach ab und ließ sie los, wandte sich halb ab, wütend, weil er sah, wohin sein Satz führen würde: Wehrten sie sich nicht, dann würden sie am Leben bleiben. Aber sie wären bettelarm, und gewiss würden alle Mädchen und jungen Frauen geschändet werden. So viel hatte er vom Krieg gesehen, dass er daran nicht zweifeln konnte. Und die Banditen würden wiederkommen. Immer wieder.

Aber das führte ihn dazu, dass er keinen Rat wusste, den er ihr hätte geben können. Das simple Faktum war: Die Frauen würden sich nicht verteidigen können, ganz gleich wie sehr sie es versuchten. Und wenn er den Versuch machte, sie im Kampf zu schulen, ihnen die Hoffnung vorgaukelte, sie könnten es mit den bewaffneten Banditen aufnehmen, schickte er sie eben in den sicheren Tod... Die Optionen wirbelten ihm durch den Kopf. Was konnten sie tun? Sich verstecken? Um Gnade flehen? Fliehen, das Dorf aufgeben? Alle klangen gleichermaßen schlecht. "Wenn ich nur eine Handvoll Männer hier hätte..! Samurai, einige wenige bloß..." murmelte er bitter.

Miko Yumi

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[Szene 11] Ein Taubenschwarm im Schatten des Adlers
« Antwort #9 am: 30.10.2019, 06:56:58 »
Chúsei schüttelte den Kopf, sowohl, um die Tränen loszuwerden, als auch, um ihrem Trotz Ausdruck zu verleihen. Sie traute sich weiterhin nicht, sich dem Griff zu entziehen. Tsuyoshis Drohungen, ihnen könnte der Tod drohen, da die Banditen Kämpfer wären, wurden nur mit hartem Blick und vorgeschobenem Kinn beantwortet. Sein Eisenklammergriff provozierte einen unwillkürlichen Schmerzensruf und lenkte sie ab.

Seinen Halbsatz mit der Andeutung, sich nicht zu wehren, ergänzte sie regelrecht blaffend: "...werden sie uns Schlimmeres antun, bevor sie uns umbringen! Habt ihr nicht gehört? Sie lassen keine Zeugen am Leben!" Überrascht von seinem Abwenden stoppte sie ihre Tirade. So wie ihre verzweifelte Wut langsam an Feuer verlor wurde ihr langsam bewusst, wie unmöglich sie sich benahm. Noch wollte sie sich jedoch nicht entschuldigen.

Mit weniger Wut und mehr verzweifelten Trotz argumentierte sie gegen seine Position: "Ihr habt uns - wir sind nicht erfahren, aber mehr als sie, wir kennen den Ort und beherrschen teilweise Bögen und Schleudern. Mit euch als Vorbild werden wir nicht weichen!"
« Letzte Änderung: 30.10.2019, 06:57:21 von Miko Yumi »

Miko Yumi

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[Szene 11] Ein Taubenschwarm im Schatten des Adlers
« Antwort #10 am: 11.11.2019, 05:31:15 »
Chúsei merkte, dass sie nicht nur mit ihren Argumenten bei dem jungen Krieger nicht durchkam, sonder auch ihren emotionalen Ausbruch nicht ungeschehen gemacht hat. Da er sie sowieso noch festhielt, schmiegte sie sich in ihrer Verzweiflung tiefer in den Griff hinein. Sie merkte, wie sehr sie ihren Mann vermisste. In seinen Armen hatte sie sich immer geborgen gefühlt und vor dem Ungemach der Welt beschützt. Doch die Erinnerung an ihn ließ ihr auch etwas anderes klar werden: Dies hier war ein fremder Mann.

Von ihrem eigenen Verhalten angeekelt, gerade auch weil sie den Eindruck gewann, dass es nicht ohne Reaktion des anderen vonstatten ging, nutzte sie einen Moment der Lockerung und des Umgreifens, um einen weiteren Versuch zum Losreißen - diesmal wesentlich ernster und mit ihrer beachtlichen Stärke - zu unternehmen. Dabei keifte sie fast instinktiv, um ihr eigenes Unbehagen und Unglück mit dem eigenen Verhalten zu überspielen: "Wie fasst ihr eine verheiratete Frau eigentlich an?!"

Tsuyoshi

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« Antwort #11 am: 18.11.2019, 14:09:29 »
Selbst ohne großes Einfühlungsvermögen war zu spüren, wie der Zorn in der Frau in sich zusammenbrach und zunehmender Verzweiflung wich. Der Ronin hämmerte sich ein, dass er sie nur vor einem Schritt bewahrt hatte, der sie und alle die Närrinnen, die ihr vielleicht gefolgt wären, in den sicheren Tod geschickt hätte – samt ihren Alten und Kindern. Aber es fiel ihm schwer, jene andere Stimme in sich zum Schweigen zu bringen, die ihm beharrlich zuflüsterte, dass er ihr auch den Mut genommen hatte. Einen selbstzerstörerischen Mut vielleicht, aber doch immerhin einen, der ihr Hoffnung gegeben hatte. Als sie sich fester an ihn schmiegte, schloss der junge Mann daher, gänzlich mit der Situation und so viel Nähe überfordert, seine Arme um sie und hielt sie fest. "Du darfst nicht weinen" murmelte er hilflos. "Ich werde..." Ja... was würde er eigentlich tun? Was im Namen aller Ahnen ließe sich mit seiner Ehre vereinbaren und wäre mit einer halbwegs realistischen Chance auf Erfolg versehen?

Noch ehe er mit seinen Überlegungen so recht gediehen war, überraschte ihn Chúsei aber bereits ein weiteres Mal, indem sie sich nun plötzlich wieder von ihm losriss – was angesichts seiner Verblüffung auch gelang, denn er gab sie frei, um sie vollends ratlos anzustarren. Dann jedoch sickerte allmählich die Erkenntnis durch die Verwirrung seiner Gedanken, wessen sie ihn soeben bezichtigt hatte. Der Ronin wich einen halben Schritt zurück und hob abwehrend eine Hand. "Aber ich habe... niemals habe ich..!" brachte er heraus, ehe er verstummte und den Kopf schüttelte. Für einen Herzschlag wollte die Empörung aufflammen, wie diese einfache Frau wagte, einem Samurai gegenüber aufzutreten. Dann jedoch siegten Disziplin und Ausbildung, die von ihm verlangten, sich stets moralisch einwandfrei zu verhalten, und er bezwang seinen Zorn. Zunächst neigte er förmlich den Kopf und erwiderte: "Ich hatte nicht die Absicht, deine Ehre zu beflecken und entschuldige mich." Daraufhin sah er wieder auf, schaute ihr in die Augen und fügte hinzu: "...ich hatte nur den Eindruck, du... bräuchtest Trost." Womit er abbrach, verlegen um weitere Worte. Wie man sich einer Frau gegenüber verhielt die einem... nun, nicht mehr ganz gleichgültig war, das hatte ihm kein Sensei erklärt.

Miko Yumi

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« Antwort #12 am: 27.11.2019, 05:57:36 »
Das sie eine ehrliche, offene Entschuldigung erhielt, nahm Chúsei den Wind aus den Segeln. Sie bekam sogar ein schlechtes Gewissen, schließlich war sie nicht ganz unschuldig an der Situation gewesen. So wich seinem Blick aus und murmelte, ihren Ausbruch zurücknehmend: "Es ist ja nichts geschehen. Ver...gessen wir es. Und-und danke für eure Worte." Sie nahm noch etwas mehr Abstand ein und wartete mit gesenktem Blick, ob sie gehen durfte oder für ihre Dreistigkeiten noch eine Konsequenz erlitt.

Ihre Gedanken kehrten wieder zu den 'Ergebnissen' der Beratung der Dorfältesten zurück. Es war unfassbar und wäre, wenn jüngere Männer dabei gewesen wären, sicher anders ausgefallen. Sie würde wieder alles selbst machen - zur Not. Der Gedanke an ihre Tochter gab ihr allen Mut, den sie brauchen würde, egal für welches Schicksal. Eine ruhige, fast fatalistische Entschlossenheit kehrte in ihre verweinten Gesichtszüge zurück. Wehe dem Banditen, der ihr unterkam.

Tsuyoshi

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[Szene 11] Ein Taubenschwarm im Schatten des Adlers
« Antwort #13 am: 30.11.2019, 14:50:05 »
Dass sein Gegenüber mit der Situation, der plötzlichen Nähe und dem darauffolgenden Abstand ebenso überfordert schien wie er selbst, brachte den Ronin dazu, sich mit der Andeutung eines verlegenen Grinsen am Hals zu kratzen. Er warf ein rasches "Einverstanden!" hin, um seine Unsicherheit zu überspielen. Da Chúsei nunmehr die eigentlich traditionelle devote Pose einnahm, die Tsuyoshi aber von ihr gar nicht mehr erwartet hatte, fügte er beschwichtigend hinzu: "Es ist ja wirklich nichts passiert." Die Form hätte es nun von ihm verlangt, sie gehen zu lassen. Er konnte sich aber schwer dazu entschließen und musterte sie stattdessen noch eine ganze Weile. Bis ihm schließlich bewusst wurde, dass sie das womöglich als Anzeichen einer Bestrafung betrachten würde, die über ihrem Haupt schwebte.

Immerhin war sie ziemlich ungehörig gewesen. Er verspürte aber weder den Wunsch, seinen Stand zu unterstreichen, indem er sie ihre unbedachten Worte büßen ließ, noch wollte er sie wegschicken. Daher beschloss er sich umso mehr der Tatsache zu entsinnen, dass er derjenige war, der zu bestimmen hatte, wies in die Richtung, in der ihre Hütte stand, und sagte ruhig: "Komm jetzt. Ich bringe dich zurück zu deiner Tochter. Sie wird dich vermissen." Bei aller Entschlossenheit, die sie zeigte – er war sicher, dass sie nicht weit von einem neuerlichen Ausbruch – oder vom Zusammenbruch – entfernt war. Diese Frau, all die Frauen in diesem Dorf, brauchten irgendetwas, woran sie sich orientieren und aufrichten könnten, und zwar bald...

Tsuyoshi

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« Antwort #14 am: 30.11.2019, 14:50:32 »
~ Ende der Szene ~