Bard kämpfte gegen seine Fesseln an, doch so sehr er es auch versuchte, brachte ihm das so wenig wie zuvor. Die Seile schnitten sich nur noch tiefer in sein wundes Fleisch. Er spürte die Schmerzen und das Blut kaum mehr, das an seinen Handgelenken hinabrann, denn seine Gliedmaßen waren die stramme Fesselung und die furchtbare Kälte schon ganz taub. Ihm fehlte die Kraft… er war körperlich am Ende. Die Wunden und Blessuren, die vom Überfall auf ihm stammten, den er nicht hatte kommen sehen, brannten dumpf und auch die Erschöpfung drohte, ihn zu übermannen, während der eisige Steinaltar ihm zusätzlich die Körperwärme stahl, ihn noch träger machte und ihn unkontrolliert zittern ließ.
[1] Doch schlimmer als die körperliche Müdigkeit war das mentale Trauma, das Bard durchlebte – und die Erinnerungen, die nicht aufhören wollten, auf ihn einzuprasseln als würde er die Tortur, der er ausgesetzt worden war, durchgehend wieder und wieder erleben. Bard wusste, er würde sich Tunuaks Ritual wahrscheinlich kein weiteres Mal widersetzen können. Bis der Schamane sich entschloss, es noch einmal zu versuchen, musste Bard sich befreit haben, sonst wäre er verloren.
Vielleicht waren die Fesseln inzwischen strapaziert genug, dass sie kurz davor waren, Bards Fluchtversuch nachzugeben? Doch diese spärliche Hoffnung schwand mit der panischen Angst, die in ihm aufstieg, als er glaubte, kurzen Kampfeslärm durch die Weiten der Höhle hallen zu hören.
Nun war es zu spät! Tunuak war zurück und hatte, wie es schien, den nächsten Unglückswurm in die Falle gelockt, mit dem seine untoten Diener kurzen Prozess gemacht hatten. Sicher würde der korrumpierte Schamane sein vorheriges Projekt erst beenden wollen, bevor er ein neues begann.
Bard wusste nicht, ob er bereute, in der Zwischenzeit nicht versucht zu haben, den verzweifelten Gedanken, eigenmächtig stark zu beschleunigen, dass er hier erfror, bevor Tunuaks Plan aufgehen würde, in die Tat umzusetzen. Bard hätte probieren können, die Kälte dieses Orts in seinen Körper zu kanalisieren und dessen Lebensenergie zu vertreiben. Waren solche Überlegungen dem recht lebenslustigen Bard bisher vollkommen fremd gewesen, wusste er nun nicht, ob Vernunft oder Verzweiflung aus ihm sprachen oder ob die dunkle Macht dieses Ort ihm den Geist vernebelte.
„Tot wäre ich für Tunuak vermutlich praktisch wertlos“, hatte Bard überlegt.
„Tot könnte Tunuak mich zwar zu einem untoten Diener machen, aber von einem stumpfsinnigen Monster geht ein weit geringeres Gefahrenpotenzial als von einem besessenen Mir, im Vollbesitz meiner Fähigkeiten.” Zudem graute es Bard davor, bei vollem Bewusstsein, aber ohne Handhabe über seinen Körper, eine Marionette für einen Dämon zu werden und für Tunuaks Pläne instrumentalisiert werden. Andererseits war seine Angst davor, was mit seiner Seele passieren könnte, wenn er auf diesem Altar Selbstmord beging, genauso schlimm. Würde sie dann für immer in den Abyss fahren und dem ehemaligen Dämonenfürsten Sithhud gehören, dem dieser abscheuliche Schrein gewidmet war?
Bard konnte darüber nur spekulieren. Mögliche ewige Verdammnis wäre vielleicht ein geringer Preis dafür, zu verhindern, dass er dazu gezwungen wurde, dazu beizutragen, dass die Lebenskraft dieser Gegend und ihrer Bewohner weiterhin verschmutzt und korrumpiert wurde. Vielleicht wäre es aber auch ein zu hoher Preis und reine Verschwendung, denn stoppen würde Bards Tunuaks Treiben damit sicherlich nicht.
Hatte dieses Für und Wider Bard seit Tunuaks wutschäumendem Verschwinden begleitet, war ihm nun klar, dass er nicht mehr darüber nachdenken konnte, sondern handeln musste. Es war noch nicht wirklich zu spät. Er könnte noch immer versuchen, die Kälte zu kanalisieren. Es würde kein sanftes Einschlafen werden, sondern ein plötzlicher, effektiver Gefrierschock. Diesen gegen Tunuak zu lenken, war wohl aussichtlos, aber Tunuak und vermutlich auch die Fesseln würden nicht verhindern können, dass Bard sich das selbst antat, wenn er es wirklich darauf anlegte.
War das sein Entschluss? Bard stiegen Tränen der Verzweiflung in die Augen, allerdings er wollte nichts unversucht lassen, nicht doch noch im letzten Moment die Fesseln loszuwerden. So rief er seine letzten Energiereserven ab, um sich noch einmal gegen die Seile aufzubäumen. Er riss daran und zappelte, um sie zu lösen, leider gaben sie immer noch nicht nach.
Doch als mit einem Mal eine unbekannte Person vor ihm auftauchte, hielt er überrascht inne. Das war weder Tunuak, noch eins dieser garstigen Skelette! Bard klammerte sich daran, dass dieser Anblick ein Grund zur Hoffnung sein könnte. Der Fremde wirkte wie ein Südländer, also bei Weitem nicht wie jemand des Erutaki-Stamms. Das verringerte die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Mann einfach nur ein weiterer Handlanger des Schamanen sein könnte, wohl, aber auszuschließen war es dennoch nicht. Welchen Fremden verschlug es schon zufällig in eine schwer zu findende Kultstätte? Dieser Mann könnte dasselbe durchlebt haben, was Tunuak momentan mit Bard veranstaltete.
Bard musste fast würgen, als sein Besucher ihm den Knebel abnahm. Dennoch war es angenehmer, das Ding loszusein. Noch bevor Bard dazu kommen konnte, etwas zu sagen (vermutlich hätte er aber ohnehin nicht als Erster das Wort ergriffen), fragte der Fremde ihn nach dem Aufenthaltsort von Tunuak und seinen Kumpanen. Das brachte Bard aus dem Konzept. Es ließ sich kaum beschreiben, welches neues Gefühlschaos diese simple Frage in ihm auslöste.
„Ich…“, krächzte Bard mit trockener Kehle und musste husten,
„ich weiß nicht. Sie haben mich hier alleingelassen.“ Er war argwöhnisch, irritiert und brach gleichzeitig vor Erleichterung fast vollends in Tränen aus.
„Heißt das, du gehörst nicht zu ihnen? Das ist kein grausamer Scherz?“ Bard versuchte, in der Mimik des Fremden Schadenfreude zu erkennen. Sprach er gerade mit einem Dämon, der gekommen war, um sich über den Gefangenen lustig zu machen und für Tunuak zu brechen? Oder war es sogar jemand, der Tunuak hinterherschnüffelte, weil der dämonische Einfluss definitiv dazu führte, dass der Schamane sich anders benahm als er es vor der Korruption üblich gewesen war.
Bard war klar, dass er die Chance nutzen musste, bevor der Fremde es sich anders überlegte und den Knebel wieder in seinen Mund stopfte. Und so sprudelten alle folgenden Worte ohne Zögern und merkbare Sprechpausen aus ihm heraus wie Wasser aus einer Bergquelle:
„Bitte, was auch immer sie gerade tun: sie müssen aufgehalten werden! Tunuak ist vollkommen wahnsinnig!“ Ob nun besessen oder korrumpiert, konnte Bard nicht sagen. Wichtig war nur, dass man den Schamanen stoppte.
„Er dient keinen Windgeistern“, offenbarte er dem Fremden, den dies ja vielleicht noch nicht wusste und hoffentlich ermutigen würde, dem zumindest nachzugehen,
„sondern einem sehr mächtigen Eisdämon, dessen Namen ich lieber nicht aussprechen möchte!“ Namen hatten Macht und Namen von mächtigen Dämonen waren für Bard nichts, mit dem man leichtfertig umgehen sollte.
„Dieser Ort hier ist böse! Er ist eine Krankheit, die die ganze Umgebung verdirbt und geheilt werden muss, bevor sie noch Schlimmeres anrichtet.“ Bard wusste selbst, dass dies unter normalen Umständen abwegig klingen würde, aber waren der Steinaltar und die erschreckende Anzahl von Knochen hier nicht Beweis genug, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging? Selbst wenn man die Piktogramme hier nicht zu deuten wusste, waren Untote und ein gefolterter Gefangener auf einem Schädelaltar sicher keine Zeichen, die für Tunuaks gute Absichten sprachen. Dass der Fremde erkannte, welchem Dämon Tunuak huldigte, falls er denn dem Schamanen nicht zu Diensten war, erwartete Bard nicht. Er selbst hatte diese Stätte auch nur durch Zufall als (Un-)Heiligtum Sithhuds erkannt. Während seines Aufenthalts in Magnimar, als er sich tiefgehend in Wissenssammlungen über die planaren Ebenen gegraben hatte, um Informationen über die geheimnisvollen Ley-Linien zu suchen, die er zu verstehen versuchte. In einem dieser Bücher war die Schlacht um das abyssale, gefrorene Reich von Jhuvumirak illustriert gewesen, bei dem es Kostchtchie gelang, Sithhud den Platz als Dämonenfürst streitig zu machen. Sithhuds Horden hatten Banner mit der dreifingrigen Hand in die Schlacht geführt – das Symbol, das diese Stätte an vielen Stellen zierte (was Bard aus einem sehr unangenehmen Blickwinkel hatte entdecken können).
[2] Die Erkenntnis hatte ihn zu jener Zeit gleichermaßen schockiert wie jede einzelne grausame Überraschung, die Tunuak bereitgehalten hatte, seitdem Bard diese Höhle betreten hatte.
„Befreie mich, bevor Tunuak zurückkommt, ich flehe dich an!“, plapperte Bard in seiner Verzweiflung weiter, in der Hoffnung, Gehör zu finden.
„Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch gegen seine Magie wehren kann. Wenn du noch du selbst bist, dann tu das Richtige! Und wenn nicht… dann kämpfe dagegen an!“, forderte er nun mit Nachdruck. Vermutlich klang er selbst dabei als hätte er nicht alle beisammen, aber sollte es wirklich so sein, dass der Fremde von einem Dämon besessen war, wollte Bard dem armen Mann ermutigen, sich gegen die Kontrolle aufzulehnen, auch wenn dies noch so schwer schien.
„Dränge das Flüstern zurück – diese fremde Präsenz in dir! Versuch es, wieder und wieder, mit aller Kraft. Gib ja nicht auf, du kannst es schaffen!“