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Die schwarze Ledermappe vor euch wird von einem gestanzten und mit goldener Farbe nachgezogenen Wappen geziert; als ihr sie öffnet und den Inhalt der ersten Seite überfliegt, stellt ihr fest, dass es sich um einen knappen autobiographischen Entwurf handeln muss.
„Mein Name ist Joanne Josephine Montreveaux ir’Veillièrs. Ich wurde im Jahre 977 nach Gründung des Königreiches im Ort namens Veillièrs im Herzen Aundairs geboren, als Tochter und zweites Kind des Freiherrn Gerome Montreveaux ir’Veillièrs und der Dame Amelié Sagrâine, denen die um den Ort gelegenen Ländereien mitsamt eines Wohnsitzes gehören. Guy Montreveaux, mein älterer Bruder, ist der rechtmäßige zukünftige Erbe des gesamten Familiengutes, während meine jüngeren Geschwister, die Zwillinge Alaine und Guillome sowie ich Anspruch auf Anteile nach Guys Ermessen haben.
Allen Kindern der Familie wurde bis zum fünfzehnten Lebensjahr Unterricht in Etikette, Geschichte, Heraldik, den schönen Künsten und den Lehren der Neun zuteil; auf die letzteren wurde besonderer Wert gelegt, da unser Vater ein sehr frommer Mann ist. Ich genoss es stets, neues Wissen aufzunehmen, doch ließ ich es mir auch nie entgehen - unter dem Vorwand, den Pfad Dol Dorns oder Balinors besser verstehen zu wollen - auch Reit- und Fechtunterricht zu nehmen.
Zu meinen Lehrern gehörten die Weisesten der örtlichen Priesterschaft, weshalb ich viel Zeit in Tempeln, Schreinen oder Bibliotheken verbrachte und manchmal sogar über Nacht blieb, um besonders aufwändige Texte, die am nächsten Morgen abgefragt wurden, zu studieren oder in Kontemplation zu versinken und über das Walten der Götter, aber auch meine eigenen Wünsche und Ziele, nachzusinnen. Irgendwann wusste ich, dass, so dankbar ich meinen Eltern für das sichere und lehrreiche Leben in einem vom Krieg verschonten Städtchen auch war, ich dennoch mehr sehen wollte von der Welt und von den Leuten, die sie bevölkern. Ich spürte, dass ich zuhause sehr wohl nach Wahrheit suchen könnte, doch nie würde ich dort die ganze Wahrheit finden. Die Reisenden, die fremden adligen Besucher, die alten Bücher oder die neueren Berichte - sie alle trugen Kunde von Orten und Dingen weit in der Ferne, die ich mir nur in Gedanken ausmalen konnte..
Das Ereignis aber, die - durchaus merkwürdige - Begegnung, die mich endgültig zum Aufbruch beflügelt hat, ereignete sich erst wenige Jahre vor der Unterzeichnung des Friedens von Thronfeste an einem warmen, spätsommerlichen Abend, an dem ich zum Meditieren zum prächtigen Blumen- und Ährenbeet im Arawai-Tempel von Veillièrs gekommen war.
Diese Begegnung wühlte mich völlig auf, doch zuerst jagte sie mir einen gehörigen Schreck ein. Schließlich kommt es nicht jeden Tag vor, dass die Decke des Tempels birst und ein junger Mann auf das Blumenbeet stürzt. Genau das geschah aber an jenem Abend, und mir war im ersten Augenblick, als würde mein Herz aufhören zu schlagen. Ich dachte, der Mann sei zu Tode gekommen, und eine Mischung aus Angst und Mitleid, wie ich sie noch nie in meinem Leben gekannt hatte, überkam mich. Ich wollte loslaufen und einen Priester holen, doch etwas hielt mich auf. Ich atmete tief durch, fasste Mut und näherte mich dem reglos inmitten der Blumen liegenden Mann.
Ich sah, dass er noch sehr jung war, in etwa in meinem Alter oder etwas darüber, und dazu überaus gut aussehend. Ich sah auch, dass er noch atmete. Ich spürte, wie mir ein Stein vom Herzen fiel, aber immer noch war meine Ruhe hinfort. Der Mann müsste verletzt sein, und benötigte sicher Hilfe - ihn seinem Schicksal zu überlassen, war für mich undenkbar.
Ich eilte in die Requisitenkammer, um einen Krug, eine Schale, ein paar Kräuterbeutel und saubere Tücher und Bandagen zu holen, und danach zum Brunnen an der Rückseite des Tempels. Die Priester hatten mich in den Grundlagen der Heilkunde unterwiesen, und dieses Können war nun gefragt. Ich fühlte Verantwortung auf mir lasten, aber irgendwie war es ein angenehmes Gefühl.
Mit frischem Wasser kehrte ich zum Bewusstlosen zurück und ertappte mich sogleich dabei, wie ich statt ihn nach Verletzungen zu untersuchen, seine Gestalt bewunderte. Errötet und peinlich berührt, riss ich mich schließlich von dem Anblick los und stellte die mitgebrachten Utensilien vor dem Beet ab; dann tauchte ich ein Tuch ins kühle Nass und strich damit behutsam über die Stirn des Mannes. Er regte sich ein wenig, erwachte aber nicht.
Ich ließ mich auf die Knie nieder und begann mit der Untersuchung. Zum Glück hatte der junge Mann keine Brüche oder Ausrenkungen davongetragen, sehr wohl aber einige Platzwunden und Prellungen.
Ich löste Spitzwegereich und andere heilsame Kräuter in der Schale, erwärmte die Lösung an einem kleinen rituellen Feuer und tunkte die Bandagen in den Sud, bevor ich vorsichtig Kopf und Ellbogen des Jünglings, die die schlimmsten Platzwunden trugen - abgesehen vielleicht von Stellen, die ich nicht zu untersuchen gewagt hatte, damit verband. Inzwischen atmete der Verletzte regelmäßiger, zu meiner großen Erleichterung. Ich entfernte mich kurz, um die Schale auszuspülen und einen Tee aus Kräutern zuzubereiten, und als ich zurück zum Beet kam, sah der junge Mann aus, als würde er einfach schlafen.
Ich ließ mich neben ihm nieder und wartete, mit einem Lächeln auf den Lippen, das mir gar nicht sofort bewusst wurde, und einer sonderbaren Wärme, die sich schnell in meinem Leib ausbreitete.
Als er schließlich die Augen aufschlug, fühlte ich mich auf einmal ganz unsicher. Er lächelte zurück, und ich wusste vor Verlegenheit erst nicht, was ich tun sollte. Seine etwas unbeholfene Entschuldigung entlockte mir dann ein Kichern. Irgendwie war er ganz niedlich, schoss mir durch den Kopf und ich errötete.
„Ihr habt mich ganz schön erschreckt, Herr. Aber Olladra hat Euch beigestanden, Ihr habt zum Glück keine schweren Verletzungen davongetragen. Hier, trinkt das, es wird Euch ein wenig erfrischen,“ bot ich ihm den aufgebrühten Kräutertee an, nachdem ich meine Sprache wiedererlangt hatte.
Vorsichtig, beinahe ehrfürchtig, hielt ich dem jungen Mann die Schale entgegen und lächelte immer noch, während er daraus trank. Irgendwann aber wurde ich mir seiner Worte vorhin erst richtig bewusst. Wieder bekam ich etwas Angst - denn vielleicht waren seine Verfolger ja gar nicht weit?
„Verzeiht mir die Frage, aber von wem werdet Ihr verfolgt? Und weshalb?,“ musste ich besorgt fragen. „Hier seid Ihr aber in Sicherheit. Hier könnt Ihr Euch ausruhen,“ versicherte ich ihm daraufhin, um den Jüngling nach dem Schock, den er sicherlich erlitten haben musste, zu beruhigen.
Die Hektik der vergangenen Ereignisse schien den Jüngling schnell wieder einzuholen, denn er versuchte sich bald ruckartig aufzurichten, was dem Ärmsten lediglich Schmerzen einbrachte. Die Geschichte, die er erzählte - dass er nämlich von irgendwelchen Schlägern verfolgt worden wäre - hörte sich jedenfalls sehr abenteuerlich und gefährlich an, was in mir eine Mischung aus Besorgnis und Faszination hervorrief.
Da der Mann einen Brief erwähnte, den er bei sich getragen hatte, erhob ich mich und ging einmal um das Beet herum, und tatsächlich sah ich einen versiegelten Umschlag inmitten der prächtigen Blumen liegen. Ich hob ihn auf und streckte ihn dem Verunglückten entgegen, indem ich wieder an seine Seite trat und in die Hocke ging. Auch diesmal konnte ich nicht anders, als zu lächeln, und musste sicherlich verlegen gewirkt haben - was ich zugegebenermaßen auch war.
Als der junge Mann mir seinen Namen - Talen - nannte, fühlte ich mich sonderbar gerührt. Viele Menschen, darunter auch junge Männer, hatten sich mir in meinem bisherigen Leben vorgestellt, aber diesmal war es irgendwie anders. Ich wusste nicht, was dieser sonderbare Unterschied war, doch, mit Röte in den Wangen, erwiderte ich ganz energisch: „Ich bin Joanne. Ir’Vellièrs. Es ist mir eine Freude.“ Über meine eigene Wortwahl staunend, fügte ich sogleich „Und Ehre“ hinzu. Ich war völlig verblüfft, wie sehr mich Talens sympathische Art in ihren Bann gezogen hatte.
Sein Husten und schmerzliches Zusammenzucken deuteten jedoch auf einen wirklich geschwächten Zustand hin, weswegen ich meinem unerwarteten Gast erneut dazu anraten wollte, sich zu entspannen und auszuruhen - doch zu diesem Schluss kam er rasch selbst, dazu noch mit Worten, die die Farbe von Mohnblumen auf meine Wangen zauberten. „Ich sollte wirklich einfach lieber in diesem wunderschönen Beet liegen bleiben. Immerhin habe ich eine schöne Aussicht,“ sagte er, und obwohl er damit vielleicht bloß seine blühende Umgebung meinte, war ich anmaßend genug, mir die Worte zu Herzen zu nehmen.
Es kostete mich mehrere tiefe Atemzüge und eine Willensanstrengung, mich zu beherrschen und Talen zu antworten: „Ihr habt Glück, dass Ihr so weich aufgekommen seid, Talen. Nun gönnt Euch etwas Ruhe; bis zum Morgengrauen wird niemand den Tempel betreten. Sagt mir ruhig, wenn Ihr etwas möchtet.“
Daraufhin widmete ich mich der Vorbereitung auf das am nächsten Tag anstehende Ritual der Erntesegnung, indem ich mit einer kleinen Sichel herausgesuchte Blumen und Ähren schnitt und diese zu Sträußen und Kränzen band, aber auch diese kontemplative Beschäftigung hielt mich nur schwer davon ab, immer wieder den plötzlichen Besucher anzuschauen.
Talen aber war galant und beredsam genug, mich noch mehr verlegen und gleichzeitig entzückter werden zu lassen. Denn was er daraufhin sagte, war ganz eindeutig nicht mehr den Blumen gewidmet. Ich fürchtete, mir würde nun etwas ganz peinliches passieren, aber schließlich entstammte ich einer Adelsfamilie und hatte unzählige Stunden Benehmensunterricht hinter mir. Also richtete ich mich würdevoll und energisch auf - wobei ich mich wunderte, woher dieser Elan auf einmal kam - und verschränke die Hände, in denen ich ein Bündel frisch geschnittener Blumen hielt, hinter dem Rücken.
„So lange wir nicht auf einem offiziellen Empfang sind, sei Euch das gestattet,“ verkündete ich etwas zu förmlich, um mir sofort dessen bewusst zu werden und mich um einen entspannteren und freundlicheren Ausdruck zu bemühen. „Ja, nennt mich einfach Joanne, es ist in Ordnung. Ach, auch wenn ich über diesen geweihten Tempel nur bis zum Sonnenaufgang verfüge, werde ich mich bemühen, eine gute Gastgeberin zu sein. Für einen so dankbaren Gast wie Euch,“ wurde ich zum Schluss sogar kokett.
Den Gang zu einer Nebenkammer, aus der ich eine Schale mit Früchten, einen halben Laib Brot und etwas Kräuterbutter mitnahm, nutzte ich nebenbei, um meine Gedanken zu sammeln. Ich war reichlich verwirrt darüber, wie warm es mir auf einmal geworden war und wie gerührt ich doch war. Ich trank etwas kühles Wasser, bevor ich mich zurück ins Kirchenschiff machte und dort das Tablett mit der Mahlzeit vor dem jungen Mann abstellte.
„Guten Appetit, Talen. Ich hoffe, diese Gaben Arawais schmecken Euch,“ lächelte ich ihn bereits an, ehe ich mich versehen konnte. Während der Jüngling den Früchten und dem Brot zusagte, setzte ich mich am Rand des Beetes hin und begann, Sträuße zu binden und Kränze zu flechten.
Über den Appetit des Mannes lächelte ich still. Ich fühlte mich für einen Augenblick wie eine geschmeichelte Gastwirtin und kicherte wie ein kleines Mädchen ob dieser Vorstellung, um gleich erneut zu erröten. Leider schien das Abendmahl Talen zu allererst Kraft für Sorgen und Unruhe zu geben. Ich glaubte zwar nicht, dass die gutmütige Mutter Fayenne, der der Tempel gehörte, eine Tragödie im geborstenen Dach sehen würde, wenn es dafür das Leben eines jungen Mannes gerettet hatte, doch ich war auch bereit, jedem möglichen Ärger mit meinen eigenen Ressourcen als Tochter derer von Veillièrs vorzubeugen.
Überrascht von meiner so spontanen Bereitschaft, für den Jüngling einzustehen, brauchte ich eine Weile, bevor ich ihm beschwichtigend antworten konnte. „Macht Euch wegen des Daches keine Gedanken, Talen. Die würdige Mutter Fayenne, die Tempelvorsteherin, wird sicherlich Verständnis für diesen,..“ ich rang um das richtige Wort, „…Zwischenfall aufbringen.“ Meine Wortwahl gefiel mir doch nicht, aber eine angemessenere Beschreibung für diese außergewöhnliche Begegnung wollte mir nicht in den Sinn kommen. „Wenn Ihr wünscht, könnte ich Euch den schnellsten Weg zum Haus, das Ihr sucht, verraten,“ bot ich ihm daraufhin an und zupfte in einem weiteren Anflug von Koketterie meine beige Novizenrobe, die ich nach meinem Wunsch mehr wie ein Kleid hatte schneidern lassen, an der Taille zurecht, bevor ich wieder zu den Blumen griff.
Ich könnte nicht sagen, welchem Umstand mein Lächeln galt, als ich bald darauf die Augen wieder auf den Jüngling richtete: seiner Hektik, seinem eigenen Lächeln oder einfach dem Umstand, dass er da war. Sein Blick war diesmal so intensiv, dass ich den Kopf und die Lider senkte.
„Talen, Ihr solltet Euch zuerst etwas Ruhe gönnen. Das würde Euch gut tun,“ sprach ich zu ihm, in der Hoffnung, den jungen Mann zur Vernunft zu bringen - und in Wirklichkeit viel mehr in der Hoffnung, noch ein wenig länger in seiner Gesellschaft zu verweilen. „Sobald der Morgen anbricht, werde ich Euch zum Hinterausgang führen und Euch den kürzesten Weg erklären. Ihr braucht Euch um die Schläger nicht zu sorgen.“ Die Bitte in meinen Augen musste unübersehbar sein, wie ich gleich darauf errötend feststellte.
Es war mehr als nur meine Einbildung - der Widerwillen Talens, sofort aufzubrechen, den er nur mäßig glaubhaft zu vertuschen suchte. Ein Gefühl der Rührung und der Freude bemächtigte sich meiner, selbst wenn ich mich zierte, es preiszugeben. „Entspannt Euch, Talen. Findet etwas Schlaf. Mögen die Neun über Euch wachen,“ sagte ich immer noch lächelnd und ergänzte prompt in Gedanken: “So wie ich es tun werde.“
Als der junge Mann sich zurücklehnte und die Augen schloss, widmete ich mich den verbliebenen Blumen und Ähren, die ich voll und ganz in Obhut meiner Hände übergab, denn meine Augen wanderten nur zu oft zum schönen, schlafenden Jüngling.
Halbe Stunde später legte ich den letzten Kranz beiseite und kniete mich hin, um in einem leisen abendlichen Gebet den Göttern zu danken, auch und insbesondere für diese Begegnung, die mein Herz so tief berührt hatte. Obwohl die Müdigkeit mich langsam aber sicher zu bezwingen drohte, kniete ich mich daraufhin neben Talen, um noch eine ganze Weile seine friedlichen, ansehnlichen Züge. Wo kam er her? Wohin würde er morgen früh gehen? Würde ich ihn wieder sehen? Viele Fragen gingen mir durch den Kopf, und ich bemerkte bald etwas Kühles und Nasses an meinen Wangen.
Sofort sprang ich auf und hastete zum anderen Ende des Beetes. Dort nahm ich ein Taschentuch und tupfte die Tränen weg. Als ich mich auf der weichen, blühenden Unterlage niederließ, konnte ich in der Stille meinen Puls spüren, ja beinahe hören. Langsam glitt ich in einen dämmrigen Zustand über, ohne dass das Durcheinander in meinem Kopf auch nur ein bisschen abnahm.
Wirklicher Schlaf überkam mich in dieser Nacht nicht, zu sehr gerührt und aufgeregt war ich. Der erste frühe Vogel machte mich hellwach, und nachdem ich mich am Brunnen im Hinterhof erfrischt hatte, füllte ich ein weiteres Tablett mit Früchten und Brot und brachte es zum Beet im Kirchenschiff. „Guten Morgen, Talen,“ berührte ich den jungen Mann nach kurzem Zögern vorsichtig an der Schulter. Die Momente, bis er die Augen aufschlug, verbrachte ich wie auf heißen Kohlen.
Dann war es soweit - Talen war wach und lächelte mir entgegen. Ich fühlte mich so wohl, wie noch an keinem Morgen zuvor. Schnell aber bemerkte ich, dass der Jüngling noch schmerzen hatte, und verzog das Gesicht, als hätte ich mir selbst wehgetan.
„Esst ruhig, Talen, Ihr müsst wieder zu Kräften kommen,“ bestand ich darauf, dass er frühstücken möge, und sein leises „Danke“ klang in meinen Ohren wie das schönste elfische Lied, das ich bisher gehört hatte. Ich nahm mir auch eine kleine Scheibe Brot, merkte aber schon nach dem ersten Bissen, dass ich keinen Hunger hatte, nur das Bedürfnis, in die lebhaften Augen des jungen Mannes zu schauen, was mich wieder sehr verlegen machte.
Die morgendliche Mahlzeit war bald zu Ende, und näherte mich meinem Gast, innerlich betrübt, dass er in wenigen Minuten fort sein würde. „Fühlt Ihr Euch besser?,“ fragte ich, bereit, Talen beim Aufstehen zu helfen.
Noch nie schritt ich so zitternd über den Boden des Tempels, selbst in den Zeremonien, an denen ich hatte mitwirken dürfen, war ich viel selbstsicherer aufgetreten. Nun aber führte ich einen freundlichen, gut aussehenden Mann, der auf seltsame Weise all meine Gedanken vereinnahmte, durch ebendiesen Tempel.
Ich hörte mein Herz rasend pochen, als wir an der Hintertür standen, die ich aufschloss und öffnete. „Wenn Ihr den Garten durchquert habt, gelangt Ihr in die Kupfergasse. Geht nach rechts, die Gasse entlang, bis zum Barbierladen, und biegt in die Quergasse ein. Sobald ihr am kleinen Glockenturm seid, umrundet ihn und ihr werdet auf dem kleinen Platz dahinter das Haus finden, das Ihr sucht,“ erklärte ich ihm den Weg zum Haus, wo der hübsche Bote seinen Brief abgeben musste. Dann versagte meine bis dahin feste Stimme, und ich blickte betreten zu Boden.
Es vergingen mehrere Augenblicke peinlicher Stille, bis ich den Kopf langsam hob und dem jungen Mann in die Augen schaute. “Jetzt fang bloß nicht an zu weinen,“ ermahnte ich mich selbst streng und nahm allen Mut für die Worte des Abschieds zusammen. „Möge Olladra Euch auf Euren Wegen immer gewogen sein, Talen. Ich freue mich sehr, Eure Bekanntschaft gemacht zu haben. Lebt wohl… und vergesst mich bitte nicht,“ fügte ich fast flüsternd hinzu und musste hart gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen.
Dann überkam mich eine Idee und ich rief „Wartet noch einen Augenblick!“, bevor ich wie von einer Wespe gestochen zurück ins Kirchenschiff rannte und die kleine Blumensichel ergriff. Meine Augen huschten hin und her auf der Suche nach der schönsten Rose, die ich bald fand und schnitt. Mit der blassroten Blume in den Händen, die von kleinen Blutrinnsalen befleckt waren, weil ich so ungeschickt war, die Dornen anzufassen, machte ich mich auf den Weg zur Hintertür und streckte sie lächelnd dem Mann entgegen, obgleich in meinem Blick unverkennbare Trauer des Abschieds stand.
Der Abschied verlief schnell und ließ mich daraufhin mehrere Minuten völlig atemlos an der Tür stehen und Talen hinterher schauen, selbst nachdem er bereits in die Gasse eingebogen und verschwunden war. Die Berührung seiner Lippen, der sanfte, unschuldige Kuss, brannte immer noch warm auf meiner Wange und trieb mein Blut mit einer solchen Heftigkeit durch die Adern, als wäre ich eben vom Anwesen meiner Eltern gerannt gekommen. Tränen rollten aus meinen Augen herunter, Tränen, die ich nicht verstand, oder mir einredete, sie nicht zu verstehen.
Erst das gedämpfte Quietschen der großen Hauptpforte hinter mir im Kirchenschiff riss mich aus der Starre - Mutter Fayenne war erschienen. Ich drehte mich sogleich um und griff nach dem Taschentuch in eine Robentasche, doch außer dem Tuch ertasteten meine Finger auch noch etwas anderes, etwas Unerwartetes. Verwundert zog ich einen kleines, als Anhänger gefertigtes Symbol der Silbernen Flamme, der vorhin nicht da gewesen war. Über die Herkunft des Amulettes konnte es keinen Zweifel geben.
Mit wild klopfendem Herzen ließ ich den Anhänger zurück in die Tasche gleiten. „Danke, Talen,“ flüsterte ich und tupfte mir schnell die Tränen aus dem Gesicht. Dann eilte ich los, der würdigen Tempelvorsteherin entgegen.
Wie ich erwartet und gehofft hatte, zeigte die gutherzige Priesterin Mitleid und Verständnis, als ich ihr die Geschichte der vergangenen Nacht erzählte, dennoch machte sie einen Anspruch auf eine Tempelspende deutlich, die ich ihr sogleich zusicherte.
Selten war ich so unruhig gewesen, wie während der Zeremonie des Erntesegens, die an jenem Tag stattfand. Schon während des Ganges durch die Stadt hielt ich ständig nach Talen Ausschau, ohne ihn, zu meinem tiefsten Bedauern, zu entdecken. Vom Ritual, das auf den Feldern abgehalten wurde, bekam ich nicht viel mit und war heilfroh, als die Zeremonie endlich zu Ende ging.
Schon am selben Abend sprach ich vor meinem Vater, aufgeregt doch wohl darauf bedacht, die Aufregung im Zaum zu halten. Ich bat ihn, mir zu gestatten, Veillièrs für eine Weile zu verlassen, die Welt sehen zu dürfen; nach dem Abschied von Talen konnte ich nicht mehr ruhig und besonnen in den örtlichen Tempeln aushelfen. Wie ich es auch erwartet hatte, zeigte sich mein Vater sehr verwundert und wollte mir diese Willkür zunächst ausreden, doch ich beharrte so lange darauf, bis er nachgab. Er reichte mir einen versiegelten Umschlag und wies mich an, mit einem Lyrandar-Luftschiff nach Sharn zu gehen und den Brief dort Professor Shagram ir’Dwyne an der Morgrave Universität auszuhändigen. Dieser sei ein alter Bekannter meines Vaters und würde mir zu einem anspruchsvollen Theologiestudium verhelfen - wenn ich ihm hier und jetzt versprechen würde, die Familie ir’Veillièrs würdig zu vertreten, ihr Ansehen nicht zu beflecken und gut auf mich aufzupassen. Ich versprach es sogleich, und obwohl ich sah, dass mein Vater ziemlich betrübt über meine Entscheidung war, war ich ihm zutiefst dankbar für die Erlaubnis.
Schon am nächsten Tag hatte ich fertig gepackt und marschierte voller Sehnsucht und Hoffnung zum kleinen Landeturm des Städtchens, hinter mir verdutzte Gesichter meiner Mutter, meiner Geschwister und meiner Lehrmeister hinterlassend. Es tat mir durchaus leid, sie zu verlassen, aber bleiben konnte ich nicht, ich musste fort. Nach einigen wohl verborgenen Tränen flog ich bereits durch die Lüfte an Bord der „Feuerlibelle“.
Es war meine erste Reise außerhalb der Umgebung von Veillièrs, zudem eine, bei der ich das Land unter mir wie ein Vogel beobachten konnte. Es war ein Hochgefühl, das meine Sehnsucht linderte und mich frei und voller Kraft fühlen ließ. Selbst die Narben des Krieges, die ich oft unter mir die Oberfläche Eberrons zerfurchen sah, oder die Ungewissheit dessen, was vor mir lag, konnten mir diese unvergleichliche Empfindung nicht rauben. Ich fragte mich, ob Talens Wege ihn in nächster Zeit in die berühmte Stadt der Türme verschlagen würden, denn ich musste immer wieder an diesen schönen jungen Mann denken, der mir so viel neuen Elan und Mut gegeben hatte.
Auf mich, eine Landadlige aus dem tiefsten Aundair, wirkte Sharn überwältigend und verwirrend; als ich das kleine Luftschiff verlassen hatte, verbrachte ich gewiss eine halbe Stunde mit bloßem Staunen. Allein die Ausmaße der Stadt ließen Zweifel in mir aufkommen, ob ich jemals die Universität finden würde. Ich musste recht unbeholfen ausgesehen haben, denn einer meiner Mitreisenden erbarmte sich und erklärte mir in groben Zügen den Aufbau Sharns und auch die Möglichkeit, eine fliegende Kutsche anzumieten. Mit solch einer Kutsche gelangte ich schließlich zur gigantischen, beeindruckenden Morgrave-Universität, und fand dort nach einigem Suchen und Fragen den Professor, von dem mein Vater mir erzählt hatte. Jener stellte sich als etwas betagter Mensch mit gepflegtem Äußeren und einem durchdringenden, tiefen Blick, so als würde er jedem Wesen vor sich gleich ins Herz blicken. Er las die Empfehlung meines Vaters und versicherte mir, dass er mich unter seinen Studenten aufnehmen würde, außerdem war er so freundlich, mich auf eine gute Gaststätte hinzuweisen.
So begann ein neuer, abenteuerlicher Abschnitt meines Lebens. Während ich die Tage in Vorlesungen oder in Bibliotheksräumen verbrachte, genoss ich an Abenden fröhliche Gesellschaft meiner Kommilitonen, die in der gleichen Gaststätte wie ich oder in der Nähe wohnten. Auch wenn ich die Mahnung meines Vaters stets im Hinterkopf behielt und Talen nie vergaß, konnte ich so mancher leichtsinnigen Affäre nicht widerstehen. Wirkliche Erfüllung brachten mir solcherlei Abenteuer nicht ein, denn immer wieder erkannte ich, dass ich damit eine viel tiefere Sehnsucht zu ersetzten suchte. Diese Erkenntnis trieb mich oft dazu an, mich mehr ins Studium zu vertiefen, und es veränderte mich allmählich sehr. Die Lehren der Neun, mit denen ich aufgewachsen war, erschienen mir immer unvollständiger; sie klangen weise und wahr, doch in der Welt schien es mehr zu geben, Wahrheiten, die ignoriert, verachtet oder gar verboten wurden. Ich befasste mich mit den Lehren der Silberflamme, dem Mythos der Schöpfung, und sogar mit den Dunklen Sechs oder Aufzeichnung über Khyberkulte. Selbst wahnsinnigen Kultisten traute ich Wissen und Erkenntnis zu, die sie vielleicht selbst nicht verstünden, doch die nichtsdestotrotz wahr sein konnten.
Als Professor ir’Dwayne verkündete, er stelle eine Truppe für eine Expedition nach Aerenal zusammen, um eine antike Stätte voller Schriften aus den Zeiten Jahrtausende vor unserer Epoche zu untersuchen, war ich eine der ersten, die sich bereit meldete. Wieder zog mich Sehnsucht weiter fort, und es stellte sich als nur zu weise heraus, dem Drang nachzugeben - denn so durfte ich, den Göttern sei Dank, Talen wieder sehen.
Ich hatte gar nicht erwartet, gleich in der ersten Expeditionsbesprechung das schelmische Gesicht des jungen Mannes zu sehen, der einst vor mir im wahrsten Sinne des Wortes vom Himmel gefallen war. An diesem Tag, mehrere Jahre nach unserer ersten Begegnung, sah Talen viel erwachsener aus, aber nicht minder attraktiv und charmant. Dennoch musste ich den Blick senken oder dem seinen ausweichen. Nach den Wirrungen meiner bisherigen Studentenzeit wagte ich es nicht, ihm in die Augen zu blicken, weil ich erkannte, welch tiefe Spuren er in meinem Herzen hinterlassen hatte.
Unter solchen beklemmenden Vorzeichen begann die Reise. Die lange Schifffahrt entlang Khorvaires Küste, der elfische Hafen, die exotische Wildnis von Aerenal - all das wusste ich zu bewundern und zu genießen und meinen Horizont zu erweitern. Doch während Talen und ich uns mit höflicher Distanz begegneten, hörte ich nicht auf, mir trotz der Schuldgefühle etwas mehr Wärme seinerseits zu wünschen.
Als er eines Tages, an unserem Ziel, der Tempelruine Al’gailhnarde, ziemlich theatralisch nach Begleitung für seinen Spähgang ausrief, fand ich den Auftritt derart witzig und unwiderstehlich, dass ich meine Zweifel beiseite legte und einwilligte. Einfach nur mit Talen zusammen die uralte Ruine zu erforschen, diese Vorstellung bescherte mir eine warme Woge. Zum ersten Mal seit unserem Wiedersehen sah ich dem Mann länger als einen Augenblick in die Augen, und erkannte dort, dass seine Vorstellung der meinen ähnlich sein musste.
Ich betete zu den Neun, bat sie um Führung und um Licht, das sie uns durch mein heiliges Symbol sandten, und zusammen stiegen wir ins unterirdische Komplex. Schriften, die nichts von den Neun oder den Sechs kündeten, und doch alte Weisheiten bargen, fanden sich an zahlreichen Tafeln oder Sarkophagen, Einblicke in die Welt, wie sie vor tausenden von Jahren war. Talen hatte die Expedition bisher sicher und selbstbewusst durch Aerenal geführt, und so vertraute ich seinen Fähigkeiten auch diesmal.
Nichtsdestotrotz machte er einen Fehler. Einen beinahe fatalen. Ich schaute ruckartig auf, als ich ein unheilvolles Klicken hörte - und sah, wie eine der tonnenschweren Steinsäulen sich auf den schockierten jungen Mann herabsenkte, nein, herabfiel. Vor Schreck ließ ich den Hut, den ich während der Untersuchungen abgenommen hatte, fallen und rannte auf den unglückseligen Fallenfinder zu. “Talen!,“ rief ich verzweifelt und kam gerade rechtzeitig, um ihn aus der Gefahrenzone zu stoßen und selbst unter der fallenden Säule durch zu hechten. Dabei stolperte ich, und das Beben vom herunterkrachenden Stein nahm mir völlig das Gleichgewicht.
Zusammen mit Talen stürzte ich - auf ihn. Es kostete mich eine Weile, den Schock zu überwinden, doch so langsam wurde ich mir meiner ‚Unterlage’ immer mehr bewusst. Ich spürte die Wärme, die von Talen ausging, hörte seinen Atem, sah tief in seine Augen, in denen noch der Schreck und die Erleichterung geschrieben standen. Mein Puls steigerte sich, und mein Gesicht wurde rot. Dieser Augenblick der Zweisamkeit ließ mich erzittern, und ehe ich mich versah - zog Talen meinen Kopf näher an den seinen und küsste mich. Obwohl ich während meiner Zeit in Sharn bereits die eine oder andere nähere Bekanntschaft mit einigen Mitstudenten gemacht hatte, könnte ich bei allen Göttern Eberrons schwören, dass ich noch nie einen schöneren Kuss bekommen und genossen hatte. Unzählige Gefühle brandeten in meinem Kopf auf; ich gab mich dieser Liebkosung hin und als unsere Lippen sich schließlich voneinander trennten, lächelte ich ehrlich und glücklich.
„Danke, Talen,“ flüsterte ich, bevor ich mich behutsam erhob und auch dem jungen Mann, der zum Glück außer ein paar blauen Flecken keine Verletzungen davongetragen hatte, bei Aufrappeln half. Das Eis war nun gebrochen. Wir mussten uns nicht mehr gegenseitig wie Fremde behandeln oder den Blicken des jeweils anderen ausweichen. In den Ruinen des altehrwürdigen Elfentempels wurde mir ein Segen zuteil, nachdem ich dort nicht gesucht hatte, doch empfing ich ihn mit höchster Freude.
Selbst nachdem wir zum Rest der Expedition zurückgekehrt waren, blieb dieses warme Gefühl. Denn jetzt konnten Talen und ich uns jederzeit ansehen und anlächeln, damit es uns jedes Mal warm ums Herz wurde.
Die Götter meinten es allerdings nicht wohl mit uns, als die Reise zu Ende ging und wir nach Sharn zurückkehrten. Unzählige Auswertungen, mehrere Arbeiten und Vorträge warteten auf mich und verlangten mir jedes Quäntchen meiner Zeit ab, während Talen sich kaum blicken ließ. Jeden Abend, an dem ich in mein Gasthaus einkehrte, hoffte ich, den jungen Mann dort anzutreffen, doch zu meinem Leidwesen geschah es viel zu selten.
Ich suchte Ablenkung von meiner Sehnsucht in den theologischen Studien, doch keine göttliche Weisheit konnte meinem Herz Einhalt gebieten. Offenbar sah man mir meinen Kummer schnell an, denn es fanden sich immer wieder willige ‚Trostspender’, die ich jetzt allerdings ohne zu zögern abwies. Nach Gesellschaft für ein paar Tage oder gar bloß eine Nacht verlangte es mich nicht mehr. Ich wünschte mir bloß Talens Nähe.
Etliche Wochen später wurde ich sehr plötzlich und überraschend von Guy, meinem älteren Bruder, aufgesucht. Er zeigte sich froh, dass ich mich in der Stadt der Türme gut zurechtgefunden hatte und wohlauf war; er hätte stets um mein Wohlergehen gebetet, sagte er. Und er hätte ein wichtiges Anliegen für mich: ich sollte nach Narrath, eine kleine Stadt in Karrnath, gehen und dort den versiegelten Umschlag, den er mir gab, an einen gewissen Herrn Ashley ir’Coldwyn, überreichen. Keinem fremden Boten könnte er den Brief anvertrauen.
Ich mochte und respektierte meinen Bruder sehr, und ich willigte ein, auch wenn meine Gedanken sich immer noch stets um Talen drehten. Ich bat den Wirt meiner Herberge, sollte er den jungen Mann bald sehen, ihm mitzuteilen, dass ich für ein paar Wochen aus der Stadt fort sein würde - und zwei Tage später bestieg ich bereits die „Lyrian“, ohne zu wissen, was mich auf dieser Reise erwartete…