Geschehen am Abend des Zor, dem 12. Dravago 999YK
Schwer atmend bleibt Ariello Klint stehen und beobachtet, wie die letzten Flämmchen langsam erlöschen. Für einen kurzen Moment herrscht atemlose Stille. Dann bricht tobender Applaus los.
Der brennende Mann, als den die Plakate an den Wänden der Galerie des Wissens ihn ankündigen, breitet die Arme weit aus und dreht sich langsam um die eigene Achse. Seine tiefen Verbeugungen können nur unzureichend seinen Stolz verbergen; er genießt den Beifall, wie ein trockener Schwamm saugt er die Bewunderung seiner Zuschauer in sich auf.
Auch Shag Solomon grinst anerkennend, als er nach einem endlos scheinenden Moment an seine Seite tritt und ihm damit das Zeichen gibt, dass der nächste Künstler für den Auftritt bereit ist.
„Heute Abend hast du dich selbst übertroffen, alter Knabe.“ flüstert er dem Hexenmeister leise zu. „Als die Decke plötzlich in Flammen zu stehen schien, dachte ich schon, du hättest es endlich geschafft, eine Massenpanik auszulösen.“
Ariello zwinkert dem wilden Mann vergnügt zu, dann verbeugt er sich ein letztes Mal vor der immer noch tobenden Menge, um sich endlich hinter den Bühnenvorhang in seine Umkleidekammer zurückzuziehen.
Shag zieht ein weiteres Mal an seiner selbst geschnitzten, mit Blattmotiven kunstvoll verzierten langstieligen Pfeife, dann baut er sich am Rand der Bühne auf und hebt die Hand, was augenblicklich die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zieht. Langsam verstummt der Beifall. Als endlich Ruhe eingekehrt ist, räuspert sich Shag auf die bekannt affektierte Weise, die ihm jedesmal mehr als eine hochgezogene Augenbraue einhandelt.
„Fürwahr ein atemberaubender, großartiger Auftritt des brennenden Mannes, meine hochverehrten Freunde.“ hebt er an. Wie immer muss er sich dabei ein Schmunzeln verkneifen, sind es doch jedesmal dieselben Gäste, die den Mund vor Erstaunen weit aufreißen, weil sie sein Aussehen nicht mit seiner gepflegten Kleidung und seiner geschliffenen Sprache in Einklang zu bringen vermögen. Mit solchen Vorurteilen haben der wilde Mann und seine Kollegen längst umzugehen gelernt. In der Tat sind es genau diese Vorurteile, die die Leute ein ums andere Mal dazu bringen, tief in die Tasche zu greifen, um aus nächster Nähe das angaffen zu können, was sie für eine Abnormität der Natur halten. Ein lukratives Geschäft für diejenigen, die die mitleiderfüllten, manchmal auch vor Abscheu oder gar Hass blitzenden Blicke der Betrachter aushalten können.
„Liebe Gäste, Freunde, Brüder und Schwestern“ , fährt er fort. „Solltet Ihr tatsächlich geglaubt haben,der Höhepunkt des Abends läge bereits hinter euch, so erlaubt mir, euch kundzutun, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte, als dieser Gedanke. Weitere Wunder erwarten euch, von denen ihr sicherlich noch euren Enkeln erzählen werdet, die euch übrigens zweifelsohne nicht ein Wort davon glauben werden.“ Shag wartet das trunkene Gelächter der Gäste ab.
„Ihr werdet heute Abend Zeuge sein, wie der Mann ohne Gelenke seine Gliedmaßen auf so unwahrscheinlich erscheinende Weise verknoten wird, dass ihr an den Gesetzen des menschlichen Körperbaus zu zweifeln beginnen werdet. Ihr werdet von der betörenden Chesabeth verzaubert werden, die eure Gedanken ebenso leicht lesen wird, wie sie mithilfe ihrer Glückssschale in der Lage ist, euch die Zukunft vorherzusagen. Doch zunächst...“
Eine kleine Kunstpause kann niemals schaden.
„Zunächst aber, hmm, lasst es mich so versuchen: Meine lieben männlichen Freunde, wenn ihr geglaubt haben solltet, gerade eben einen „heißen“ Auftritt miterlebt zu haben, so rate ich euch, schleunigst ein eisgekühltes Bier griffbereit zu halten. Es wird euer Blut kühlen, dass beim Auftritt unserer nächsten Künstlerin sicher zu kochen beginnen wird. Ich habe nun das große Vergnügen, und das Privileg, euch eine vollendete Schönheit ankündigen zu dürfen, deren Tanz euch in eine verzauberte Welt entführen wird und“, fügt er grinsend hinzu, „ von dem ihr euren holden Gattinen ganz bestimmt niemals erzählen werdet.“
Wieder lautes, diesmal lüsternes Gelächter.
„Doch genug der großen Worte, hier ist sie, die bezaubernde, wunderschöne, unvergleichliche Xendra mit den Flügeln.“
Mit weit ausholender Geste deutet Shag Solomon zur bisher in Dunkel getauchten zweiten Bühne hinüber. Mitten in einem hellen Kreis aus Licht steht nun eine junge Schönheit, in ein eng anliegendes, schulterfreies und nahezu durchsichtiges Kleid gehüllt, dass ihre schlanke, biegsame Figur hervorragend zur Geltung bringt und dem Publikum mehr als einen bewundernden Ausruf entlockt. Musik erklingt, und langsam, fast zögerlich nimmt die junge Frau den Takt auf und beginnt zu tanzen.