Der Professor nickte, als Nadeshja ihm schilderte, was als Nächstes anstand. Er hatte verstanden und stellte keine Nachfragen. Dazu wäre vermutlich auch zu wenig Zeit gewesen. Kylie lockte bereits die Kinder von den unteren Rängen fort, die die Gelegenheit gern annahmen, ihre Finger in Schneeflockes Fell zu vergraben und ihm und seiner Besitzerin freudig hinterherzutollen. Teils sah man fragende Blicke oder bittende Nachfragen in Richtung der Eltern, bevor sie sich trauten, mit in die Manege zu kommen, aber die Gefahrenzone war schnell vollständig geräumt. Schneeflocke machte seine Aufgabe sehr gut, auch wenn er vermutlich nicht ahnte, wie wichtig seine Rolle gerade war. Er genoss die Aufmerksamkeit der Kinder sehr und ließ tolerant alle Berührungen zu, sogar die eher unbeholfen-ruppigen Betatscher der Kleinkinder, denen es noch ein wenig an Feinmotorik fehlte.
Der Professor beeilte sich, zurück in die Mitte der Manege zu gelangen und wartete wieder ab, bis die Musiker, die Furios Abgang begleiteten, ihr Spiel beendet hatten.
„Ausgezeichnet, Furio!“, lobte der Professor anerkennend und fiel, noch im Gehen, klatschend in den Beifall des Publikums ein. Es brauchte einen Moment, bis sich wieder genug Ruhe breitgemacht hatte, dass er fortfahren konnte.
„Was für ein Debüt! Und schon geht es fließend weiter mit zwei weiteren Ausnahmetalenten. Beide zähmen Kreaturen der Wildnis, um euch, verehrte Bürger Abbertons, darunter besonders euch, liebe Kinder, zu zeigen, was die Wälder und Felder unserer Welt so allerhand zu bieten haben.“ Herzlich lächelnd betrachtete er die Kindermenge neben ihm in der Manege, die sich um Kylies Hund tummelte, und der Fortführung des Vorstellungsprogramms mal mehr, mal minder Aufmerksamkeit schenkten.
„Wie ich sehe, habt ihr euch schon mit Schneeflocke angefreundet. Groß und flauschig ist unser treuer Freund hier, und so kinderlieb wie seine Begleiterin – ganz anders als die ersten Kreaturen, die unsere hinreißende Elizia für euch mitgebracht hat.“ Mit einer ausladenden Geste lenkte er den Blick der Zuschauer auf die Schlangenbeschwörerin, die ihr Stichwort nutzte, um in den Ring zu treten. Sie winkte dem Publikum freudestrahlend mit der Rechten zu, während sie in der Linken den Sack und die Balancierstange mitbrachte.
Wieder musste der Professor Applaus abwarten, da er stimmlich einfach nicht gegen ihn ankommen würde.
„Elizias Mitbringsel sind bissig“, ermahnte er die Kinder.
„Von denen solltet ihr gehörigen Abstand halten und bloß nicht versuchen, sie zu streicheln. Also bleibt dort, wo ihr seid und staunt! Ich darf um absolute Ruhe bitten!“Das unterschwellige Gemurmel im Publikum erstarb und Elizia wirbelte die Stange in ihrer Hand. Mit einem Zwinkern gab sie Nadeshja ein Signal, das zeigte, dass sie bereit war. Da das Publikum nun still war (und das hatte der Professor sehr vorausschauend eingefädelt), war das einzige Geräusch, das die Schlangen reizen konnte, Nadeshjas magische Trommelmusik. Elizias kleine, wenn auch nicht komplizierte tänzelnde Einlage mit der Stange wirkte auf das Publikum so, als würde sie sich vorbereiten. Und als Nadeshja dann die Trommeln erklingen ließ, wirkte auch diese wie ein Teil einer Aufführung. Die Schlangen setzten sich tatsächlich verschreckt in Bewegung und huschten unter den Rängen hervor, genau in die Manege hinein und auf Elizia zu – es lief alles wie geplant. Einige Zuschauer gaben erschrockene Laute von sich, als sie die drei Schlangen erblickten, und alle von ihnen wirkten auf einmal sehr verzückt und mitfiebernd. Elizias Einlage sah nicht nur gefährlich aus, sondern war es auch – und das Publikum war sofort in den Bann gezogen. Die Schlangenbeschwörerin wich den zischenden und nun auch nach ihr schnappenden Vipern vorausschauend aus und kam den Gift und Geifer triefenden Zähnen nicht zu nah. Stattdessen schaffte sie es, die Schlangen mithilfe der Balancierstange auszutricksen und sicher hochzuheben. Nach und nach landeten die Schlangen im Sack. Jedes Mal erntete sie vom Publikum einen kleinen, jubelnden Applaus. Nachdem alle Schlangen erfolgreich eingefangen waren, schloss Elizia den Sack vorsichtig und achtete darauf, dass sie ihn nur oben anfasste, wo die Schlangen nicht nach ihren Fingern beißen konnten, und ihn aus dem gleichen Grund auch darauf achtete, ihn auf Abstand zu ihrem restlichen Körper zu halten. Die Gefahr war gebannt! Elizia verbeugte sich elegant und ließ sich von Abberton feiern, während sie die Manege verließ und die Schlangen mit sich nahm.
Sich ebenfalls erneut dem Beifall anschließend, suchte der Professor wieder einen Moment nach Aufmerksamkeit.
„So viel Mut hätte ich nicht!“, gab er anerkennend preis, als wieder Ruhe einkehrte.
„Das war aber erst ein Vorgeschmack! Elizia wird gleich zurückkehren, um euch noch jemanden vorzustellen. Bis dahin gehört die Manege unserer Bezaubernden Willow aus dem fernen Varisia. Sie wird eure erregten Gemüter gleich mit ihrem Wunderlichen Wildleben hoffentlich ein wenig besänftigen und euch ein breites Lächeln ins Gesicht zaubern.“ Der Professor machte Kylie Platz und überließ scheinbar ihr, wie sie nun mit den Kindern verfahren wollte. Aufgekratzt durch Schneeflockes Anwesenheit und auch die Schlangenjagd, starrten sie Kylie aufgeregt und gespannt an. Im Weg wären sie vermutlich nicht, aber da die Ränge nun wieder sicher waren, könnte Kylie sie wohl auch erst dorthinbringen, bevor sie mit ihrem Zirkustrick begann.
Da Kylie sich dazu entschied, die Kinder erst einmal zurück zu ihren Eltern zu bringen, hatte Elizia genügend Zeit, um die Schlangen hinter dem Vorhang in Sicherheit zu bringen. Am liebsten hätte sie sie wohl zu ihrem Wagen gebracht, wie sie ihren Kollegen mitteilte, aber dazu wäre auch später noch Zeit. In dem Sack hätten sie erst einmal die Gelegenheit, sich ein wenig zu beruhigen, wenn man sie denn in Ruhe ließ. So ermahnte Elizia, dem Sack nicht zu nah zu kommen, ihn aber auch nicht aus den Augen zu lassen, als sie ihn in einer offenen Holzkiste am Rand des Geschehens platzierte, damit niemand ihn aus Versehen berührte oder drauftrat. Wieder erklärte sich der Bärtige Mann bereit, darauf zu achten, dass sich niemand den Schlangen näherte. Herr Tickles bedurfte immerhin nicht mehr seiner Obhut.
Elizia lockte ihn zu sich und er schlängelte ihr hinterher. Der Anakonda schien es tatsächlich bereits viel besser zu gehen. Herr Tickles wirkte nicht mehr teilnahmslos so wie vorhin, auch wenn der Ausschlag an seinem Bauch noch leicht sichtbar war. Dem Publikum würde das aber wahrscheinlich noch nicht einmal auffallen.
Die riesige Schlange kannte bereits die Prozedur und ließ sich von Elizia in eine bunt verzierte Truhe helfen, der auf einem ebenso bunt und mit Federboas verzierten Zugkarren montiert war. Herr Tickles war viel schwerer als seine zierliche Besitzerin, sodass sie ihn nicht wirklich tragen konnte. Mit dem Karren war er allerdings leichter in die Manege zu bringen. Natürlich könnte er sich auch selbst dorthinbewegen, aber da ein Überraschungseffekt gewünscht war, bot sich so eine verschließbare Truhe an - und Elizia würde niemals zulassen, dass Tickles länger als nötig dort drinnen bleiben müsste.
Die Truhe und der Karren selbst waren recht klein, sodass man eigentlich nicht vermutete, dass so ein Riese wie Tickles dort Platz finden würde, allerdings war er so flexibel, dass er dennoch in die Truhe passte. Er füllte sie komplett aus, musste sich dafür aber komplett zusammenrollen.
In der Zwischenzeit, in der Elizia Tickles in der Truhe verstaute, hatte Tahala Wegwächter, die stark tätowierte Shoantidame, sich schnell aufgemacht, um ein Pferd zu holen und es mit wenigen, geübten Handgriffen vor Elizias beräderte Schlangentruhe gespannt. Elizia dankte ihr erleichtert für diese Hilfe, die viel Zeit ersparte, sodass die Vorstellung nicht durch lange Wartezeit leiden musste.
Die Schlangenbeschwörerin schwang sich auf den Rücken des gescheckten und mit einem prächtig bestickten Überwurf verzierten Rosses. Andere hielten ihr den Vorhang auf, als Elizia Tickles reitend in die Manege und unter musikalischer Begleitung in die Manege brachte. Freudestrahlend winkte die Schlangenbeschwörerin dem Publikum zu und ließ das Pferd nach einer Runde durch die Manege so halten, dass die Truhe für alle Zuschauer gut im Blick war.
Dann begann Elizia mit ihrer eigentlichen Nummer. Untermalt von spannungsaufbauender Musik, öffnete sie die Truhe und tat so, als würde sie Herr Tickles ganz vorsichtig mit hypnotischen Handbewegungen beschwichtigen und hervorlocken. Mehr und mehr der gefleckten, riesigen Schlange offenbarte sich, als Tickles Elizias Arm erklomm und sich um ihre Schulter legte. Sie tanzte mit ihm Schritt für Schritt von der Truhe fort, sodass er Platz hatte, sich zu zeigen. Das Publikum staunte sehr, wie lang und groß Tickles wohl war, da der Schlangenkörper erst einmal kein Ende nahm und sich erst nach einer gewissen Zeit vollkommen in der Manege präsentierte. Er war so lang, dass Elizia nur sein vorderes Ende trug und mit ihm tanzte, während der Mittelteil und das Schwanzende im Sand der Manege blieben.
Nachdem den Bürger Abbertons Zeit gelassen wurde, Tickles in seiner ganzen Pracht zu bewundern, setzte Elizia ihn vorsichtig ab. Nach dem Auftakt mit den giftigen Vipern, hatte Elizia mühelos auch Begeisterung für Tickles im Publikum wecken können. Begeisterter Applaus brandete durch die Menge. Die Vorstellung bisher schien ein voller Erfolg zu sein.
Der Professor trat ohne Scheu zu den beiden und wandte sich an das Publikum:
„Wer von euch ist mutig genug, hervorzutreten, und Herr Tickles zu streicheln? Er mag zwar einschüchternd wirken, aber er ist nicht giftig…“ Tatsächlich fanden sich ein paar Halbstarke und sogar ein paar Kinder, die die Hand hoben und die Elizia lächelnd von den Rängen abholte. Nacheinander durften sie Tickles streicheln, der das gutmütig über sich ergehen ließ. Einige waren verwundert, dass seine Haut ganz glatt und angenehm statt schleimig war, wie sie es wohl angenommen hatten. Während der kurzen Zeit, die die Streichelrunde dauerte, erklärte Elizia laut genug, dass es das ganze Publikum hörte, dass Herr Tickles Heimat in den Dschungeln Garunds lag und er ein sehr guter Schwimmer war. Er jagte, indem er im Wasser auf Vögel und Säugetiere lauerte, die zum Trinken unwissend in seine Nähe kamen, aber Fische und andere Wassertiere wie kleine Krokodile möge er auch. Mit seinen kräftigen Muskeln umwickelte und erstickte er seine Beute, bevor er sie im Ganzen verschlang. So ein großes Exemplar, wie Tickles es war, konnte sogar junge Hirsche oder unachtsame Personen erbeuten, aber er bevorzuge trotzdem kleinere Nahrung. Tickles selbst war sehr besonders, da er wusste, dass Kinder und Haustiere keine Beute waren, und vom Gemüt her selbst eher einem Haustier als einem Wildtier entsprach. Einer wilden Anaconda sollte man sich jedoch lieber nicht unbedarft nähern.
Nachdem jeder Freiwillige Tickles einmal hatte streicheln dürfen, schickte Elizia die Besucher wieder auf ihre Plätze. Dann ließ sie Tickles wieder halb an sich hochklettern und verbeugte sich zusammen mit ihm.
Damit war ihre Vorstellung beendet. Unter Applaus und Musik führte Elizia das Pferd am Zügel aus der Manege. Herr Tickles schlängelte ihr gemächlich hinterher.
Nun war Kylie an der Reihe.
An anderer Stelle auf der anderen Seite des Vorhangs gingen die Ermittlungen voran.
Tollpatsch sprang tatenfreudig auf das beschädigte Sicherungsnetz zu, das Lavenia als Untersuchungsobjekt vorgeschlagen hatte und begann sogleich, lautstark daran herumzuschnüffeln. Er beendete seine Analyse mit einem Schnauben bevor er zur Fee aufsah.
„Ratten, hast du gesagt?“, fragte er nochmal nach, auch wenn es eher rhetorisch gemeint war – das wurde schnell klar. Er schnüffelte noch einmal ausgiebig.
„Das Netz riecht nach Ratten, eindeutig“, war Tollpatsch sich sicher.
„Und wenn man sich die Schäden genau ansieht, wirken sie auch eher wie das Wirken von Nagezähnen als wie das von Messern. Hier…“, er stupste eins der zertrennten, aufgeribbelten Enden mit der Nase an,
„… alles ausgefranst!“ Nun hatte ihn wirklich die investigative Lust gepackt.
„Wäre doch gelacht, wenn ich dieser Spur nicht folgen könnte! So wie das hier riecht, waren ganz schön viele Ratten im Spiel, nicht nur eine.“ Er tapste voran, nun wieder mit der Nase am Boden. Tollpatsch schnüffelte einige Züge.
„Allzu lang kann das nicht her sein. Bei so vielen Leuten hier wäre der Geruch sonst schon verwaschener. Und siehst du das? Hier sind überall Pfotenspuren. Oh Junge, sind das viele!“ Tatsächlich fielen nun auch Lavenia auf, dass der Ort hier übersät war mit unzähligen Rattenspuren, fast als wären Dutzende oder mehr hier hindurchgerannt und wären über das Netz hergefallen wie ein Schwarm hungriger Heuschrecken.
„Eine solche Menge Ratten wäre aber bestimmt wem aufgefallen“, überlegte Tollpatsch.
„Vielleicht waren sie hier, nur kurz bevor die ersten Besucher eingetroffen sind. Da war noch niemand hier, oder?“ Er ließ traurig die Rute hängen.
„Naja… niemand außer Myron, wahrscheinlich“, fügte er dann hinzu.
Zonk konnte feststellen, dass Hod funktionierende Ersatzschlösser aufgetrieben hatte, und auch sonst keine Hilfe mehr benötigte. Der Junge hatte schon im Laufe des Tages das meiste vorbereitet, obwohl da noch gar nicht klar gewesen war, dass Mordaine überhaupt auftreten würde. Myron hatte seine Planung für die große erste Vorstellung erst direkt vor der Show preisgeben wollen. Sicher hatte er seine Gründe dafür gehabt, über die man nur spekulieren konnte.
Auch die Zwergenwerfer und, wie Zonk von Noab, der sich erkundigt hatte, erfahren konnte, die Flamboni-Schwestern waren bereit für die Show. An der Ausrüstung von Valana und Shalara Flamboni hatte sich niemand vergriffen, und die Zwerge konnten von einem im Moment zu vernachlässigenden Schaden berichten:
„Irgendwer hat unsere größte Wippe angesägt“, erzählte Durgin, als Zonk sich erkundigte.
„Aber wir können auch ohne die auftreten.“ Die Zwerge zeigten Zonk das Ergebnis der Sabotage. Das Brett der Wippe hatte nahe der Mitte, wo es dank des Wippständers nicht sehr offensichtlich war, an der Unterseite eine Sägekerbe. Diese hätte ausgereicht, um das Brett unter Belastung auseinanderbrechen zu lassen. Insgesamt wirkten die Zwergenwerfer aber nicht sehr beunruhigt deswegen. Es war eine Manipulation, die sich beheben ließ, wenn man das Brett austauschen würde... was allerdings durchaus aufwendig war, wenn man bedachte, dass erst einmal ein geeignetes Brett gefunden, eingepasst und montiert werden müsste.
Dazu blieb aber noch wann anders Zeit.
„Thjaha“, brummte Ottmar zwar nicht begeistert, aber relativ gelassen,
„wir haben genug Alternativen, keine Sorge. Wir zeigen denen da draußen ein würdiges Finale!“