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Lleria vom Hause Rhay war das fünfte Kind von Narmur Rhay und Jera Rhay. Zusammen mit ihren Brüdern Markun und Raed und ihren Schwestern Menaja und Arana lebte sie zehn Jahre lang in der Burg der Stadt Felsflucht. Ihr Vater Herzog Narmur Rhay herrschte über das Gebiet zwischen dem Großen Gebirge und dem Bodenlosen Meer. Markun war sechs Jahre älter und als ältester Narmurs Erbe. Raed, drei Jahre älter als Lleria, wurde als Säugling nach Surta gebracht, als Schutzbefohlener von Haus Lark, und sie lernte ihn nie kennen. Im Gegenzug kam Reckar Lark nach Felsflucht. Menaja und Arana waren Zwillinge, beide ein Jahr jünger als Lleria und ebenso unzertrennlich wie ununterscheidbar. Menaja sollte, wenn sie erwachsen wird, den Erben von Cerwas, Torked Ventas, heiraten.
Auch Lleria war schon verlobt. Ihr versprochener Gemahl war Hesey Eichbol, ein Mann Mitte Vierzig und Herrscher der Provinz Kurfar. Ein Mal sah Lleria ihn, bei einem Festessen in Felsflucht, als die Verlobung bekannt gegeben wurde. Er sah alt aus, seine Haare hatten sich auf die hintere Schädelhälfte zurückgezogen und seine Nase war durchzogen von geplatzten, tiefroten Adern und er hatte andauernd rasselnde Hustenanfälle. Sie gab ihr Bestes, nicht heulend wegzulaufen und zog es seitdem vor, sich einzureden, dass sie nie verlobt worden wäre. Ihre Schwestern redeten ständig von strahlenden Rittern und starken Recken und träumten davon, später einmal einen galanten und jungen Adligen zu heiraten. Eines Tages machte ihr Gerede davon Lleria so wütend, dass sie ihnen einen Apfelkuchen an den Kopf warf, auch wenn es ihr hinterher Leid tat. Ihr gefielen Geschichten ohne Ritter besser, wie die von Leia der Kriegerin oder der Bruderschaft der Fünfzehn Wälder.
Lleria wollte nie heiraten und ihr ganzes Leben an der Seite eines reichen Grafen oder Herzogs verbringen. Höchstens hätte sie Reckar geheiratet, aber auch der war ihr als Freund hundertfach lieber. Mit Reckar konnte sie machen, was ihr Spaß machte und ihren beiden kleinen Schwestern ein Gräuel war. Sie kletterten zusammen auf die Scheune, über die Schmiede und Gästehäuser, fochten mit Stöcken auf dem Hof hinter der Küche, wo sie niemand sehen und zur Ordnung rufen konnte, und machten Wettrennen im Wald, bis sie zerkratzt, außer Puste und ihre Sachen von oben bis unten mit Schlamm voll geschmiert waren.
Herzog Narmur duldete das Treiben seiner Tochter missbilligend, denn alle Versuche, sie zur Ordnung zu rufen, blieben fruchtlos. Lleria sträubte sich gegen jedes Kleid, das ihr Vater ihr brachte und strubbelte jede noch so kunstvoll geflochtene Frisur aus ihrem Haar, sobald niemand hinguckte. Eines Tages bat sie den Waffenmeister von Felsflucht Herwor, sie zu unterrichten. Aber nach zwei Wochen setzte ihr Vater auch dem ein Ende und verbot ihr, jemals wieder ein Schwert anzufassen.
Zu ihrem achten Geburtstag hatte ihre Mutter ein besonderes Geschenk für sie. Es hieß Atryr Ledalor und er war ein Meister von den Inseln der Östlichen Seen. Die Lehrmeister von Felsflucht langweilten Lleria schrecklich mit ihren ewigen Ausführungen über Geschichte, Heraldik, Höflichkeit und Benehmen. Atryr sollte sie an ihrer Statt unterrichten. Selbstbeherrschung und Kontrolle, Verständnis und Verständigung, die Prinzipien von Kraft und Macht sollte er ihr Beibringen, all das, was Llerias Schwestern lernten, nur auf eine andere Art. Das glaubte und wünschte sich zumindest ihr Vater, aber es war mehr und es war anders. Atryr war ein Kampfmeister seines Volkes. Während ihres ersten Unterrichtstages erwartete Atryr sie in einer großen, leeren Halle, auf dem Boden kniend. Er regte sich nicht, nicht nach mehreren Aufforderungen Llerias und nicht nach Schubsern und Tritten. Schließlich tat Lleria es ihm gleich, wütend, aber neugierig. Atryr befohl ihr zu atmen. Lleria blieb sitzen, schließlich atmete sie ja schon die ganze Zeit. Sie bejahte die Frage, ob sie seinen Anweisungen folgte. Dann sollte sie die Augen schließen. Einige Zeit verging, dann sollte sie sich entspannen. Lleria blinzelte kurz und sah, dass Atryr es ihr augenscheinlich gleichtat und wartete gelangweilt ab, was als nächstes passieren würde. Dann sagte er, dass sie an das nennen sollte, was sie am meisten wünscht. Lleria dachte an Reckar, denn Reckar war vor einigen Wochen nach Surta zurückgekehrt. Sie dachte an Hesey und seinen rasselnden Husten. Sie dachte an den Schwertkampfunterricht mit Herwor.
Also antwortete sie, „Ich möchte das Reckar zurückkommt. Und ich möchte, dass Hesey and seinem Husten stirbt, bevor ich ihn heiraten muss. Und ich will kämpfen lernen.“
Atryr lächelte nur. „Sehr gut. Morgen machen wir weiter.“
Aber am nächsten Tag war es das gleiche. Atryr saß wieder auf dem Boden, sie sollte seine Übungen nachmachen und sagen, was sie sich wünscht.
Den nächsten Tag war es das Gleiche und am Tag danach und am Tag danach. Hinknien, atmen, Augen schließen, entspannen. Irgendwie hatte Atryr etwas besonderes, was Lleria dazu verleitete, sich immer wieder auf ihn einzulassen. Hinknien, atmen, Augen schließen, entspannen. Schließlich fragte sie ihn nach einer weiteren Woche, was er sich wünsche. Wieder lächelte er nur, wie schon so oft, sagte aber nichts.
Lleria begann, ernsthaft an dem Sinn ihres Unterrichts zu zweifeln. Entnervt und ungeduldig wandte sie sich an ihre Mutter, doch diese drängte sie zum Weitermachen. So begann ein weiteres von unzähligen Treffen mit Atryr. Hinknien, atmen, Augen schließen, entspannen.
„Was wünschst du dir am meisten?“
„Dass Reckar zurückkommt. Dass Hesey and seinem Husten stirbt, bevor ich ihn heiraten muss. Und ich will kämpfen lernen, du bist ein Kampfmeister! – Und ich will meine Ruhe. Lass mich in Frieden, ich will meine Freiheit.“ Lleria wusste nicht, wie Atryr reagieren würde, aber es tat gut, ihrem Unmut Luft zu machen. Sie schlug die Augen auf, um zu sehen, wie er reagieren würde.
Atryr lächelte wieder. „Auf Reckar habe ich keinen Einfluss, ebenso wenig auf Hesey. Kämpfen könnte ich dich lehren, doch das ist nicht der Wunsch deiner Eltern.“ Seine Augen waren noch immer geschlossen. „Was ich dich lehren kann sind Frieden...“ Er ballte seine Hände zu hohlen Fäusten, die er übereinander vor sein Gesicht hielt. „...Ruhe...“ Lleria sah gebannt zu, wie seine Augen hinter den geschlossenen Lidern weiß-bläulich zu leuchten begannen und er dabei anfing, einige Finger breit über dem Boden zu schweben. „...und Freiheit.“ Plötzlich schoss ein blauer Lichtstrahl aus seinen Händen, eine Klinge, fast so hoch wie Lleria. „Lass uns anfangen.“ Sie war zu erschrocken, um sich rühren zu können. Atryr schlug die Augen auf und die Klinge verschwand. Er lächelte. „Natürlich kann man das, wenn man will, auch zum Kämpfen benutzen.“
Das war Llerias erster Übungstag. Atryr erzählte von den Lehren seines Volkes und von der Einheit von Körper, Geist und Seele. Vieles könne erreicht werden, wenn man diese Einheit erreicht und Atryr zeigte es ihr. Er ließ seine blaue Klinge aus Licht wieder entstehen und sie durfte sie anfassen. Er nannte sie Seelenklinge, eine Manifestation der inneren Einheit. Die Klinge fühlte sich wie Stahl an, kühl und glatt. Nur konnte sie weder Klinge noch Heft oder Parierstange ausmachen. Als sie sich dennoch tief in den Finger schnitt, lachte Atryr nur und die Klinge verschwand wieder. Atryr zeigte ihr, wie man unglaublich hoch springen kann. Ohne Anlauf sprang er bis an die Decke und flog dabei fast. Von da lief er ganz gemütlich zur Wand, die Wand hinunter und auf den Boden. Lleria war fasziniert.
Nach einigen Wochen hatte sie schließlich gelernt, einarmig Liegestütze zu machen, eine Stunde lang mit ausgestreckten Armen stillzustehen und sich so stark zu konzentrieren, dass manche der blauen Flecken verschwanden, die sie während der Schwertkampfübungen bekam. Jeden Tag freute sie sich mehr auf die Übungsstunden. Wenn diese vorbei waren, übte sie alleine auf ihrem Zimmer, auf dem Hof oder im Wald, überall, wo sie ungestört sein konnte. Ständig dachte sie dabei über Atryrs Worte vom allumfassenden Gleichgewicht nach.
Ihre Schwestern Menaja und Arana sah Lleria kaum noch und wenn doch, dann war es ihr egal, wenn sie von tapferen Rittern und hübschen Jünglingen schwärmten. Ihr Vater war zufrieden mit ihr, denn sie schien nicht mehr voller Tatendrang und Abenteuerlust. Hesey hatte sie schon fast vergessen. Die Heirat mit ihm war in weite Ferne gerückt und unwichtig geworden.
Nach einigen Monaten gelang es Lleria, ihre eigene Seelenklinge zu erschaffen. Sie war ein kurzes Schwert, anderthalb Fuß lang, aus violetter und glühender Energie. Atryr bestand darauf, dass sie es niemandem zeige, da sonst Herzog Narmur die Übungen unverzüglich beenden würde.
Als Lleria zehn Jahre alt war, tötete Haus Lark ihren Bruder Raed und es kam zum Krieg. Felsenflucht wurde geschleift und niedergebrannt. Alle Mitglieder Haus Rhays wurden geköpft und ihre Köpfe an den Burgmauern aufgespießt. Nur Lleria gelang es, als Magd verkleidet zu flüchten. Ihre gesamte Familie war tot und Atryr ebenso. Die Burgen ihrer Verwandten waren zerstört oder diese hatten sich ergeben. Lleria musste zum ersten Mal in ihrem Leben ums Überleben kämpfen. Ständig waren die Banner Haus Larks ihr auf den Fersen und ein Mal wurde sie von einem eifrigen Ritter gefangen. Mit ihrer Gedankenklinge konnte sie sich des Nachts losschneiden und den Ritter im Halbschlaf erstechen. Mit seinem Streitross konnte sie die Verfolger endlich lange genug abschütteln, um sich zu verstecken.
In der Hauptstadt der Provinz Gardor im Norden wohnte in einem riesigen Anwesen ein reicher Abkömmling des Hauses Ryladyr, Temrot Ryladyr. Temrot wurde nachgesagt, dass er ein Hexer und Magier sei, der dunkle Magie wirken und Zauber hervorrufen konnte. Lleria gelang es, nach über einem Jahr der Flucht bei diesem Mann als Dienerin eingestellt zu werden und war somit sicher vor Haus Larks weitreichenden Armen. Das Anwesen war groß und leer und nur selten begegnete sie anderen Menschen, die meisten von ihnen Bedienstete. Temrot bekam sie nie zu Gesicht. Wann immer sie Zeit fand, übte sie in ihrer Kammer, was Atryr ihr beigebracht hatte. Es war das Einzige, was ihr geblieben war und daran klammerte sie sich und es half ihr, nicht vor Trauer und Wut überwältigt zu werden. Sie half in der Küche aus und schrubbte die Fußböden und jeden Morgen ging sie zum Markt, um frische Lebensmittel zu kaufen.
Aus Angst, ihren Verfolgern einen Hinweis auf sie zu bieten, hatte Lleria ihren Namen seit dem Tod ihrer Familie nicht mehr verwendet. Als absolut kein Name aus ihr herauszubekommen war, gingen die Köche und Küchenjungen dazu über, sie Drei zu nennen, denn Drei war die Nummer ihres Zimmers. Der Name Drei war so gut wie jeder andere und Atryr hatte versprochen, ihr drei Dinge beizubringen: Freiheit, Ruhe und Frieden. Also bleib sie bei dem Namen. Er half ihr, ihre Vergangenheit zu vergessen, denn Haus Rhay gab es nicht mehr und sie war nicht mehr Lleria vom Hause Rhay.
Drei war fast drei Jahre lang bei Temrot. Manchmal brachte sie ihm seine Mahlzeiten in sein Studierzimmer. Temrot war niemals anwesend, aber sie ging davon aus, dass er kommen würde, sobald sie weg war. Eines Tages brachte sie frisches, noch warmes Brot, herzhaft duftendes Wildschweinfleisch, eine Schale Obst und einen Krug Wein auf einem Silbertablett und stellte es wie schon so oft auf den polierten Schreibtisch aus Nussholz. Die Vorhänge waren wie immer zugezogen und die Luft schwer und dick und nur von einem glühenden Kohlebecken in der Mitte des runden Zimmers erleuchtet. Sie ließ gedankenverloren ihren Blick über die bis unter die Kuppeldecke mit Folianten und Pergamenten vollgestopften Bücherregale schweifen und wollte gerade die massive Eichentür hinter sich schließen, als das Kohlebecken in der Mitte blau zu glühen begann. Eine sanft strahlende blaue Kugel legte sich um das Becken und begann zu pulsieren und anzuschwellen. Wie angewurzelt blieb Drei stehen und betrachtete fasziniert das Schauspiel. Die durchscheinende Kugel wuchs und wuchs und füllte schon den halben Raum aus. Sich weigernd, vor der plötzlichen Erscheinung Angst zu haben, ging sie trotzig auf die Kugel zu und blieb einen Fuß davor stehen. Das Licht pulsierte ein letztes Mal und berührte dabei ihre ausgestreckten Hände. Dann wurde alles schwarz.