Am Rand des Teiches sitzt Lîf eine geraume Weile und lässt ihre Beine im Wasser baumeln. Ein besonders behagliches Plätzchen hat sie gefunden zwischen gewaltigen, bemoosten Wurzeln, welche zur einen Seite hin regelrechte Bretter bilden, an die man sich zurücklehnen kann wie auf einer Bank, zur anderen Seite hin sich bis ins Wasser schlängeln. Warm und wohlig ist's ihr am ganzen Leib und leicht in der Seele. Alle Sorge scheint vergessen. Ewig möchte sie so hier sitzen! Unbekümmert im Wasser planschen, mit den drei Schwestern einen Reigen tanzen, das samtig kühle Wasser auf der Haut spüren, den Sommerduft einatmen... Erst, als ein paar frühe Blätter wispernd auf ihre Schultern fallen, blickt sie am hohen Stamm hinauf und erkennt, dass sie unter einer Ulme sitzt. Noch inniger schmiegt sie sich darauf in ihr Nest aus Wurzeln
[1] und könnte schwören, dass auch deren Umarmung enger, liebkosender wird, dass eine Vielzahl an Stimmen ihr liebe Dinge ins Ohr wispert, dass jedes Zweiglein zittert und jedes Blättlein raschelt, ohne dass ein Hauch von Wind sich rührt, und sie flüstern... alles flüstert... hier bist du sicher... hier bist du unter deinesgleichen... weder Streit noch Zank gibt es hier... noch Krankheit, noch Tränen...
So verlockend all dies ist, so gerne Lîf sich dieser Stimmung ganz hingeben will, so stemmt sie sich doch irgendwann dagegen.
Bleib bei uns, wispert die Ulme,
verlorene Tochter, kehr zu uns zurück! Doch Lîf kann nicht. Tristan... das muss die Ulme doch einsehen... ihn kann Lîf doch nicht so einfach aufgeben... nein, niemals würde sie aufgeben...
[2]Das Flüstern der Ulme ändert den Ton. Nicht länger versucht es Lîf zum Bleiben zu überreden.
Recht hast du, rascheln die Blätter stattdessen.
Stark und mutig, treu und gut, so eine Tochter wünscht man sich! Gib nur gut acht auf dich, ja? Gib acht. Und wir wollen auch acht auf dich haben... ein Auge auf dich... werden lauschen, wo du wandelst... wenn du Rat brauchst... frag... frag uns, einen jeden von uns... solange du in unserem Schatten wandelst... sag, der Ulme Tochter braucht einen Rat...Erholt wie aus einem tiefen Schlaf erwacht sie. Wie viel Zeit vergangen ist, weiß Lîf nicht. Sie fühlt sich gestärkt, zuversichtlicher als zuvor. Ihr Ziel klar vor Augen, wendet sie sich an die Nymphenschwestern.
Zu Beginn von Lîfs Rede platschen die drei Schwestern, mit Kjartan in ihrer Mitte, noch fröhlich herum und lauschen allenfalls mit halbem Ohr. Als Lîf jedoch traurig erzählt, dass der Mann, den sie liebt und dessen Kind sie erwartet, in großer Gefahr sei, da lassen die drei von Kjartan ab und schwimmen eilig herbei, umarmen und streicheln und trösten.
"Doch nicht mein lieber Tristan?" ruft Ninae erschrocken, worauf alle drei jammern:
"Oh weh, oh weh, was können wir tun?"Lîf fragt also, was die drei über den Propheten Javrud wissen. Ob es Orte von besonderer Bedeutung gebe, hier oder im Wald oder in den Bergen. Gibt es noch weitere Diener der Göttin hier, womöglich solche, die als weise gelten? Und ob sie sich daran erinnern könnten, als sie damals den Pakt mit Javrud eingegangen waren... ob sie da jemals mitbekommen hätten... dass ein Mensch von einem Dämon besessen wurde, doch Javrud ihn befreite?
[3]Bei mancher Frage leuchten die Gesichter und eifrig folgen Antworten wild durcheinander, doch bei manch anderer stutzen die drei oder schauen verwirrt. Die Geschichte von Javrud und der Quelle bekommt Lîf als erstes erzählt, ausführlicher noch als aus Kjartans Mund. Viele, viele Sommer und Winter ging es so, treu war er ihr, so eifersüchtig sie auch war, denn viele liebe Kinderlein gab, für ihn und auch zwei für sie: so treu war er ihr!
Orte von besonderer Bedeutung? Nun, sie finden es ja hier am schönsten und wollen gar nicht gern lange von hier weg sein. Ein guter Freund von ihnen (mit besonders schönen Hörnern!), der sie zwei- oder dreimal im Jahr besuchen käme (der einzige Mann, der sie drei alle gleich lieb hätte!), der käme im ganzen Wald herum und würde auch gerne viel erzählen, nur so richtig merken täten die drei sich das nicht. Und leider hätte Lîf ihn auch gerade verpasst: vorgestern erst war er zu Besuch gekommen und heute morgen ganz früh dann weitergezogen. Aber wenn Lîf ihn zufällig im Wald träfe, dann sollte sie ihm sagen, sie sei eine liebe Schwester von Ninae und Simoe und Tirael, dann würde er ihr bestimmt wohl gesinnt sein und ein paar seiner Geschichten erzählen.
Weitere Diener der Göttin? Ein alter Mann käme manchmal hierher, aber für die drei Schwestern hatte er keine Zeit. Zu Choron wolle er, deshalb kam er auch immer zur Dämmerung und verschwand bei Sonnenaufgang. Denn...
"Unser Choron ist ganz schrecklich weise!" ruft Ninae aus.
"So viele Dinge merkt er sich, dass mir ganz schwindelig wird, wenn ich nur daran denke! Den musst du fragen, was er über Javrud noch weiß, außer dass es ein schöner Mann war, wohl gebaut, dazu treu und tapfer, ehrlich und gut!""Kein Mensch war er", merkt Simoe an,
"auch kein Elb oder Zwerg, ein Riese schon gar nicht. Auch keiner von den Kleinwüchsigen, die vor langer Zeit verschwunden sind. Von so weit her kam er, dass er der einzige ist von seiner Art, den wir je sahen.""Außer den Toten", ergänzt Tirael schaudernd.
"Tote gab es damals viele, in der Nacht, als der Himmel brannte und Feuer herabregnete... Überall verstreut lagen sie, verbrannt, zerschmettert... Frag' Ishalón! Wenn du wissen willst, wo vergessen ihr Gebein in der Erde modert... wenn's einer weiß, dann er!""Nicht, dass er weise wär'", stellt Simoe klar.
"Ein Schalk ist er, mal bös', aber meistens gut. Unsereins mag er, besonders die hübschen. Nur eure Männer sollten bei ihm recht vorsichtig sein.""Aber Choron ist weise", wiederholt Ninae.
"Wenn du zu ihm willst, dann folge mir. Lass nur alles liegen, was aus Eisen ist!""Und alles, was nicht nass werden soll", rät Kjartan ihr, und zeigt erklärend zum Wasserfall.
"Da kommt man nicht 'ran außer durchs Wasser... und drunter hindurch musst du auch..."Schon schwimmt Ninae darauf zu und winkt Lîf ihr zu folgen.
An Anuks Geschichte muss Lîf da denken, wie Ninae selbst sie im Kerker erzählt hat. Uthers dritte Mutter bat Choron um Hilfe, als sie nicht schwanger wurde und der Gatte ihr drohte, und Choron half ihr, weil sie so besonders gut war, eine so schöne Seele hatte, denn alle anderen weist er ab und ist ihre Not noch so groß! So sei der Nachtbruder nun einmal, er könne nicht anders...
Abermals winkt Ninae sie heran.