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Autor Thema: Die Youling Gui  (Gelesen 8046 mal)

Beschreibung: Kapitel 04

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Cerebro

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Die Youling Gui
« am: 01.01.2021, 00:28:09 »
Als Yan erwacht, herrscht düsteres Zwielicht - wie immer in dieser fensterlosen, grob mit Stroh ausgelegten Kammer. Sie bemerkt keinen Seegang, also wird das Schiff wohl noch immer repariert. Seit wie vielen Tagen sie hier sind, vermag sie nicht zu sagen. Zeit ist ihr etwas Fremdes geworden... Und wo ist 'hier' überhaupt?! Viel zu lange ist sie in der Gewalt dieser Barbaren; dieser Tiere, die sie hier festhalten und entehrt haben - wieder und wieder!

Ihre Gefangennahme während des Überfalls auf Shujigou erscheint ihr eine Ewigkeit zurück. Yan erinnert sich an das monotone Schwanken des Schiffes danach - über Tage, Wochen, vielleicht sogar Monate hinweg. Ihre Reise war lang und sie selbst ist jetzt vielleicht schon am anderen Ende der Welt. In jüngerer Erinnerung liegt ein Kampf bei heftigem Seegang, der von einem brutalen Sturm beendet wurde. Vielleicht hätte das Schiff mit ihr und all den anderen einfach untergehen sollen, aber die mächtige Youling Gui war noch da, genauso wie der Großteil ihrer Besatzung - und ein neuer Gefangener, der seither ihre Zelle teilt. Er wohnt damit ihren Leiden bei, ebenso wie sie den seinen, denn er wird regelmäßig gefoltert und gequält. Wie Yan inzwischen weiß, ist sein Name Airun - ein Seemann oder Pirat von einem Ort namens Khora. Jene die ihn foltern, befragen ihn auf Bhangarisch, denn es ist die einzige verfügbare Sprache, die er bruchstückhaft zu verstehen scheint. Die 'sicheren Wege durch die Riffe' - das wollen sie von ihm wissen. Doch Airun schweigt und erträgt sein Schicksal so gut er kann. Zumindest dies hat er mit Yan gemeinsam...

Die Taikangierin spürt eine raue Strohmatte auf ihrem nackten Körper - ihr letzter Besucher hat immerhin so viel Anstand aufgebracht. Aus dem Augenwinkel bemerkt sie Airuns Blick. Wie immer ist er schweigsam. Er und sie sind mit Eisenschellen an beiden Handgelenken gefesselt. Eine Metallkette führt von diesen zur massiven Holzwand und ist dort fest verankert. Zu krustigem Schorf getrocknetes Blut um Yans Handgelenke zeugt von den vielen Versuchen, sich irgendwie loszureißen. Einmal hatte sie es sogar geschafft, war dann aber an der verriegelten Tür gescheitert. Sicher hätte sie diese irgendwann auch kleinbekommen, doch der Lärm war nicht unbemerkt geblieben und damit endete ihr Fluchtversuch. Als Belohnung wurde sie grün und blau geschlagen (nicht ohne auf die gleiche Weise zu antworten) und bekam für lange Zeit nur noch halbe Rationen. Die letzte Zeit war sie dann ruhiger gewesen und wurde entsprechend besser behandelt; wobei 'besser' lediglich darin bestand, wieder halbwegs ausreichend Nahrung zu bekommen sowie nicht mehr geprügelt zu werden. Ein oberflächlicher Schaden auf der dicken Wandverkleidung zeugt noch von der abgerissenen Halterung - Yan selbst ist seither an einer anderer Stelle fixiert. Ihre Kette ist gerade lang genug, um aufzustehen und den nahegelegenen Eimer zu erreichen, der für ihre Geschäfte bereitsteht...
« Letzte Änderung: 01.01.2021, 14:41:29 von Cerebro »

Li Yan

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Die Youling Gui
« Antwort #1 am: 01.01.2021, 21:43:38 »
Yan öffnet und schließt ihre Fäuste, bewegt ihre wunden Handgelenke. Ihr Haar liegt strähnig und ungekämmt auf ihren Schultern und hüllt ihr Gesicht in einen nachlässigen Schleier. Offenbar befinden sie sich immer noch an Land. Mitten in der Fremde, weit weg von den vertrauten Tälern, Bergen und Straßen ihrer Heimat. Nur ihre Ahnen sind nach wie vor da und wachen über sie. Diese Hunde hätten sie an Ort und Stelle töten sollen, als sie der Bolzen in der Hüfte traf. Selbst nachdem ihre Verletzung verheilt ist, kann sie den Schmerz fühlen wie einen Wespenstich. Wie viele Männer sie auch immer mit ihrem Speer durchbohrt hat, es waren nicht genug um etwas an ihrer Lage zu ändern. Sind die Menschen von Shujigou sicher? Die Tatsache, dass sie die einzige Sklavin ist, lässt sie daran glauben. Womöglich haben diese Piraten nicht mit so viel Widerstand gerechnet. Und dann war da noch der Sturm. Die gütige Herrin der See muss ihn geschickt haben, um diese Männer für ihre Gier zu bestrafen. Dies hat ihr eine geringe Genugtuung verschafft zu wissen, dass einige von ihnen über Bord gegangen sein müssen und nun vor ihren Richtern stehen. Noch gibt es keinen Grund für sie, die Hoffnung zu verlieren. Ihre Besucher hatte sie nach anfänglicher Gegenwehr stoisch empfangen. Jedes einzelne Gesicht eingeprägt, damit sie diese ungewaschenen Barbaren wiedererkennt. Ihre Stunde wird kommen - früher oder später. Auch wenn sich nach wie vor alles in ihr dagegen sträubt, zu genesen und bei Kräften zu bleiben ist wichtiger.

Airun hat sie überwiegend seinen eigenen Gedanken überlassen. Auf ihre Frage, ob er und seine Männer ebenfalls Piraten sind, hat er wohlweislich geschwiegen. Sie kann ihm nicht trauen. Und weder kann sie damit rechnen, dass seine Gefährten Gelegenheit finden den Kampf fortzusetzen. Ausdruckslos blickt sie zur Seite. Er scheint ein zäher Mann zu sein. Aber was er vorhat, ist ihr noch nicht klar. 

"Die Zeit vergeht. Wartest du auf deine Freunde? Was ist dein Plan?" Fragt sie dann plötzlich auf bhangarisch. Ihnen beiden sollte klar sein, dass dieser Landgang nur von begrenzter Dauer ist. Eine Gelegenheit - ob sich irgendwann eine Bessere ergibt, weiß sie nicht zu sagen. Um ihre Fesseln macht sie sich weniger Sorgen als um die Tür. Nach ihrem ersten Versuch erscheint es ihr naheliegender, sie geräuschlos zu öffnen. Aber sie ist kein Dieb und sie hat keine Werkzeuge. Ob der Khoraner dabei nützlich sein kann? Was ihnen am Ende dieser Reise wiederfährt, liegt auf der Hand. Sklaverei...oder Tod. Irgendwann werden sie Airun schwerer folten und sie wird ihren Nutzen verlieren, wenn...irgendwann das Unausweichliche geschieht. Bis das eintrifft, muss sie von diesem Schiff.
« Letzte Änderung: 01.01.2021, 22:07:55 von Li Yan »

Cerebro

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Die Youling Gui
« Antwort #2 am: 01.01.2021, 22:17:29 »
Airun blickt Yan die in Augen - sein überraschtes Stirnrunzeln bleibt dabei in der Dunkelheit verborgen. "Plan?!" erwidert er. Dann beginnt er zu lachen. Zuerst ist es nur ein einziger herausgegluckster Laut, der sich jedoch nach zwei, drei weiteren zu einem amüsierten leisen Gelächter steigert. Er legt den Kopf in den Nacken und knallt dabei leicht gegen die Holzwand, an die er angelehnt sitzt. Sein kurzer Ausbruch kommt zu einem Ende und schließlich wendet er sich wieder in Richtung Yan. "Du... lustig." Sein Bhangarisch besteht nur aus einzelnen Wörtern, die er zudem teils noch falsch betont.
« Letzte Änderung: 01.01.2021, 22:26:14 von Cerebro »

Li Yan

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Die Youling Gui
« Antwort #3 am: 01.01.2021, 23:57:14 »
Die Taikangierin bleibt über seine Belustigung ungerührt. Innerlich kommen ihr jedoch Zweifel, ob ihr diese zwielichtige Gestalt von Nutzen sein kann. Hat er schon aufgegeben? Womöglich hat er sich mit seinem Schicksal abgefunden und nimmt lieber einen sicheren Tod in Kauf, als sein ohnehin verwirktes Leben in die Waagschale zu werfen. Leise schnaubt sie aus und lehnt ihren Kopf zurück. "Hier ist man sehr gastfreundlich. " Vielsagend hebt sie die anketteten Hände. "Du willst lieber auf den Tod warten?" Ihre Stimme ist leise, aber ihre Worte langsam und klar. Es wäre ihr beinahe lieber, sie würde mit einem Landsmann festsitzen. Auch wenn sie es niemandem wünscht hier mit ihr unten zu versauern.   

Cerebro

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Die Youling Gui
« Antwort #4 am: 02.01.2021, 01:00:39 »
Airun starrt an die schwarze Decke und blickt Yan nicht ins Gesicht, als er ihr antwortet. "Du Plan? Ich höre... Du kein Plan, dann du schweigen..."

Li Yan

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Die Youling Gui
« Antwort #5 am: 02.01.2021, 16:14:50 »
"Fliehen ist der einfache Teil." Erwidert sie nüchtern und verengt ihre Augen. Airun sieht so aus, als wäre er harte Arbeit gewohnt. Vielleicht hatte er sogar den einen oder anderen Kampf gesehen. Er scheint ein wichtiger Teil von einer Gruppe Seefahrern - oder Piraten zu sein, wenn er sich mit diesen Riffen gut auskennt. "Wie haben sie dich gekriegt? Du kommst von weit her?" Es ist ja nicht so, als hätte ihr Zellengenosse andere Pläne als gefoltert zu werden. Wenn sie ihre Flucht in die Tat umsetzen will, braucht sie mehr Informationen. Ihre bisherigen...Besucher waren abgesehen von verdorbenen Sprüchen alles andere als gesprächig.

Cerebro

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Die Youling Gui
« Antwort #6 am: 02.01.2021, 17:06:37 »
Airun blickt kurz nach rechts zu Yan, dann wieder hoch an die Decke, ohne zu antworten. Abermals schlägt er leicht mit dem Kopf gegen die Holzwand, presst die Augen zusammen und ballt die Hände hinter seinem Rücken zu Fäusten. "Bei Aklathus verfilztem Arsch," fährt es frustriert, doch halb gemurmelt aus ihm heraus - die Worte sind in Khora-Susrahnisch gesprochen, so dass Yan kein Wort versteht. "'Fliehen ist der einfache Teil' ... Sicher! Irgendeiner dieser dreckigen Schlitzaugen hat ihr wohl das Spatzenhirn rausgevögelt..." ... "Ja, sehr sehr sehr weit weg," fügt er dann übellaunig in äußerst schlechtem Bhangarisch an. "Und du kein Plan, also schweigen..." (Von Yan abgewandt und wieder in Khora-Susrahnisch:) "Götter, warum muss ich dieses Geplapper überhaupt verstehen?! 'Fick das Weib einfach und versuch nicht ihre Sprache zu lernen.' Guter Rat, Bruder. Hätte mich dran halten sollen; ist eh nichts draus geworden... Und jetzt kommt mir dieses Frauenzimmer mit dummen Zeug..."

Er blickt wieder zu Yan. (Khora-Susrahnisch:) "Weißt du was?! Wenn dich das nächste Mal einer rammeln will, beiß ihm seinen verfickten Schwanz ab! Das ist der einzige Weg, wie du hier schnell rauskommst!" Er legt den Kopf zur Seite, schließt kurz die Augen und lässt die Zunge aus dem halb geöffneten Mund hängen. Yan vermutet, dass er 'Tod' vorspielen will, versteht den Kontext zum Gesprochenen aber nicht.
« Letzte Änderung: 02.01.2021, 20:37:07 von Cerebro »

Li Yan

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Die Youling Gui
« Antwort #7 am: 02.01.2021, 19:37:42 »
Die Folter muss ihm doch mehr zugesetzt haben als sie gedacht hat. So schnell von Lachen in Frustration umschlagen ist nicht normal. Die Taikangerin blickt ihn an, als zweifle sie an seinem Verstand. Und nun führt er auch noch Selbstgespräche. Ist das überhaupt eine echte Sprache? Für ihre Ohren klingt es nach einem knurrenden Hund. Sie nickt freundlich. "Ah...Bái chī!"[1] Stellt sie in ihrer Heimatzunge fest und beobachtet ihn dabei, wie er als Nächstes toter Mann spielt. Wäre das nach seiner Folter nicht sinnvoller? Offenbar will er seinen eigenen Weg gehen. Oder er hält sich wirklich für einen Hund. Von allen möglichen Gefangenen muss er hier sitzen. Vielleicht sollte sie einfach den Spieß umdrehen und ihn zum Reden zwingen, damit sie etwas in der Hand hat? Aber jemand mit einem Vogelnest im Kopf schreckt weder Folter noch Tod...Nutzlos!   
 1. Idiot
« Letzte Änderung: 02.01.2021, 19:41:04 von Li Yan »

Cerebro

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Die Youling Gui
« Antwort #8 am: 02.01.2021, 20:25:28 »
"Ja, ja, Bai-was-auch-immer..." seufzt Airun in seiner eigenen Sprache und wendet sich ab. Er senkt das Haupt, schließt die Augen und atmet einmal tief durch. Vielleicht will er meditieren, vielleicht eher schlafen - oder auch einfach nur seine Ruhe. Yan hat nicht das Gefühl, dass er von selbst mit etwas Brauchbarem herausrücken wird. Entweder sie lässt die Sache also vorerst auf sich beruhen oder geht ihm vehementer auf die Nerven...
« Letzte Änderung: 02.01.2021, 20:26:41 von Cerebro »

Li Yan

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Die Youling Gui
« Antwort #9 am: 02.01.2021, 20:42:01 »
Komischer Kerl. Vorläufig glaubt sie nicht, dass er ihr nützlich sein kann. Yan wendet den Blick von ihm ab und sieht sich noch einmal in Ruhe um. Was kann sie für eine geeignete Flucht benutzen? Viel gibt diese Kammer nicht her. Sie weiß nicht, ob der nächste auch der beste Zeitpunkt ist. Aber ihre Geduld wird jeden Tag mehr auf die Probe gestellt. Irgendwann dreht sie diesen Ratten noch den Hals um! Vielleicht wäre es am Klügsten zu warten bis sie ihren Zielort erreicht haben. Aber sich bis dahin zu beherrschen? Ob sie sich krank stellen sollte? Schlimmstenfalls würde sie einfach über Bord geworfen werden. Noch ist ihr keine Idee gekommen, die sie tatsächlich überzeugen kann...

Cerebro

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Die Youling Gui
« Antwort #10 am: 03.01.2021, 19:18:39 »
Und so endet auch dieser Tag schlussendlich ereignislos und die Zeit zieht sich weiter wie Teer durch Yans Leben. Wie üblich kommt nahezu täglich jemand vorbei, um Essen zu bringen, die Eimer zu leeren oder - gelegentlich - seinen Spaß mit ihr zu haben. Airun wird weiterhin gefoltert und schweigt hasserfüllt, selbst nachdem man ihm die zwei letzten Finger der linken Hand abschneidet - Fingerglied für Fingerglied. Man behandelt die Verletzung des Khoraners, dennoch bekommt er Fieber und wird daher einstweilen in Ruhe gelassen sowie häufiger mit Wasser versorgt. In dieser Zeit öffnet er sich zumindest Yan etwas mehr und berichtet bisweilen von seiner Heimat oder von für Yan eher belanglosen Erlebnissen. Die Taikangierin erfährt immerhin, dass er nahe den sogenannten Silberinseln geschnappt wurde und sie nun auf diesen feststecken. Sie grübelt, ist sich jedoch nicht sicher, jemals von einem solchen Ort gehört zu haben. "Iraab nah. Zadj... Reich von Zadj..." geht Airun auf Nachfrage etwas näher ins Detail, fällt dann aber wieder in fiebrige Selbstgespräche zurück. Yan ist kein Heiler und vermag daher nicht zu sagen, wie gut oder schlecht es um ihren Zellengenossen steht...

Abseits davon lauert sie stets auf eine Gelegenheit zur Flucht, doch nie erkennt sie einen offensichtlich getragenen Schlüssel und manchmal kommen ihre Peiniger auch zu zweit oder dritt - zudem immer tagsüber, wo vermutlich das meiste Treiben in und um das Schiff herum herrschen dürfte. So frustrierend es für sie ist, die Tage an Land verstreichen, ohne ihr Hoffnung zu schenken.


Yan erwacht unvermittelt, als sie das Geräusch des Türriegels vernimmt. Für einen kurzen schlaftrunkenen Augenblick glaubt sie sich blind, denn sie sieht absolut nichts, erkennt aber schnell, dass es mitten in der Nacht sein muss. Sie hört, wie sich die Tür öffnet - Schritte erklingen auf den leicht knarzenden Holzdielen, wirken aber vergleichsweise leicht, bis ein dumpfer Knall ertönt, so als würde ein Körper zu Boden fallen. Airun erwacht nun ebenfalls. "Was?" murmelt er verwirrt in Susrahnisch und blinzelt mit blinden Augen ins Nichts. Auch Yan erkennt nichts von ihrer Umgebung...
« Letzte Änderung: 04.01.2021, 09:10:07 von Cerebro »

Li Yan

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Die Youling Gui
« Antwort #11 am: 03.01.2021, 21:35:11 »
Als sie sich vorerst entschieden hat weiter die folgsame Gefangene zu spielen, bleibt ihr Verstand trotzdem nicht frei von Zweifeln. Sie weiß, was sich damit selbst antut. Aber ihre Intuition sagt ihr, auf eine besere Gelegenheit zu warten. Ihre Reise wird auf diesem Schiff noch nicht enden. Sie hat die Lehren ihres Meisters gerade erst abgeschlossen. Die Monotonie, gefolgt von leidvollen Unterbrechungen nimmt sie wortlos hin. Ihren Besuchern begegnet sie mit kalter Gleichgültigkeit und sie gibt ihr Bestes, keine Miene zu verziehen. Auch wenn ihr nicht zum ersten Mal danach ist, sich die Seele aus dem Leib zu kotzen. Sie hatte die Schändung von anderen Frauen bereits in ihrem alten Dorf mitverfolgen müssen und daher seit ihrer Gefangennahme gewusst, was auf sie zukommt. Das Schwert ist noch viel zu gut für diese Unmenschen. Airun wird ebensowenig verschont und dieses Mal gehen diese Piraten noch weiter. Während sie stumm seiner Folter beiwohnt ist sie nicht einmal sicher, ob sie die gleiche Beharrlichkeit beweisen könnte wie er. Ist dieses Geheimnis um die Riffe wirklich so viel wert, dass er dafür sein Leben riskiert? Wenigstens scheint diese harsche Behandlung seine Zunge ihr gegenüber gelockert zu haben. Die Silberinseln...Viel sagt ihr das nicht. Offenbar nicht der beste Ort, um nach einer Flucht unterzutauchen. Von Zadji dagegen hat sie einmal etwas gehört. Ein Reich, wo alles Grün verbrannt wurde und nur noch Einöde herrscht. Immer noch besser als das endlose Meer...

Mit jedem dahinkriechenden Tag sinkt ihre Zuversicht. Benutzt und schmutzig fühlt sie sich schon lange, aber so wie Felsen zu Sand verwittern, so dunkler und zorniger werden ihre Gedanken. In ihrem Kopf geht sie viele Male den Kampf durch, der sie hier hingebracht hat. Hätte sie auf Verstärkung warten sollen? Wie viele Leben der Bewohner hätte das gekostet? Sie glaubt nicht, dass sie schlecht gekämpft hat. Das Projektil hatte sie letztendlich voll erwischt. Wäre sie diesem ausgewichen, wie viel länger hätte sie durchgehalten? Am Ende führen diese Gedankenspiele jedoch nirgendwo hin. Wenn nichts hilft, muss sie auf ein Wunder warten...

Zermürbt fällt sie in einen unruhigen Schlaf. Seit ihrer Kindheit hat sie regelmäßige Albträume, die seit ihrer Gefangenschaft nur persönlicher geworden sind. Entsprechend schnell wird sie wachgeschreckt, als sie etwas hört. Die Tür wird geöffnet. Yan beißt ihre Zähne zusammen. Nicht schon wieder...! Sie erkennt in der Dunkelheit nichts, aber "etwas" ist hier. Ein Körper...Ein weiterer Gefangener? Vorerst verhält sie sich still und lauscht nur.     

 

Cerebro

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Die Youling Gui
« Antwort #12 am: 03.01.2021, 22:27:01 »
"Leise." zischt es mit der Stimme eines Mannes aus der Dunkelheit; es ist in Yans gebürtiger Muttersprache. Etwas nähert sich und noch ehe sie die Situation versteht, streifen weiche, fließende Gewänder über ihr Gesicht. Eine lange Robe aus... Seide? Keine Sekunde später klirren ihre Ketten und eine weitere Sekunde später sind ihre Hände frei - ein Gefühl, das ihr beinahe fremd vorkommt.

"Was... wer ist da?" stammelt Airun weiter auf Susrahnisch, ehe sich der Unbekannte auch ihm zuwendet. "Ihr werdet jetzt gehen," erklärt die Stimme, nicht an den Khoraner, sondern an Yan gerichtet. "Der Mann in eurer Zelle - er kam, um seine Triebe zu stillen. Er trug den Schlüssel und ihr habt ihn getötet und euch befreit." Die Worte fließen wie ein Befehl in ihren Geist - klar und deutlich. "Seid leise," fährt die Stimme fort. "Hier unten solltet ihr keinem anderen begegnen, sofern ihr euch eilt. Umgeht die Wachen an Deck und stehlt eines der Boote, um die größere der Inseln zu erreichen. Sie liegt im Südwesten."

Airuns Schellen sind nun ebenfalls gelöst, doch noch immer hüllt tiefe Dunkelheit alles in Schwärze. Wie kann der unbekannte Mann bei dieser Finsternis sehen?!

"Schnell jetzt! Fort mit euch!"
« Letzte Änderung: 04.01.2021, 09:14:00 von Cerebro »

Li Yan

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Die Youling Gui
« Antwort #13 am: 04.01.2021, 12:04:52 »
Yan erstarrt, als etwas über ihre Haut gleitet. Seide? Schneller als sie es fassen kann lösen sich ihre Fesseln. Mit einem Mal ist sie plötzlich frei. Träumt sie gerade etwa? Der Mann scheint sich jedenfalls an Bord auszukennen. Zuerst denkt sie an diese ominöse Persönlichkeit aus ihrer Heimat. Vielleicht doch jemand anderes. Während er spricht, betastet sie ihre Handgelenke. Ohne die Schellen zu sein...Wie eine Ewigkeit scheint es zurückzuliegen. Wachen umgehen, Boot stehlen. Die größere Insel im Südwesten. Sehr gut. Auch Airun wird befreit. Vielleicht kann sie ihn früher oder später doch noch einmal gebrauchen. Für sie gibt es vorläufig keinen Grund, den Plan ihres Retters zu hinterfragen. Sie legt ihre linke Hand auf ihre rechte Faust und presst sie energisch zusammen.

"Glück mit dir!" Wispert sie aufrichtig, dann wendet sie sich an den Khoraner auf bhangarisch.

"Still! Nur Folgen. Nicht stolpern."

Die Dunkelheit lässt sie zwar praktisch blind zurück, aber sie versucht sich an den Schritten zu orientieren, die der Unbekannte hierhin gegangen ist. Diese mieserable Kammer kennt sie inzwischen ohnehin zur Genüge. Leise bewegt sie sich als Erstes auf den toten Piraten zu und klopfte ihn auf brauchbare Gegenstände ab, bevor sie sich in den Lagerraum begeben will. Ein Gedanke lässt sie dabei nicht los. Wie kann der Fremde in dieser Dunkelheit so gut sehen? Es kann kein gewöhnlicher Mann sein. Stammt er aus einem der Klöster?     
« Letzte Änderung: 04.01.2021, 20:54:22 von Li Yan »

Cerebro

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Die Youling Gui
« Antwort #14 am: 04.01.2021, 22:24:13 »
Yan bekommt keine Antwort auf ihren Dank, sondern hört nur leise Schritte, die sich bereits wieder rasch aus der Zelle entfernen. Sie und Airun sind nun ihres eigenen Glückes Schmied...

Während sie in Eile den Gefallenen abtastet, bemerkt sie, dass der Khoraner es ihr in Hektik gleichtut. Er murmelt etwas in Susrahnisch - unverständlich, doch dem Ton nach fest entschlossen. "Messer," zischt er dann plötzlich triumphierend auf Bhangarisch und Yan hört das dazu passende *Shk* als er wohl eine Klinge kurz aus dem Heft hinaus- und wieder hineingleiten lässt. Sie selbst entdeckt beim Abtasten auf die Schnelle nichts von Nutzen. Der Kerl rührt sich nicht, lässt keine Atmung erkennen und ist vermutlich tot. Sie fühlt leichte Stoffkleidung, darunter eine lose getragene Weste über dem sonst nackten Oberkörper. Ihn auszuziehen, um an die Kleidung zu kommen, würde eins, zwei vielleicht entscheidende Minuten kosten, also bricht sie ab und tastet sich begleitet von Airun mit nach vorne ausgestreckten Armen weiter in den angrenzenden Lagerraum. Wie sie noch von ihrer Einkerkerung weiß, wird hier diverser Krimskrams aufbewahrt - überwiegend maritime Ausrüstung, wie Seile, Haken, Gewichte, Fackeln, Wassertanks und anderer Schnickschnack. Sie ist primär darauf bedacht, ihre Füße richtig zu setzen und nicht geräuschvoll etwas umzutreten oder zu stolpern, lässt aber auch bewusst die Arme kreisen, um wie mit Fühlern vielleicht irgendetwas Brauchbares zu ertasten: Ihre Finger streifen hierbei über spitzes, gebogenes Metall. Ein Haken? Ihre Hand wandert weiter und gelangt an einen langen Stiel. Ein langer Bootshaken vermutlich - kein Speer aber immerhin etwas! Sie nimmt sich einige Sekunden, um das Ding leise von seinem Platz zu entwenden und bemerkt, wie Airun sie beim Vorbeigehen streift - er ist jetzt vor ihr und betritt den nächsten Raum: die Mannschaftsquartiere. Yan stellt fest, dass sich der Khoraner durchaus geschickt zu bewegen versteht, denn es fällt ihr nicht leicht, ihn anhand seiner Schritte zu orten. Sie folgt, zwar noch immer völlig nackt, aber immerhin bewaffnet...

Die Quartiere sind wie angekündigt glücklicherweise leer. Von der Decke, wo per Leiter eine Falltür zum oberen Deck erreicht werden kann, dringt durch Spalten zwischen den Brettern das minimale Restlicht einer klaren Nacht zu ihnen durch - trotzdem ist es überaus duster. Von ihrem Retter fehlt jede Spur. Entweder er ist extrem schnell nach oben gelangt oder tiefer in das Schiff gegangen, denn jenseits der Quartiere geht es weiter zum Frachtraum der Youling Gui...
« Letzte Änderung: 05.01.2021, 12:07:16 von Cerebro »

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