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Die Youling Gui

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Cerebro:
Als Yan erwacht, herrscht düsteres Zwielicht - wie immer in dieser fensterlosen, grob mit Stroh ausgelegten Kammer. Sie bemerkt keinen Seegang, also wird das Schiff wohl noch immer repariert. Seit wie vielen Tagen sie hier sind, vermag sie nicht zu sagen. Zeit ist ihr etwas Fremdes geworden... Und wo ist 'hier' überhaupt?! Viel zu lange ist sie in der Gewalt dieser Barbaren; dieser Tiere, die sie hier festhalten und entehrt haben - wieder und wieder!

Ihre Gefangennahme während des Überfalls auf Shujigou erscheint ihr eine Ewigkeit zurück. Yan erinnert sich an das monotone Schwanken des Schiffes danach - über Tage, Wochen, vielleicht sogar Monate hinweg. Ihre Reise war lang und sie selbst ist jetzt vielleicht schon am anderen Ende der Welt. In jüngerer Erinnerung liegt ein Kampf bei heftigem Seegang, der von einem brutalen Sturm beendet wurde. Vielleicht hätte das Schiff mit ihr und all den anderen einfach untergehen sollen, aber die mächtige Youling Gui war noch da, genauso wie der Großteil ihrer Besatzung - und ein neuer Gefangener, der seither ihre Zelle teilt. Er wohnt damit ihren Leiden bei, ebenso wie sie den seinen, denn er wird regelmäßig gefoltert und gequält. Wie Yan inzwischen weiß, ist sein Name Airun - ein Seemann oder Pirat von einem Ort namens Khora. Jene die ihn foltern, befragen ihn auf Bhangarisch, denn es ist die einzige verfügbare Sprache, die er bruchstückhaft zu verstehen scheint. Die 'sicheren Wege durch die Riffe' - das wollen sie von ihm wissen. Doch Airun schweigt und erträgt sein Schicksal so gut er kann. Zumindest dies hat er mit Yan gemeinsam...

Die Taikangierin spürt eine raue Strohmatte auf ihrem nackten Körper - ihr letzter Besucher hat immerhin so viel Anstand aufgebracht. Aus dem Augenwinkel bemerkt sie Airuns Blick. Wie immer ist er schweigsam. Er und sie sind mit Eisenschellen an beiden Handgelenken gefesselt. Eine Metallkette führt von diesen zur massiven Holzwand und ist dort fest verankert. Zu krustigem Schorf getrocknetes Blut um Yans Handgelenke zeugt von den vielen Versuchen, sich irgendwie loszureißen. Einmal hatte sie es sogar geschafft, war dann aber an der verriegelten Tür gescheitert. Sicher hätte sie diese irgendwann auch kleinbekommen, doch der Lärm war nicht unbemerkt geblieben und damit endete ihr Fluchtversuch. Als Belohnung wurde sie grün und blau geschlagen (nicht ohne auf die gleiche Weise zu antworten) und bekam für lange Zeit nur noch halbe Rationen. Die letzte Zeit war sie dann ruhiger gewesen und wurde entsprechend besser behandelt; wobei 'besser' lediglich darin bestand, wieder halbwegs ausreichend Nahrung zu bekommen sowie nicht mehr geprügelt zu werden. Ein oberflächlicher Schaden auf der dicken Wandverkleidung zeugt noch von der abgerissenen Halterung - Yan selbst ist seither an einer anderer Stelle fixiert. Ihre Kette ist gerade lang genug, um aufzustehen und den nahegelegenen Eimer zu erreichen, der für ihre Geschäfte bereitsteht...

Li Yan:
Yan öffnet und schließt ihre Fäuste, bewegt ihre wunden Handgelenke. Ihr Haar liegt strähnig und ungekämmt auf ihren Schultern und hüllt ihr Gesicht in einen nachlässigen Schleier. Offenbar befinden sie sich immer noch an Land. Mitten in der Fremde, weit weg von den vertrauten Tälern, Bergen und Straßen ihrer Heimat. Nur ihre Ahnen sind nach wie vor da und wachen über sie. Diese Hunde hätten sie an Ort und Stelle töten sollen, als sie der Bolzen in der Hüfte traf. Selbst nachdem ihre Verletzung verheilt ist, kann sie den Schmerz fühlen wie einen Wespenstich. Wie viele Männer sie auch immer mit ihrem Speer durchbohrt hat, es waren nicht genug um etwas an ihrer Lage zu ändern. Sind die Menschen von Shujigou sicher? Die Tatsache, dass sie die einzige Sklavin ist, lässt sie daran glauben. Womöglich haben diese Piraten nicht mit so viel Widerstand gerechnet. Und dann war da noch der Sturm. Die gütige Herrin der See muss ihn geschickt haben, um diese Männer für ihre Gier zu bestrafen. Dies hat ihr eine geringe Genugtuung verschafft zu wissen, dass einige von ihnen über Bord gegangen sein müssen und nun vor ihren Richtern stehen. Noch gibt es keinen Grund für sie, die Hoffnung zu verlieren. Ihre Besucher hatte sie nach anfänglicher Gegenwehr stoisch empfangen. Jedes einzelne Gesicht eingeprägt, damit sie diese ungewaschenen Barbaren wiedererkennt. Ihre Stunde wird kommen - früher oder später. Auch wenn sich nach wie vor alles in ihr dagegen sträubt, zu genesen und bei Kräften zu bleiben ist wichtiger.

Airun hat sie überwiegend seinen eigenen Gedanken überlassen. Auf ihre Frage, ob er und seine Männer ebenfalls Piraten sind, hat er wohlweislich geschwiegen. Sie kann ihm nicht trauen. Und weder kann sie damit rechnen, dass seine Gefährten Gelegenheit finden den Kampf fortzusetzen. Ausdruckslos blickt sie zur Seite. Er scheint ein zäher Mann zu sein. Aber was er vorhat, ist ihr noch nicht klar. 

"Die Zeit vergeht. Wartest du auf deine Freunde? Was ist dein Plan?" Fragt sie dann plötzlich auf bhangarisch. Ihnen beiden sollte klar sein, dass dieser Landgang nur von begrenzter Dauer ist. Eine Gelegenheit - ob sich irgendwann eine Bessere ergibt, weiß sie nicht zu sagen. Um ihre Fesseln macht sie sich weniger Sorgen als um die Tür. Nach ihrem ersten Versuch erscheint es ihr naheliegender, sie geräuschlos zu öffnen. Aber sie ist kein Dieb und sie hat keine Werkzeuge. Ob der Khoraner dabei nützlich sein kann? Was ihnen am Ende dieser Reise wiederfährt, liegt auf der Hand. Sklaverei...oder Tod. Irgendwann werden sie Airun schwerer folten und sie wird ihren Nutzen verlieren, wenn...irgendwann das Unausweichliche geschieht. Bis das eintrifft, muss sie von diesem Schiff.

Cerebro:
Airun blickt Yan die in Augen - sein überraschtes Stirnrunzeln bleibt dabei in der Dunkelheit verborgen. "Plan?!" erwidert er. Dann beginnt er zu lachen. Zuerst ist es nur ein einziger herausgegluckster Laut, der sich jedoch nach zwei, drei weiteren zu einem amüsierten leisen Gelächter steigert. Er legt den Kopf in den Nacken und knallt dabei leicht gegen die Holzwand, an die er angelehnt sitzt. Sein kurzer Ausbruch kommt zu einem Ende und schließlich wendet er sich wieder in Richtung Yan. "Du... lustig." Sein Bhangarisch besteht nur aus einzelnen Wörtern, die er zudem teils noch falsch betont.

Li Yan:
Die Taikangierin bleibt über seine Belustigung ungerührt. Innerlich kommen ihr jedoch Zweifel, ob ihr diese zwielichtige Gestalt von Nutzen sein kann. Hat er schon aufgegeben? Womöglich hat er sich mit seinem Schicksal abgefunden und nimmt lieber einen sicheren Tod in Kauf, als sein ohnehin verwirktes Leben in die Waagschale zu werfen. Leise schnaubt sie aus und lehnt ihren Kopf zurück. "Hier ist man sehr gastfreundlich. " Vielsagend hebt sie die anketteten Hände. "Du willst lieber auf den Tod warten?" Ihre Stimme ist leise, aber ihre Worte langsam und klar. Es wäre ihr beinahe lieber, sie würde mit einem Landsmann festsitzen. Auch wenn sie es niemandem wünscht hier mit ihr unten zu versauern.   

Cerebro:
Airun starrt an die schwarze Decke und blickt Yan nicht ins Gesicht, als er ihr antwortet. "Du Plan? Ich höre... Du kein Plan, dann du schweigen..."

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