Eine Woche lang stolperte die Gruppe also eher missgelaunt durch Wald. Die wenigen Begegnungen, die man machte, verliefen unbefriedigend und es mochte manch einem unter ihnen erst jetzt aufgehen, dass ihr auf dem Papier ach so wagemutig klingender Erkundungsauftrag zu 95 % aus eintöniger Routine und bestenfalls 5 % aus Abenteuer bestand.
Milo hatte in der ganzen Woche kaum ein Wort gesprochen, dafür um so mehr beobachtet und reflektiert. Obwohl des öfteren deutlich missgelaunt, achtete er jedoch stets auf tadellose Höflichkeit, sodass sich niemals eine Gelegenheit ergab, ihn darob zu konfrontieren.
Die Ausrede mit der "lauten Rüstung" hatte er Calxu nicht abgekauft. Doch warum hat der Paladin ihn derart grob geschnitten? Milo kam auf drei mögliche Gründe. Erstens: er selbst muss gegen die hier gängigen Höflichkeitsregeln verstoßen haben. Zum einen sprach er schlecht über Brevoy, was Calxu ihm, dem Fremden, womöglich doppelt übel nahm. (Obwohl Milo ja hier geboren war und von demher mit gleichem Recht wie jeder Nordmann Kritik an ihrem Land üben durfte.)
Oder hatte sich Calxus Miene nicht schon in dem Augenblick abweisend gezeigt, als Milo erzählte, wie er vor kurzem seine Frau verlor? Womöglich galt es in Brevoy als unhöflich, Leuten, die man noch kaum kannte, gleich von den eigenen Sorgen und Tragödien zu erzählen. In Osirion tat sich niemand schwer, sofort in passionierte Beileidsbezeugungen zu verfallen und herauf die eigenen Trauerfälle aufzuzählen und auf diese Weise – natürlich über einer rasch aufgebrühten Tasse Tee – gemeinsam jedes Unrecht und jeden Unglücksfall der vergangenen drei Jahrzehnte zu beklagen... Aber der gefühlskalte Nordmann empfand eine solche Information, von einem Fremden zumal, offenbar als unzumutbare Bürde, weshalb er sie lieber ignorierte, als sich zu einer Reaktion zwingen zu lassen...
So stimmig dies alles auf den ersten Blick erschien, so erklärte sich dadurch nicht, warum auch der Rest der Gruppe Milo zu meiden schien. Entweder trat er in ein Fettnäpfchen nach dem anderen, oder der Stein des Anstoßes war doch ein anderer. Seine Fremdartigkeit vielleicht? Seine osirische Kleidung und Manieren? Nun, das war nicht so leicht abzulegen. Einerseits. Andererseits könnte man ihm doch sicherlich ein wenig Zeit zugestehen, sich einzugewöhnen und anzupassen? Das käme sicherlich so nach und nach und ganz von alleine! Um ein Zeichen für sein Bemühen zu setzen, band er sich eines Morgens den Schesch nicht mehr ums Gesicht sondern nur noch um Kopf und Hals. Womöglich galt es dem Nordmann als unhöflich, das Gesicht des Gegenübers nicht erblicken zu dürfen!
Milos zweite Erklärung hing mit Varis zusammen. Dieser wurde offenbar schmerzlich vermisst und Milo als ganz und gar unwürdiger Ersatz empfunden, schlimmer noch: Milo war schuld daran, dass Varis verschwand, denn er hatte das Brieflein überbracht! So ungerecht eine solche Schuldzuweisung wäre, so wenig wusste Milo, wie er sich dagegen wehren sollte.
Drittens könnte die Erklärung natürlich auch viel einfacher sein: als Gelehrter und Adelsspross passte er einfach nicht in diese Gruppe der Holzfällersöhne und Vagabunden. Auch wenn Milo ganze sieben Jahre im Hause des Vaters verbrachte, hörten die anderen sicherlich den Adelsspross aus seiner Redeweise heraus, und seine gelehrte Sprache würde nicht minder ihr Misstrauen provozieren. Ja, mit jedem Wort und jeder Geste, egal wie höflich oder gut gemeint, gab Milo diesen einfachen Leuten Gründe zuhauf, ihn auszugrenzen, denn er war nicht 'einer von ihnen'. Ob Adelsmann oder gelehrter Spinner, nein, so etwas erträgt der einfache Mann nicht in seiner Mitte!
Das ewige Schicksal eines Halbbluts... Nicht osirisch genug für Osirion, nicht nordmännisch genug für Brevoy, nicht elfisch genug für den Elfenwald noch Mensch genug für seine Mitmenschen, und erst recht nicht adelig genug für seine Adelssippschaft. Ach, verwünscht sei der Tag, an dem Illja Ivanovitsch Orlovsky im Wald eine verletzte Elfe fand!
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Das längste Gespräch, das Milo in der ganzen Woche mit einem seiner Begleiter führte, bestand aus genau einer Frage und der folgenden Antwort.
Tian war es, der Milo angesichts des befestigten Räuberlagers offenbar aus Ratlosigkeit fragte, ob dieser nicht noch ungeahnte Fähigkeiten besäße, welche er bislang verschwiegen habe. Da Milo in dieser Hinsicht recht gründlich gewesen war – was ihm teils augenrollende Reaktionen beschert hatte, teils skeptische Blicke – kramte lange gedanklich in seiner Talentkiste, bis er in den tiefsten Tiefen tatsächlich eine bislang übersehene Fähigkeit entdeckte, die in ihrer aktuellen Lage leider an Nutzlosigkeit nicht zu überbieten war.
"Einen Zauber kenne ich da noch, der mich fremde Zungen und Schriften verstehen lässt. Nicht sehr hilfreich, ich weiß, wo wir doch die meiste Zeit im Wald herumstolpern. Tiere kann ich damit nicht verstehen." Entschuldigend zuckte mit den Achseln.
"Und vonwegen Spähen: scharfe Augen habe ich wohl, aber ein Späher sollte auch gut schleichen können und mit dem Terrain vertraut sein. Ersteres vermag ich bestenfalls mittelmäßig und zweiteres mutet mir so fremd und sonderbar an wie dir es die Wüste täte."~~~
Tagsüber marschierte Milo also schweigend, die Abende dagegen widmete er den Zauber- und Waffenübungen. Dazu entfernte er sich so unauffällig wie möglich von der Gruppe und verschwand in seinem Refugium. Auch Nubnefer schien momentan nichts besseres zu tun zu haben, als sich um Milos Ausbildung zu kümmern, sodass er sich gleich an vier der sieben Abende ebenfalls in den gemeinsamen Räumlichkeiten einfand.
Da Milo dem Paladin gegenüber schon mit seiner Paktwaffe geprahlt hatte, übte er sich vor allem darin. Nubnefer brachte eine ganze Auswahl an Waffen aus seinem Palast mit (unterste Preiskategorie sicherlich, aber dennoch sehr solide gearbeitet) und forderte Milo auf, sich eine Handvoll daraus auszusuchen, die dann allein für ihn reserviert würden, sodass er jede davon jederzeit herbeirufen könnte. Sofort schnappte Milo sich den Säbel mit der traditionellen breiten Klinge – einen solchen mochte man sich in den Händen Sultan Saladins vorstellen, heute wurden die Klingen ja schmaler gehalten, entweder aus Sparsamkeit oder weil Geheimnisse seiner Schmiedekunst verloren gingen – und jauchzte vor Wonne, als er ihn probehalber schwang: federleicht lag er in der Hand und glitt so flink und gehorsam durch die Luft wie der Federkiel über Pergament.
Auf Nubnefers Drängen wählte Milo als zweites einen (langweilig neumodischen) Rapier aus, sollte präzises Zustechen einmal angebrachter sein als schwungvolles Hauen. Den angepriesenen Kriegshammer lehnte er dann aber doch ab, denn es mochte ja sehr wohl sein, dass manchem Gegner nur mit dessen gewaltiger Wucht beizukommen wäre, aber wenn Milo kaum die Kraft hatte, das Teil in die Höhe zu heben, dann würde er damit auch im Kampfgetümmel nicht viel ausrichten können.
[1]Daraufhin grummelte Nubnefer wohl eine ganze Weile vor sich hin, dass er in seinem langen Leben schon hunderte Lehrlinge ausgebildet habe, aber ein derart schmalbrüstiges Kerlchen wie Milo habe es darunter noch nicht gegeben! Rohe Gewalt sei häufig genug der einzige Weg, sein Ziel zu erreichen, und nun schaue sich einer diesen Milo an! Hundert Lehrlinge, baumstarke Hünen jeder einzelne davon, und hier ein Kerlchen wie ein Schilfrohr!
Um den Mentor zu versöhnen, und weil er selbst auch lieber baumstark als schmächtig wäre, suchte Milo sich aus all den Zaubern, die Nubnefer ihm anbot, den Wuchtigstens aus. Wenn das nicht reichte, um Knochen zu brechen, dann wusste er es auch nicht!
[2] Und vielleicht könnte man auch die Reisegefährten damit beeindrucken, dass sie in ihm irgendwann kein lästiges Anhängsel mehr sähen, sondern einen kampfstarken Kameraden.
Und so kam es, dass Milo in der ganzen Woche abends und die halbe Nacht über unauffindbar war.
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Und so saß Milo schließlich mit den neuen Gefährten in Olegs guter Stube versammelt. Heute war er recht gut gelaunt, denn er war mit seinen Fortschritten der vorigen Nacht sehr zufrieden. (Nubnefer hatte ihn gelobt! So schnell hätte das noch keiner seiner Lehrlinge gemeistert! Das musste Milo sich gleich im Tagebuch notieren! Also, wenn er eins führen täte. Allein zu diesem Zweck lohnte es sich vielleicht, sich dies schleunigst anzugewöhnen...)
"Ja, das mit den Kobolden klingt gut", äußerte er zum ersten Mal seine Meinung zur vorgeschlagenen Reiserichtung. In Gedanken war er freilich – wie Calxu offenbar auch – noch beim Hirschkönig.
"Gebeinfelder voll rastloser Toter, ein allmählich dem Wahn anheimfallender Räuberanführer, der einen schrecklichen Helm mit Tiergebein trägt, den er offenbar niemals abnimmt – das erinnert mich jetzt wirklich sehr an die alten Pharaonen. Dazu kommt ein seltsamer alter Mann – oder furchteinflößende Kreatur? – der im Keller versteckt lebt... Also für mich klingt das nach einem Fluch."