Geschehen am Abend des Zor, dem 12. Dravago 999YK
Flüchtig nickt Tarkor dem alten Jalek zu, als er sich durch die Türe ins Innere schiebt, eine Geste, die der Besitzer des Schlafhauses mit einem gelangweilten Nicken quittiert. Jalek interessiert sich nicht sehr für Leute von außerhalb, er sorgt sich lediglich darum, dass auch jeder bezahlt, der hier nächtigen möchte.
Der Soldat geht leise die Treppe empor. Zielstrebig bahnt er sich seinen Weg an den auf dem Boden schlafenden Personen vorbei, manchmal auch einfach über sie hinweg. Er ist nicht ganz so leise, wie er das eigentlich sein möchte, doch knarrt das morsche Holz, aus dem der Boden gemacht ist, bei jedem seiner Schritte. Mehrere Augenpaare richten sich auf ihn, manche noch vom Alkohol des Vorabends verschleiert, manche voller Desinteresse, wieder andere wach und misstrauisch und einige wenige – die ihn wohl erkannt haben – mit Furcht im Blick.
Doch ist es heute nicht die Jagd nach Verbrechern, die Tarkors Schritte ins Schlafhaus gelenkt haben. Obwohl, wer weiß schon, mit welchen dubiosen Geschäften Alton sein Einkommen verdient. Tarkor würde nie auf die Idee kommen, seine Hand für den Halbling ins Feuer zu legen. Er wäre aber jederzeit bereit, sein Leben für den kleinen Mann in die Waagschale zu legen, so wie dieser es damals tat, als...
Die Sonne brannte unbarmherzig auf den Schauplatz des Schreckens hernieder. Eine Kutsche, umgestürzt, die Pferde, die sie zogen, mit zuckenden Gliedern und gebrochenen Beinen noch im Geschirr auf dem Boden. Tarkor, den ein aus nächster Nähe abgefeuerter Pfeil an den Boden der Kutsche genagelt hatte; dessen Waffe genau vor seinen Füßen lag, so nah und doch so unerreichbar weit entfernt; der hilflos zusehen musste, wie seine geliebte Schwester hilflos schreiend am Boden lag, von brutalen Händen gehalten, während der Mann vor ihr am Bund seiner Hose nestelte; der ebenso hilflos heulend um Hilfe schrie, wohl wissend, dass um diese Zeit niemand in der Nähe sein konnte...
... und der ungläubig staunend sah, wie plötzlich eine Blutfontäne aus der Halsschlagader des Vergewaltigers spritzte und nahezu im selben Moment einer der anderen Männer schreiend nach hinten kippte, als ein Wurfstern in sein Auge einschlug; der sah, wie der dritte der Banditen entsetzt hochsprang und nach seiner Waffe griff, völlig das Mädchen vor ihm vergessend, dass plötzlich mit einem Dolch in der Hand aufsprang und ihm diesen in den Unterleib rammte; der eine kleine Gestalt nahezu aus dem Nichts auftauchen sah und mit schnellen Stichen die Arbeit zu Ende brachte, die er vor Sekunden begonnen hatte; und der als letztes in die Augen seiner Schwester blickte, die auf ihn zurannte, bevor er in tiefschwarze Bewusstlosigkeit fiel.
Tarkor blickt sich suchend um, irgendwo hier muss er doch sein. Er muss ihn unbedingt finden, muss ihm sagen, was... Sein Blick fällt durch eine halboffene Tür. Er atmet erleichtert auf, denn die Kleidungsstücke, die er dort über dem Stuhl sieht, gehören unzweifelhaft seinem kleinen Freund, dem es offenbar gelungen ist, ein Einzelzimmer für sich zu beanspruchen; er hat sich also offenbar hier den Respekt verschafft, den es braucht, wenn man in diesem Haus voller armseliger Menschen, voller Halsabschneider, Diebe und anderem Gesindel einen einigermassen vernünftigen Schlafplatz finden will.
Lautlos betritt Tarkor das Zimmer und schleicht sich zu Altons Schlaflager hin. Tiefe, regelmäßige Atemzüge verraten den gesunden Schlaf des Halblings und so erschrickt Tarkor nicht schlecht, als er sich zu Alton hinabbeugt und direkt in dessen weit geöffnete Augen hineinblickt. Doch schnell hat er sich wieder gefasst.
„Hör zu, mein Freund. Wir müssen reden. Du bist in Gefahr und musst hier so schnell wie möglich weg, hörst du?Steh schon auf, wir haben nicht viel Zeit, wie ich befürchte.“