Das Gespräch bewegte sich in eine Richtung, die Victor überhaupt nicht gefiel. Ja, das kleine Grüppchen, dass sich damals in Restov auf den Weg zu Olegs Handelsposten gemacht hatte, war immer schon heterogen gewesen, und es gab schon einige Momente, in denen die unterschiedlichen Ansichten der einzelnen Leute zu Spannungen geführt hatte. Doch jetzt drohte ein Riss durch die Gruppe zu gehen, der sich womöglich nicht mehr kitten ließ - und Victor war sich nicht sicher, ob es sich überhaupt lohnte, ihn zu kitten.
Doch was ihn wirklich ärgerte, was ihn sein ganzes Leben lang bereits zur Weißglut gebracht hatte, war es, wenn andere in seinem Beisein in der dritten Person über ihn sprachen, als sei er gar nicht da. Er war kurz davor zu explodieren, schaffte es aber immerhin, sich soweit zu beruhigen, dass sich seine Stimme nicht überschlug, als er Varis ansprach:
"Ich bin übrigens hier. Wir sind alle hier."
Er hatte mit einer ruhigen, fast sanften Stimme gesprochen und machte eine kurze Pause, bis Varis realisiert hatte, dass Victor mit ihm sprach.
"Ich kann mich noch erinnern, als wir uns kennenlernten, damals auf der Straße von Restov zum Grüngürtel. Du klangst damals gar nicht so moralisch wie jetzt, sprachst von deinen Künsten mit dem Bogen und dem Lesen von Tierfährten. Wozu, frage ich mich, folgt jemand Tierfährten, wenn er sie nicht jagen will? Und auch beim Kampf gegen die Banditen schienst du keine allzu großen Gewissensbisse zu haben. Sind nicht auch Banditen fühlende Wesen, die letztlich nur eine andere Auffassung von Eigentum haben als du und ich?
Letztlich jedoch haben wir beide den Auftrag der Schwertjunker angenommen, dieses Gebiet zur späteren Besiedlung zu erforschen und vorzubereiten. Was, dachtest du, beinhaltet diese Aufgabe? Denkst du, die Anwesenheit eines gewalttätigen Ebers ist vereinbar mit einem Bauernhof in der Nähe? Dir musste doch klar gewesen sein, dass zahllose Tiere und andere Waldbewohner nicht gerade kompatibel mit einer Besiedlung durch Menschen sind. Was hat dich denn dazu bewogen, diesen Auftrag anzunehmen?"
Victor war nicht laut geworden, sondern hatte weiter mit ruhiger, eher leiser Stimme gesprochen. Doch das Unverständnis, dass mit Varis jemand den moralischen Zeigefinger über ihn hielt, der in seinen Augen keinen Anspruch darauf erheben konnte, besser zu sein als er selbst, war ihm deutlich anzumerken.
"Ich behaupte nicht, dass ich moralische Ratschläge verteilen kann. Im Gegenteil, ich habe in die niedersten Abgründe der Menschen geblickt und mein eigenes Spiegelbild darin gesehen. Ihr wisst, dass ich aus Ustalav stamme, doch ich habe euch nie von meiner Jugend dort erzählt. Und ich werde auch jetzt nicht ins Detail gehen, doch ich habe gestohlen, ich habe Leute betrogen, Karrieren vernichtet, und das alles, um einen ruchlosen und gewalttätigen Mann zu Macht und Reichtum zu bringen. Nur eins habe ich nie getan, und zwar getötet - bis zu dem Tag, an dem mein Herr durch meine Hand fiel.
Aber lass mich erzählen, wie die Gesellschaft in Ustalav funktioniert: Die Adligen, die Reichen und Mächtigen lassen keine Gelegenheit aus, um sich durch Ränkespiele, Betrug und Gewalt einen Vorteil gegenüber ihren Konkurrenten zu verschaffen. Allianzen sind kurzlebig und fragil, denn kaum hat man das gemeinsame Ziel erreicht, ist man schon wieder Konkurrent und stößt sich gegenseitig den Dolch in den Rücken.
Doch dreimal dürft ihr raten, wer die eigentlichen Leidtragenden dieses Spieles sind! Woher sollen wohl die Mittel kommen, um seinen Gegner zu überrumpeln, wenn sie nicht aus der eigenen Bevölkerung gepresst werden? In einer Gesellschaft, in der es nur um Machtspiele geht, wen bestraft und erniedrigt man wohl, wenn man selbst sich einem anderen beugen musste? Du kannst es sicher erraten. Und der Bauer, der in dieser Woche schon zum zweiten Mal ein Schwein von einem lachenden Edelmann aufgespießt und gestohlen bekam, an wem lässt der dann die aufgestaute Wut aus? Nun, er hat ja noch Frau und Kinder.
So ist das Leben in Ustalav, man könnte es einen Kreislauf der Natur nennen, wenn es nicht so makaber wäre. Doch seit ich dem Land den Rücken gekehrt habe, gebe ich mir Mühe, es besser zu machen, mich von den Sünden meiner Vergangenheit zu lösen.
Und nun kommst du, und wirfst mir Verdorbenheit vor, weil ich ein Schwein töten möchte, das nicht der wertvolle Besitz eines armen Bauern ist, sondern allen Aussagen nach ein bösartiges, gewalttätiges Monster.
Ich kann nur noch eins zu dir sagen, Varis Larentanil: Ich freue mich für dich, dass dies scheinbar das höchste Maß an Verderbtheit ist, dass du in deinem Leben kennengelernt hast: Dass Menschen sich gegen wilde Tiere wehren, die ihnen an den Kragen wollen. Und rate dir: Wenn du einmal in die Nähe von Ustalav kommen solltest: Mach einen weiten Bogen um das Land. Und das kann ich euch nur allen raten."