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Kapitel III: Das Lied der Zeiten

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Changeling:
~ Zwischenspiel ~
Leise knisternd züngelt das Feuer über die dürren Zweige in der Mitte des großen Tipis, umgeben von einem Ring flacher Steine. Das Spiel der Flammen erhellt die Decken, mit denen die Ränder des Zelts abgeteilt sind, sein Schein flackert über die Stangen, welche die schweren ledernen Häute zum Schutz vor der winterlichen Kälte tragen. Es tanzt über lederne Beutel mit Vorräten, über einen Bogen mit Köcher, über Weidenkörbe und Schlafstätten mit Decken und Fellen. Und es zaubert helle Reflexe auf die Gesichter der Kinder, die sich eng zusammengedrängt haben und mit großen, gespannten Augen an den Lippen der Indianerin hängen, die sich mit ihnen an dem Feuer wärmt. Dunkel und rissig wirkt ihre Haut, fast wie das Leder ihres Kleids – eine Frau, der das harte Leben als Squaw eines Jägers, eines Nomaden mit der endlosen Wanderung auf der Spur der Bisonherden frühzeitig die Spuren des Alters aufgeprägt hat. Und dennoch: Ihre Stimme ist kräftig, der Blick klar, fest und sicher der Griff, mit dem sie das Jüngste, ein kleines Mädchen, auf ihrem Schoß hält. Gemächlich legt sie Holz nach und nickt den Kindern zu. "Geh noch einmal in die Traumlande und erzähl uns von dort! Erzähl uns mehr von den einsamen Wächtern, ina!" schallt es ihr aus vielen Mündern entgegen. "Also gut," lächelt die Squaw. Dann schließt sie die Augen, legt den Kopf in den Nacken und wiegt sich mit dem Kind auf ihrem Schoß, als habe sie ihr eben gegebenes Versprechen schon wieder vergessen. Schweigen legt sich über die kleine Gruppe. Nur die Hölzer im Feuer knacken gelegentlich, und die Kinder beginnen ungeduldig zu wispern. Ein unterdrücktes Lachen hier, ein prüfender Blick in das entrückte Gesicht der Squaw... Da plötzlich fängt sie an zu sprechen, zu singen, mit leiser Stimme, wie in Trance.

"Lange ist es her, dass der Große Geist die erste der Welten schuf. Er machte das Land und die Flüsse, die Berge, die Wälder und die Seen, und auch die weite Ebene. Doch weil es so kahl und tot war, gab er dem Land Bäume, Gras, viele Blumen und andere lebende Dinge, die es bewohnten. Auch Tiere dachte er sich aus, den großen Bären und den flinken Fuchs, den Lachs und sogar die kleine Ameise. Und zuletzt erdachte er die Menschenwesen, große und kleine, helle und dunkle. Jedem von ihnen wies er eine Wohnstatt zu. Weil die Menschenwesen nun so unterschiedlich waren, gab er jedem von ihnen einen Teil der Welt, den er durchstreifen konnte. Einige wohnten nahe beisammen, denn sie waren sich ähnlich und vertrugen sich gut. Andere dagegen waren sich so fremd, dass sie nicht die Gesellschaft ihrer Brüder suchten. Für sie machte der Große Geist schließlich weitere Welten, damit kein Zank zwischen ihnen aufkäme. Doch weil er jedem Menschenwesen in seiner Weisheit eine Gabe gegeben hatte, die kein anderes von ihnen hatte, konnten sie auch nicht ohne einander auskommen. Deshalb baute er Brücken zwischen all den Welten, so dass sie sich besuchen konnten und voneinander lernen. Und immer, wenn sie sich besuchten, kamen die Dinge wieder ins Lot, die sich nicht gut entwickelt hatten in den Welten, weil ihren Bewohnern die Gaben fehlten, welche ihre weit entfernt lebenden Brüder besaßen.

Die Menschenwesen besaßen aber nicht die Weisheit des Großen Geistes, und so dachten viele von ihnen, dass sie die aus den anderen Welten nicht brauchten, um glücklich zu sein. Für sie waren die Brücken von Übel, denn stets kamen über sie solche zu ihnen, die ihre Welten veränderten. Sie wollten nicht einsehen, dass es heilsam war, was ihnen gebracht wurde. Darum verschmähten sie das Geschenk der Vielfalt, das allein sie ihrem Schöpfer nahebringen konnte, von dem alle Gaben stammten. Manche forderten sogar, dass man die Brücken abreißen sollte, damit keine Fremden mehr in ihre Welten kommen könnten. Das aber hätte bedeutet, dass jede Welt für sich bleiben würde, ohne jemals wieder alle Gaben des Großen Geistes vereinen zu können. Die bunten Farben würden aus allen Welten verschwinden, bis alles Grau in Grau wäre – aber ihre Bewohner würden es nicht bemerken, denn auch aus ihnen wären alle Farben gewichen. Das große Werk des Schöpfers wäre für immer verloren. Also gab der Große Geist jeder Brücke einen Wächter, der sie durch die Zeiten bewahren sollte, damit sie immer offenstände. Diesen Wächtern verlieh der Große Geist dazu viel Wissen, und er lehrte sie machtvolle Lieder. Doch auch so war die Aufgabe schwer, und sie lastete auf den Auserwählten. Immer, wenn ein Wächter seine Zeit kommen und seine Kraft schwinden fühlte, bestimmte er daher einen Nachfolger und lehrte ihn seine Lieder, damit seine Aufgabe weiter erfüllt würde.

So gibt es auch Wächter an den Brücken zwischen unserer Welt und anderen. Und weil ihre Pflicht eine ist, die große Einsamkeit mit sich bringt, ist es ihnen erlaubt, sich Helfer zu bestimmen. Groß ist die Ehre eines Stammes, dessen Kind ein Wächter wählt, um ihm beizustehen. Denn ein jeder Wächter erwählt sich sein Auge, das ihm Kunde aus den Welten bringt, deren Teil er niemals mehr ganz sein kann. Er wählt sich seine Hand, welche für ihn streitet, seinen Mund, der seine Worte den Menschenwesen bringt, sein Herz, in dem er das Wissen um viele Dinge bewahrt, und seine Stimme, welche die Lieder zum Klingen bringt, die ihn der Große Geist lehrte." – "Und wie, wie wählt er sie aus, seine Helfer? Wie findet er sie?" kräht eines der Kinder und unterbricht den monotonen Singsang der Squaw. Langsam öffnet sie die Augen und lächelt erneut. " – "Das muss er nicht. Immer ist es so gewesen, dass sie ihn fanden, denn der Große Geist hat alle Dinge sehr weise eingerichtet."

~~~

Changeling:
...langsam, ganz allmählich verblasst ein Reigen aus Szenen, aus Farben, Gesichtern, Liedern – Erinnerungen und Visionen. Die Gefährten kommen wieder zu sich, umgeben vom flackernden Widerschein des Feuers an den Wänden der steinernen Hütte, die inzwischen von einem fast beißenden Geruch nach verbrannten Kräutern erfüllt ist. Und die Erinnerung an das zuletzt Vorgefallene kehrt auch wieder zu ihnen zurück: Das Internat, die eigenartige Musik, das Werk, auf das sie stießen, Tiffanys Verschwinden, die Begegnung mit den seltsamen Fremden in Ricks Cafe. Dann: Elias Phelps, das alte Lichtspielhaus, die Flucht in eine andere Welt, wo sie bizarre, im erzkonservativen Mief der USA in den 50er Jahren niemals erahnte Begegnungen hatten. Schließlich der lange Weg zum Orakel, und endlich die Große Geistreise, die sie gemeinsam antraten. Sie wechseln ratlos, unsichere Blicke. Haben sie sich verändert? Sie alle sehen noch so aus wie zuvor: Ricky und Laura Ann, die beiden Satyrn, das Indianermädchen Ayleen, der große Troll, zu dem Eddy wurde, und Sonnenauge der Flussmann, ihr Begleiter. Auch fühlen sie sich kaum anders als vor dem Antritt dieser Reise durch ihr eigenes Inneres. Und doch... sie wissen nun vieles, oder besser gesagt, sie wissen vieles wieder, das ihnen lange Zeit entfallen schien. Und wie der benebelnde Rausch der eingeatmeten Dämpfe sich zusehends löst, ihre Augen wieder klarer blicken, so kehren auch die vielen Fetzen und Fragmente zu ihnen zurück. Bei weitem nicht alle in ihren bewussten Gedanken verfügbar, das fühlen sie, aber doch dicht unter der Oberfläche des Bewusstseins schwebend, jederzeit bereit, hervorzubrechen, wenn der geeignete Moment ist, sich zu erinnern.

Vor ihnen hockt das Orakel, tief vornübergebeugt, und macht einen erschöpften Eindruck. Trotzdem lächelt es leicht, als es den Blick hebt und sie anschaut. "Die Große Geistreise ist beendet, und viel habt ihr erfahren" stellt es so selbstverständlich fest, als stünde es ihnen auf die Stirn geschrieben. Und obwohl ihnen der beißende Rauch fast die Tränen in die Augen treibt, wirft es nochmals trockene Wurzeln und Kräuter ins Feuer. "Die Tore sind die Pfade, auf denen die Träume zwischen den Welten umher eilen. Ohne Träume sind wir nichts als wandelnde Leichname." Das schmale, androgyne Gesicht, weder Mann noch Frau und doch beides, sinkt wieder nach vorn, die Augen starren in eine Ferne jenseits der knisternden Flammen. Fast scheint es, als ob das Orakel zu sich selbst spricht. "Der Wächter, er fühlt seine Zeit kommen. Der letzte seiner Gefährten verließ ihn vor vielen Wintern, und nun kommt seine Kraft zu einem Ende. Er ruft, ruft nach einem, der fortan seinen Pfad der Träume bewacht. Und diese eine ist auf dem Weg... doch gefahrvoll wird sein Amt sein. Feinde stellen sich dem Wächter entgegen, diesseits des Tores und jenseits. Auch er braucht Hilfe – treue Gefährten, die an seiner Seite stehen. Denn wenn er scheitert, ist alles verloren, und das Tor wird sich für immer schließen." Die Augenlider des Orakels sind immer weiter hinab gesunken. Nun sind seine Augen ganz geschlossen, doch es ruft mit einem Mal laut: "Geht! Geht und findet den Wächter. Bringt ihn zum Tor, ehe der alte Wächter seine letzte Reise antritt..." Immer mehr verklingt die melodische Stimme, wird leiser, bis sie fast nicht mehr hörbar ist. "Geht... der Friedensbringer weist euch den Weg..." Damit erstirbt die Stimme, das Orakel erstarrt, als sei es mit einem Mal aus Stein. Die Flammen, die alle Kräuter und das meiste Feuerholz verzehrt haben, sinken flackernd in sich zusammen.

Ayleen Chepi Anitsiskwa:
Auch wenn Ayleen ursprünglich souverän erschien und angedeutet hatte, so eine Reise schon einmal gemacht zu haben, wirkt sie nun beim Erwachen verstört. Zumindest ein Teil ihrer zurückgerufenen Erinnerungen muss sie sehr aufgewühlt haben. In ihrem suchenden Blick liegt etwas unsicheres, ja fast beschämtes? Definitiv Ausdrücke, die man bei ihr nicht erwartet hätte, geschweige denn ihre Internatspersönlicheit jemals gezeigt hätte.

Als das Orakel die Worte an die Gruppe richtet gelingt es der Indianerelfe, sich wieder in den Griff zu kriegen. Die unnahbare Maske legt sich erneut über ihr Gesicht und sie hört aufmerksam zu. Ihr konzentrierter Ausdruck wechselt ins nachdenkliche, bis ihr der Zustand des Orakels auffällt. Sofort erhebt sie sich und bewegt sich auf noch etwas unsicheren Beinen zum Orakel hinüber. Zunächst untersucht sie es nur mit Blicken und fragt mit respektvollem Ton: "Seid ihr in Ordnung? Kann man euch Hilfe anbieten?"

Zusätzlich versucht sie sich zu erinnern, ob ihr der 'Friedensbringer' etwas sagt. Falls nicht, richtet sie die Frage danach erst an das Orakel, dann an die Reisegruppe. Auf jeden Fall versucht sie sich noch einmal vom Orakel absichern zu lassen: "Ist es Tiffanys Aufgabe, der Wächter zu werden oder ihn nur zu finden und zu unterstützen?"

Laura Ann:
Kleine Tränen rinnen über Laura Anns Wangen, als sie von der Reise zurück kehrt. Ihre Schultern beben und sie unterdrückt ein Schluchzen. Verlegen blickt sie zur Seite, wischt mit dem Unterarm über ihr Gesicht. Sie hofft, dass die anderen glauben, dass der Rauch der Kräuter im Feuer sie dazu gebracht haben. Die Bilder, Töne, Gefühle verblassen und hinterlassen die sonst so kecke und fröhliche Satyrin tief erschüttert. Ihre  Finger streichen über den Rock, ziehen den Saum tiefer, der jedoch sofort wieder in die wippenden Falten fällt. Mit glasigen Augen brütet Laura über das Erlebte. Endlich kann sie sich zusammenreißen und hebt den Kopf wieder. Aus den Augenwinkeln nimmt sie ihre Kameraden wahr. Ayleen schein ebenfalls tief bewegt. Solche Emotionen hat sie bei ihrer Mitschülerin nie gesehn. Es ist tröstlich, dass nicht nur sie so betroffen wurde. Ihre Gedankengänge werden unterbrochen,  als das Orakel seine Stimme erhebt.

Verwundert sieht sie zum Orakel, lauscht seinen Worten. Tore, Wächter und ihre Gefährten. Als es schweigt, legt die Satyrin nachdenklich ihren Kopf schief. Bei den weiteren Worten schrickt sie zusammen, überrascht über die Heftigkeit des Orakels - bis dieses geendet hat und  verstummt. "Friedensbringer...." murmelt sie leise. Erst als Ayleen das Orakel direkt anspricht, fällt ihr die versteinerte Form des Orakles auf. Mit einem Sprung ist sie auf den Hufen und neben Ayleen, ergreift ohne nachzudenken den Arm der Elfe. "Ist mit dem Orakel alles in Ordnung? "

Changeling:
Auch Ricky kommt taumelnd auf die Füße. Er scheint noch reichlich verwirrt, sieht jedoch Laura Anns Tränen und geht unsicheren Schrittes auf sie zu. Offenbar fehlen ihm die Worte, denn nach einem kurzen Zögern lächelt er verschämt und legt ihr die Hand auf den Unterarm, ohne ein Wort zu sagen. Die Wärme und die Berührung selbst geben dem Satyrmädchen jedoch auf eine seltsame Art Halt. Sie findet wieder ganz in die Wirklichkeit zurück – jedenfalls in eine Wirklichkeit... Eddy und Sonnenauge tauschen einige leise Sätze aus, die Ricky und die beiden Mädchen nicht ganz verstehen können. Lediglich die etwas grollende Stimme des Trolls hebt sich für Augenblicke, und sie meinen ein leises "...verdammtnocheins..!" zu hören – Eddy ist sich in gewisser Weise auch in dieser Gestalt treu. Auch die beiden treten näher und beäugen das Orakel. Doch die schmächtige Gestalt rührt sich nicht, noch gibt sie Antwort auf Ayleens Fragen. Leider findet diese auch bei angestrengtem Nachdenken keine Erinnerung an einen "Friedensbringer" im neuerworbenen Schatz ihrer Vergangenheit, und auch die anderen zucken nur ratlos die Schultern. Lediglich Sonnenauge wirft ein: "Vielleicht wissen die Felsleute mehr? Es hätte keinen Sinn, uns einen Namen zu nennen, wenn wir damit gar nichts anfangen könnten."

Eddy nickt. "Klingt vernünftig. Ich könnte auch in Goibnius Buch nachsehen" durchdringt seine tiefe Stimme die Stille und hallt von den Wänden der steinernen Hütte wider. Tatsächlich stellen sie bei einem kurzen Umschauen fest, dass noch immer keiner der Felsleute sich innerhalb des kleinen Raums aufhält – wie viel Zeit auch immer vergangen sein mag. Die Wächter des Orakels haben offenbar Abstand gehalten. Dieses selbst ist völlig reglos: Falls es atmen sollte, so tut es dies so flach, dass man es mit den Augen nicht wahrnimmt. Auch ansonsten gleicht es eher einer Statue mit täuschend echter Hautfarbe. Sie alle haben das sonderbare Gefühl, als ständen sie nur mehr vor einer Hülle, die von etwas zurückgelassen wurde. Etwas, das womöglich mit den Schwaden scharf duftenden Kräuterrauchs aufgestiegen ist..? Es ist Eddy, der sich als erster aus der nachdenklichen Stimmung löst, in der die Große Geistreise sie alle zurückgelassen hat. "Also, was sollen wir tun?" fragt der Blauhäutige ungeduldig. "Was auch immer uns erwartet: Wir haben auf jeden Fall einen Auftrag. Und ich für meinen Teil habe das Gefühl, dass wir langsam loslegen sollten!" Sonnenauge nickt, wenn auch nicht ganz so unternehmungslustig wie der Troll. Ricky scheint unentschlossen und blickt die Mädchen fragend an.

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