Lîf, Freydis, Halfdan und Kjartan verbleiben also auf dem Dorfplatz, während die übrigen drei sich in Richtung Solveigs Hütte aufmachen. Ihr eigener Aufbruch verzögert sich allerdings, denn Lîf, die von allen Gefährten das größte Herz hat, kann Uthers hilfesuchenden Blick nicht ignorieren und begleitet ihn zur Linde. (Kjartan mault, der Rest folgt willig.)
"Keine Ahnung, ob Gelspad auf dämonische Einflüsterungen hört", erwidert Uther ihr noch, auch wenn er mit den Gedanken bereits woanders zu sein scheint.
"Nicht jeder böse Tat lässt sich dadurch erklären. Sicherlich die wenigsten. Um Besitz und Macht könnte es ihm gehen, ganz ohne Einflüsterung. Vielleicht ist es auch ein einziger Rachefeldzug. Er stammt aus einer zuvor eher unwichtigen Sippe. Möglich, dass sich da allerlei Kränkung, vielleicht auch Unrecht angesammelt hat. Zudem gibt es Einflüsterungen, die nicht dämonischen Ursprungs sind. Wenn Gelspad so viel auf die Prophezeiung eines Orakels gibt, dass er dafür vielfachen Kindsmord begeht... wer weiß, auf welch anderes Gerücht, auch welch absurden Rat oder Aberglaube er etwas hält und danach handelt."Dann ist die Dorflinde erreicht. Es dauert auch nicht lange, bis sich das Volk darum versammelt hat und Uther mit seiner Rede beginnt. Zunächst erklärt er den Leuten genau das, was er zuvor mit der Gruppe ausgemacht hat, sodass Lîf und Freydis seine Erzählung nur an den passenden Stellen bekräftigen und bezeugen müssen. Als die Menge nähere Fragen zum Dämon hat, springt Kjartan in die Bresche. Voller Eifer und so bildhaft, dass man meint, die Szene vor sich zu sehen, schildert er das insektenartige Schattenmonster, dem er sich wagemutig in den Weg warf. Und das Fleischmonster, als welches der Dämon zuvor herumlief, das heißt, bevor sie ihn in Einzelteile zerhackt hatten, die aber auch jeweils noch weiterkämpften. Und dazu die vier Untoten und die Wolfskreatur, welche seine niederen Diener waren. Und...
"Und dann blieb uns die Luft weg vor Schreck, als wir Fürst Soren tot vor einer Art unheiligem Altar fanden, wo der Dämon ihn zweifellos seinem Herrn Urian geopfert hatte", fällt Freydis ihm ins Wort, bevor er Merle oder Tristan erwähnen kann oder dass es Uther war, der eigenhändig die Kehle des Vaters durchschnitt.
"Und dann drangen auch schon aus dem Kellergewölbe Hilfeschreie an unser Ohr und wir eilten dorthin und befreiten all die armen Mägde und Knechte des Fürsten. Nur für einen kam unsere Hilfe zu spät. Aufgefressen hatten die Monster ihn, vor den Augen der anderen, nur ein paar abgenagte Knochen waren von ihm übrig."Diese Schilderung beflügelt die Phantasie der Leute, sodass sie wild durcheinander reden und spekulieren und niemand Kjartans schuldbewusstes Gesicht bemerkt. Dann aber schlägt die Stimmung um, von Erleichterung zu erneuter Furcht, als immer mehr Leute fragen: Ja, wie sollen wir, das einfache Volk, denn den Dämonen widerstehen, wenn nicht einmal die Fürsten oder gar die Mönche gegen sie gewappnet sind! (Hierbei gehen die Blicke zu Halfdan, welcher offenbar bereits von seinen Erlebnissen im Kloster berichtet hatte.)
Da tritt Fürst Uther vor und hält eine Rede, die von der Verantwortung des Einzelnen spricht, der Zusammenarbeit, von der Kraft, welche der Glaube spendet. Und er wagt es sogar auszusprechen, in äußerst milder Form, was er von Abt Halfir hielt: dass der Abt sich zu sehr damit befasst hat, Fehler bei seinen Mitmenschen zu suchen und zu bestrafen, während der Prophet doch vor allem lehrte, ein jeder möge sich seine eigenen Fehler eingestehen und nach bestem Vermögen korrigieren. Ob Mönch, Fürst oder "einfaches Volk": niemand käme um diese Aufgabe herum und jeder ist gleichermaßen befähigt dazu. Dafür sei auch nichts ermutigender und stärkender als dies, nichts wappne besser gegen Ungemach. Von seinem Weib Merle habe er außerdem so manches gelernt, wie man es in Jongot hält, wo man sich am besten auf den Kampf gegen den Dämon versteht und dem Wort des Propheten auch besonders genau folgt. Alles, was der Gemeinschaft dient, sei dort gleichermaßen angesehen. Ob Kräuterweib oder Krieger, Bauer oder Marketenderin, Koch oder Wäscherin: jeder trägt seinen Teil bei, wie er es am besten vermag.
"Andererseits wartet in Jongot niemand darauf, dass irgendwann von weither irgendwelche Retter kämen, sondern ein jeder sieht sich selbst in der Pflicht. So war es auch hier zu Javruds Zeiten und so sollten wir es von nun an wieder anstreben: kein König im fernen Arteus wird uns helfen, aber auch Kromdag hat genug eigene Sorgen und die Wacht am Wall ein riesiges Gebiet zu schützen. Deshalb ist es an uns, wieder so wehrhaft zu werden, wie wir es früher waren."An dieser Stelle beschließen Lîf, Freydis und ihre beiden männlichen Begleiter, dass der Fürst die Sache auch ohne sie gut im Griff hat, und machen sich unauffällig aus dem Staub. Gerade noch vernehmen sie, dass Uther junge Männer zum Waffendienst rekrutieren will, bevor sie außer Hörweite sind.
Schnell geht es den inzwischen bekannten Weg am Bach entlang. Kjartan hat es auf einmal eilig und auch Lîf hat erst einmal keine Muße für die Kräutersuche. Als sie es doch einmal halbherzig versucht, wendet Freydis ein:
"Merle hat einen ziemlich gut sortierten Kräutergarten, da kannst du dich heute abend in Ruhe umschauen. Und oben im Klostergarten wuchs auch nicht bloß Gemüse. Wenn Du etwas bestimmtes suchst, kann ich es dir vielleicht von dort mitbringen."So ist der Fuß der Felswand, die zu dieser Stunde noch einen recht weiten Schatten wirft, bald erreicht. Ohne Zögern verlässt Kjartan den Pfad, dort wo auch der Bach ihn verlässt, während Freydis und Halfdan sich an den mühsamen Aufstieg zum Kloster machen.
"Fräulein Freydis... Fräulein Redwaldsdottir... hast du einen Zwergen verschluckt?" erregt Freydis sich beim Abschied.
"Oder redet man auf den Inseln so? Fräulein! Ha, auf einmal. Und das 'Du' hast du wohl auch verlernt. Redest von Freundschaft, aber nimmst das Du zurück! Und überhaupt, du bist eine drudkvinde! Zumindest bei uns auf Albion ist das so viel wie ein Fürst, also wären wir, selbst wenn du es ganz genau nehmen wolltest, vom selben Stand. Also bitteschön, bleib beim Du!"Zeit zu einer Erwiderung bleibt Lîf nicht, denn sie muss Kjartan hinterher, bevor sie ihn im Gebüsch aus den Augen verliert.
Dieser Teil des Weges, im Schatten der Steilwand, kommt ihr länger vor als die wenigen hundert Schritt, die es in Wahrheit sind. Was als "Gebüsch" begann wird schnell zu "Wildnis". Kletten verfangen sich in ihrem Haar, Ranken und Zweige verhaken sich in ihrer Kleidung, Wurzeln stellen ihr ein Bein. Einmal muss sie gar Tristans Sax hervorholen, um sich einen Weg zu schlagen. Und immer wieder ruft sie Kjartan hinterher, er möchte doch bitte auf sie warten. Das Tosen des Wasserfalls wird immer lauter. Endlich bricht sie durch das Unterholz und steht auf einer lieblichen kleinen Lichtung. Nun ja, zumindest der erste Blick auf den kleinen, von Seerosen bedeckten Teich, dicht umdrängt von Busch und Baum, ist lieblich. Der mächtige Fall selbst – breiter, als sie das aus der Ferne gedacht hätte, wohl an die sechs Schritt
[1] – und der Blick an ihm hinauf sind... schwindelerregend... ehrfurchtgebietend... gewaltig...
Ein Jauchzen reißt Lîf aus ihren Gedanken. So schnell kann sie sich gar nicht umdrehen, wie Ninae auf sie zustürzt oder vielmehr auf Kjartan, diesen wild umarmt und mit Küssen bedeckt.
"Mein Liebster, mein Süßester! Du bist zurück! Du hast mich nicht vergessen!"Es dauert eine Weile, bis Kjartan sich daran erinnert, dass man gar nicht unter sich ist. Als es ihm endlich doch einfällt, windet er sich ein wenig unbeholfen los, um Ninae auf Lîf aufmerksam zu machen. Auch die "Schwester" wird herzlich umarmt und willkommen geheißen.
"Kommt an unseren Teich! Setzt euch daher! Baumelt die Beine im Wasser! Oder kommt ganz herein! Ist es nicht herrlich? Und hier sind meine Schwestern, Simoe und Tirael! Sie finden das auch ganz lieb, dass ihr mich aus dem grässlichen Kerker befreit habt!"Die beiden Nymphen lösen sich vom Ufer, wo sie sich zwischen Baumwurzeln und überhängenden Zweigen versteckt hatten, waten zur Mitte des offenbar nicht sehr tiefen Teiches (nur das letzte Stückchen müssen sie schwimmen) und winken fröhlich.
[2] So schön wie Ninae, die Haut ein wenig gebräunter, blond die eine (Simoe?), brünett die andere (Tirael?), und natürlich vollkommen nackt. (Ninae dagegen trägt einen hauchzarten Schleier um den Leib geschlungen, der allerdings auch nicht allzu viel zu verbergen mag und der, als sie zu ihren Schwestern ins Wasser steigt, darin zu zerfließen scheint, bis sie schließlich ebenso nackt im Wasser plätschert. Kjartan kann sich die Kleidung gar nicht schnell genug vom Leib reißen, bevor er hinterherspringt.
"Komm auch, Schwester!" ruft Ninae.