Als Bard zu den anderen zurückkehrte, fühlte er sich schon beim Anblick ihrer Karawane wohl. Er verband nur gute Erinnerungen mit Begegnungen mit dem varisischen Volk, und auch wenn nicht alle Teilnehmer dieser Karawane dieser Kultur anzugehören schienen, tat das dem guten Gefühl keinen Abbruch. So richtig Zeit war bisher nicht gewesen, sich näher kennenzulernen, und Bard war nicht scheu, deswegen ließ er sich gern darauf ein, dass Solitaire ihm die traditionellen varisischen Karten legte. Wie genau die Karten zu deuten waren, war wohl eine Kunst für sich, von der Bard keine Ahnung hatte, also lauschte er Solitaires Worten mit Neugier. Ein wenig erinnerte ihn es ja schon an die Wahrsagekünste der Druiden seines Zirkels – nur nutzten diese nicht Karten, sondern warfen Runenknochen, deuteten Naturomen oder lasen aus Eingeweiden. Eine spirituelle Bindung zur Macht der Natur erlaubten tatsächlich Voraussagen. Bard war damit selbst nicht so firm wie er es vielleicht hätte sein sollen, doch erlaubten ihm seine (wenn auch dürftigen) Kenntnisse, Solitaires Ansatz nicht als Unsinn abzutun, sondern sich darauf einzulassen.
„Ein Desaster, das abgewendet werden kann. Ein noch ungewisser Verlust. Und eine Betonung der fatalen Bedeutsamkeit der Hungrigen Stürme… Meine Zukunft klingt nicht allzu rosig. Hoffen wir mal, dass die positive Weissagung die anderen Aspekte überschattet.“ Was die Karten über seine Vergangenheit und Gegenwart erzählten, konnte Bard verschiedenen Ereignissen zuordnen. Ob er damit richtig lag, wusste er nicht. An der Vergangenheit konnte er nichts mehr ändern, aber allgemein konnten die Karten helfen, über die Situation, in der er sich befand, zu reflektieren. Rohe Kraft, die positiv zu bewerten war, eine hartnäckige Situation und der Hinweis, sich nicht zu sehr zu versteifen… ja, das waren Punkte, die man zusammenbringen konnte. Bard beschloss, später darüber nachzudenken. Er bedankte sich bei Solitaire für ihre Weissagung und versuchte, sich für den Moment nicht mehr mit düsteren Überlegungen zu befassen, sondern sich auf die Feierlichkeiten einzulassen, die zur vorläufigen Rettung Iqaliats veranstaltet wurden. Tatsächlich half die ausgelassene Stimmung Bard, auf andere Gedanken zu kommen.
Cliffs Art, ein Gespräch anzufangen, irritierte Bard später am Abend tatsächlich ein wenig. Den Humor dahinter verstand er nicht sofort – doch als Cliff anfing zu lachen, musste Bard schließlich auch lachen. Er war erleichtert, denn nichts läge Bard ferner als irgendjemandem den Platz streitig zu machen. Und ein Barde? Herrje… besser nicht! Bard griff das Thema lieber nicht noch einmal auf. Er sang durchaus. Ab und zu, für sich allein oder wenn er in freundschaftlicher Runde angetrunken war. Aber um ein Musikant zu sein, fehlte ihm eindeutig das Talent.
„Ich komme aus der Nähe von Jol, das liegt in Südmoor“, klärte er Cliff auf. „Da ihr gerade dem Pfad von Aganhei folgt, seid ihr sogar wahrscheinlich daran vorbeigekommen. Südmoor südlich von hier, aber immer noch so weit im Norden, dass sich eure Namen auch ungewohnt für mich anhören.“
Bard hatte sich bisher noch nicht wirklich mit seinem Vornamen befasst. Seinen Beinamen hatte er sich verdient… aber Vornamen lagen in der Willkür der Eltern, die Omen und Götter ehren wollten oder einfach etwas wählten, dessen Klang sie gut fanden. Dennoch konnte man darüber philosophieren.
„Bard ist ein skaldischer Name. Er bedeutet“, er überlegte kurz, wie man das ihn die Gemeinsprache übersetzen konnte, „‚friedlicher Krieger‘. Das lässt sich vermutlich mit ‚Beschützer‘ gleichsetzen. Ich glaube, es war eher Zufall, dass meine Eltern diesen Namen ausgesucht haben, und es ist auch Zufall, dass ich heute meinem Namen mehr oder minder gerecht werde. Ich sehe mich als Beschützer des Gleichgewichts. Ich bin ein Druide. Gerade reisen Astrid und ich allein, aber daheim bin ich Mitglied eines Zirkels, der die Wälder, Moore und Siedler gleichermaßen bewacht… und auch, wenn ich fern der Heimat bin, fühle ich mich dieser Aufgabe verpflichtet.“
Damit hatte er eine Überleitung geschaffen. „Unterwegs bin ich, weil Fragen mich umtreiben, auf die niemand bisher mir Antwort geben konnte. Also bin ich zu einer Art Fortbildungsreise aufgebrochen. Ich möchte verstehen, wie alles, das existiert, miteinander verbunden ist. Denn dass alles miteinander verbunden ist, daran besteht kein Zweifel. Das Sein, oder die Natur, wenn man so will, besteht nicht nur aus der Summe einzelner Dinge, die wir sehen können. Sie lebt als Ganzes, als Einheit, wie ein riesiger Organismus, und wird durch Energie, die alles umgibt und durchflutet, belebt. Mancherorts ist diese Energie konzentrierter. Sie fließt in Strömen, den Ley-Linien, vernetzt von Ort zu Ort, wie Adern, die einen Körper durchziehen. Nur verbinden diese Adern sogar Planeten und Ebenen miteinander.“
Bard erzählte gern von den Ley-Linien und allgemein von Dingen, die in faszinierten. Dass ihm dieses Thema am Herzen lag, merkte man ihm vermutlich an. Unter den Gelehrten Magnimars, wo seine Reise ihn zuvor hingeführt hatte, hatte er dafür Spott geerntet, und es war ihm auch bewusst, dass Ley-Linien sich der Vorstellungskraft der breiten Masse entzogen... aber er versuchte trotzdem, zu erklären, was ihn umtrieb.
„Für euch klingt es vielleicht abstrakt oder bizarr, aber ich kann die Ley-Energie spüren. Sie ist wie ein Atem oder wie ein Herzschlag… eine Präsenz, die ich fühle, und mit der ich gelernt habe zu interagieren. Ich folgte einer der Lebensadern, in der Hoffnung, auf jemanden zu stoßen, der mir helfen könnte, ein noch tieferes Verständnis für dieses Gefüge zu erlangen. Sie führte mich hierhin, an den Rand des hohen Eises. Statt eines anderen Druidenzirkels und Erkenntnis, wie erhofft, fand ich eine Störung im Gleichgewicht. Eine Verschmutzung der Energie. Dem wollte ich dann natürlich auf den Grund gehen. Das ist nichts, was ich zulassen könnte. So eine Verschmutzung ist wie eine Krankheit oder ein Geschwür. Nicht behandelt, könnte sie sich ausbreiten und große Vernichtung mit sich bringen. Ich wusste nicht, was dahintersteckte, nur, dass es mächtig sein musste. Mit Dämonen oder einem wahnsinnigen Schamanen, dem ich dann auch noch auf den Leim gegangen bin, hätte ich nicht gerechnet. Aufgeben darf ich jedoch nicht. Jeder hat seinen Platz im Gefüge des Seins, selbst Dämonen – auf gewisse Weise. Ihr Platz ist allerdings nicht hier. Nur, wenn sie und ihr Einfluss fort sind, kann die Natur heilen. Daher bin ich nicht nur dankbar, dass ich befreit wurde, sondern dass ich mich dem, was kommt, nicht allein stellen muss. Ihr steckt aufgrund dieser Hungrigen Stürme hier fest, wenn ich das richtig verstanden habe. Da können wir uns gegenseitig unterstützen… außerdem bin ich euch etwas schuldig.“
Neugierig musterte Bard die Runde. „Ich muss zugeben, ich frage mich auch, warum ihr hier seid. Es ehrt euch sehr, dass ihr den Leuten hier helft. Nicht jeder würde so viel wagen. Allerdings seht ihr auch nicht wie normale Händler aus, muss ich sagen. Diese würden vielleicht einfach umkehren… denn gefährlich ist dieser Pfad durch das ewige Eis auch unter normalen Umständen schon genug. Warum riskiert ihr eure Leben, um nach Tian Xia zu gelangen?“