Neriglissar will den Moment der Unachtsamkeit nutzen, um einen Zauber auf das abscheuliche Wesen zu werfen, doch der Dämon ist schneller. Bevor der Zerebromant seine magischen Gesten und Worte beenden kann, beginnt der Dämon zu würgen. Widerlicher, schwarzer Odem kommt aus dem weit geöffneten Maul, füllt den Raum und verschlingt Neriglissar. Der ätzende Atem brennt in den Augen, brennt in der Lunge und brennt auf der Haut, sodass sich Neriglissar auf dem Boden liegend vor Schmerz krümmt. Obwohl sich der Odem unglaublich schnell wieder verzieht, spürt der Magier noch immer das Brennen und übergibt sich auf den alten Teppich, der den Boden des Saals bedeckt.
Wieder fängt der Dämon an vor Lachen zu beben.
„SCHAU HER, FAGHIRA! SIE, WAS DU IHM ANGETAN HAST! DURCH DEINE DUMMHEIT, DEINE UNACHTSAMKEIT! DAS EINZIGE WAS ZU BRINGST IST LEID; LEID ÜBER DICH UND JEDEN, DEM ZU BEGEGNEST. SIE ZU, WIE ER SICH AUF DEM BODEN VOR SCHMERZ WINDET UND SIE ZU, WIE ER AUS DEINEM LEBEN SCHWINDEN WIRD“, brüllt der Dämon mit der tiefen, ohrenbetäubenden Stimme, die das Blut in den Adern gefrieren lässt. Mit unmenschlicher Schnelligkeit tritt er an den Zerebromanten heran, der sich wieder etwas gefasst hat. Blitzschnell, wie eine Schlange packt der Dämon Neriglissar mit seiner klauenbewährten Hand und schleudert ihn gegen einen Pfosten des Himmelbettes, der den Flug des Mannes nur unwesentlich verlangsamt. Heftig prallt er gegen die kalte Wand und fällt unsanft neben den Überresten des hölzernen Pfostens auf den Boden. Matt wälzt er sich stöhnend in den hölzernen Splittern, von denen sich einige tief in seine Haut graben.
Noch ehe er wieder vollkommen zu sich kommen kann, ist schon wieder der Dämon bei ihm.
„Oh, so ein hübsches kleines Menschlein. Wollen wir Dich einmal ein wenig hässlich machen!“
Mit seinen Klauen fährt er dem Zerebromanten langsam übers Gesicht. Tief graben sich die spitzen Krallen ins Fleisch und hinterlassen blutige Striemen.
Faghira fängt an zu kreischen. Sie schließt ihre Augen und hält sich die Ohren zu, doch vergebens, denn die Stimme des Dämons und die Bilder ihres gepeinigten Gefährten dringen trotzdem zu ihr durch.
„Ts ts ts, Faghira, wer wird denn da weggucken? Meinst Du, du kannst dich so vor deiner Schuld verstecken? Meinst Du, wenn du nicht hinguckst, passiert es nicht? Oder denkst Du, das Leben wäre ein böser Traum, aus dem du gleich erwachst. Nein, mein Kind, so ist es nicht. Es ist die Realität und nichts was Du tust verändert die Tatsache, dass ich deinem Freund gleich Säure über sein Gesicht schütten werde! Willst du denn nicht dabei zuschauen? Es zischt und dampft dann immer so schön. Das wird ein Riesenspa...“, der Dämon bricht urplötzlich mitten im Satz ab.
Noch immer benommen blickt sich Neriglissar um. Auch Faghira öffnet ihre Augen und kann ihnen kaum glauben. Etwas kleines, flinkes, das sich mit unnatürlicher Schnelligkeit bewegt, hat sich im dürren Hals des Monstrums verbissen. Es ist Da'il. Gleich darauf wird der Raum in so gleißendes Licht getaucht, dass Faghira und Neriglissar die Augen schließen müssen. Ein ohrenbetäubendes, unmenschliches Brüllen erschallt, dass sogleich vom Lärm einer Explosion übertönt wird, auf den ein leises unangenehmes Fiepen folgt.
„Fort mit Euch! Beeilung!“, ruft eine tiefe Männerstimme hektisch und so laut, dass sie Faghira und Neriglissar trotz der Taubheit hören können, „Eilt Euch! Nicht nur töricht, sondern auch müßig sollte ich Euch schimpfen. Zügig in den Hof!“
Nur schemenhaft, ob des blendenden Lichtes sieht Neriglissar eine hohe, kräftige Gestallt, die über ihn gebeugt ist; eine sanfte Berührung und plötzlich fühlt er sich wieder kräftig genug, eigenständig aufzustehen.
Faghira und Neriglissar taumeln geblendet, taub und benommen der offenen Tür, ohne sich umzudrehen. Stolpernd und schwankend laufen sie den Weg entlang, den sie gekommen sind. Ohne anzuhalten, ohne sich umzublicken und erreichen den Innenhof in kürze, fast so als wenn sie den Weg auswendig kennen. Abgesehen von einem Gefühl der Benommenheit, sind ihre Sinne wieder klar.
Eine Gruppe Männer in calimitischer Tracht und mit gezückten Säbeln steht unsicher vor einem Lagerfeuer. Irritiert blicken sie sich gegenseitig an, als wenn sie nicht wüssten, wie ihnen geschieht.
„Zum Tor! Geschwind!“, brüllt der Mann, der das Wüstenmädchen und den Zerebromanten eben aus den Fänge des Dämons befreit hat. Ohne auf die Gefährten zu warten oder sich an den Calimiten zu stören rennt er auf das Tor zu, um wenige Meter davor stehen zu bleiben. In einer beiläufigen Bewegung schmeißt er seinen langen Eichenstab ins Gras. Er ist hoch gewachsen und wirkt trotz seines relativ hohen Alters sehr kräftig und gesund. Aus einer großen Platzwunde auf seiner Stirn sickert Blut, welches ihm über das faltige Gesicht in den grauen, ordentlichen Bart rinnt. Sein blauer, schlichter Mantel ist schweißdurchnässt und einigen Stellen versengt.
Der Mann murmelt leise Worte, in einer Sprache, die weder Nariglissar noch Faghira verstehen, und berührt die Torflügel mit seinen Händen. Nach einem kurzen Moment der Stille beginnen sich die steinernen Kletterpflanzen, die um das Tor geschlungen sind, zu bewegen. Der Mann tritt vom Tor zurück, streckt seine Arme vor seiner Brust aus und hält die Hände so, dass sich seine Handflächen einander zugewandt sind. Als er die Arme öffnet, bewegen sich auch beide Torflügel auseinander – langsam, zaghaft, aber beständig und in einer fließenden Bewegung – und geben den Blick auf ein grelles, warmes Licht frei. Die Bewegung wirkt routiniert und scheint ihn keine Kraft zu kosten.
„Eilt Euch! Durch das Tor! Ich musste die antimagische Barriere auflösen, um Euch zu retten. Der Däm...“ Ein gewaltiger Krach, der vom obersten Geschoss des Burgfrieds kommt, unterbricht den Mann, weswegen es ihm nicht gelingt, seinen Satz zu vollenden.
Die Calimiten schreien auf und setzten sich in Bewegung, als teile der Außenwand des Gemäuers auf den Innenhof herabregnen. Jene, welche nicht schnell genug waren, werden unter den herabfallenden Brocken begraben.
Faghira und Neriglissar sehen nach oben und erblicken den Dämon, der nun entkräftet und nach Atem ringend in einem Loch in der Außenwand des Burgfrieds steht. Dunkles Blut sickert aus zahlreichen Wunden und aus dem Mund des Ungetüms, vermischt sich mit dem Eiter der unzähligen Pusteln und trieft als zäher Schleim auf den Boden des Innenhofes.
Wieder gibt er ein ohrenzerreißend, unmenschliches Brüllen von sich, dass selbst die Grundfesten der Burgruine zum erbeben bringt. Im selben Moment löst sich ein kleines, pelziges Etwas vom abscheulichen Dämonenleib, bewegt sich unnatürlich schnell die Mauer entlang und hüpft mit einem Satz in Faghiras Rucksack.
„Nun macht schon!“, ruft der alte Mann dem Zerebromanten und dem Wüstenmädchen zu, „Bei Millikki, ich hätte dem schon früher ein Ende setzten sollen.“
Noch ehe sich die beiden Gefährten rühren können, galoppiert mit ungeahnter Geschwindigkeit der Esel aus dem Burgfried heraus, saust an beiden vorbei und verschwindet im hellen Licht des offenstehenden Steintores.