Neriglissar schließt die Augen und konzentriert sich auf die psionische Energie, die diesen Ort durchfließt. Vor seinem geistigen Auge manifestieren sich schemenhafte Bilder aus der Vergangenheit und ein starkes Gefühl von Freude und Ehre durchdringt ihn.
Die Bilder werden immer klarer und der Zerebromant findet sich an der selben Stelle wieder, an der er zuvor schon stand. Alles wirkt gleich, aber irgendwie anders, unwirklich. Die Farben wirken matt und gleichzeitig unnatürlich satt, das Licht der Sonne, die vom Osten her aufsteigt, ist matt und fahl und trotzdem ist alles in gleißendes Licht getaucht, dass es Neriglissar fast blendet.
Hinter sich kann er Stimmen vernehmen; oder ist es nur eine Stimme? Die Stimme, die in seinem Kopf unendlich oft wiederzuhallen scheint, sagt Worte in einer Sprache, die der Zerebromant nicht versteht. Wie durch Watte dringt jeder Laut in seine Ohren und ist doch klarer, als alles, was er je gehört hat.
Er dreht sich um. Seine Bewegungen sind langsam, so als wenn er im Wasser stehen würde und das Bild, welche er in seinem Kopf sieht, zieht mit einer kleinen Verzögerung, bei jeder Bewegung, die er mit seinen Augen macht, nach.
Im Kreis um das steinerne Tor am Brunnen steht eine Gruppe von Menschen mit langen, schlichten Kutten, die wenig Zeremonielles, als viel mehr Zweckmäßiges an sich haben; ihre Gesichter können unter den lange Kapuzen, die sie tief vors Gesicht gezogen haben, nicht erkannt werden. Ein kleiner Junge – gerade einmal dem Kindesalter entwachsen – steht direkt vor dem Tor und wiederholt die Worte, welche die hochgewachsene Gestalt mit einem langen Eichenstab rezitiert hat. Die Hände des Jungen berühren beide Torflügel. Nach einem kurzen Moment der Stille beginnen sich die steinernen Kletterpflanzen, die um das Tor geschlungen sind, zu bewegen. Der Junge tritt vom Tor zurück, streckt seine Arme vor seiner Brust aus und hält die Hände so, dass sich seine Handflächen einander zugewandt sind. Als er die Arme öffnet, bewegen sich auch beide Torflügel auseinander – langsam, zaghaft, aber beständig und in einer fließenden Bewegung – und geben den Blick auf ein grelles, warmes Licht frei. Die Geste scheint den Jungen große Kraft zu kosten, als wenn er die massiven Torbögen mit bloßer Körperkraft öffnen müsste.
Neriglissar fühlt die Erleichterung des Jungen und den Stolz der Gruppe, als der Junge wieder die Arme senkt. Er ist sich sogar sicher, dass er auch ohne den magischen Spruch diese Gefühle gespürt hätte, wäre er anwesend gewesen. Ohne lange zu zögern tritt der Junge durch das Tor, dass sich augenblicklich hinter ihm schließt und binnen weniger Herzschläge wieder wirkt, als wäre nichts geschehen.
Einige Zeit geschieht nichts, doch so unvermittelt, wie das Tor sich geschlossen hat, öffnet es sich wieder und der Junge tritt hindurch. Er trägt eine lange, moosgrüne Kutte und wirkt, obwohl sich an seiner Erscheinung nichts geändert hat, um viele Jahre reifer und erfahrener. Der ohnehin starke Gefühl des Stolzes erreicht seinen Höhepunkt, als der hochgewachsene Mann mit dem Eichenstab seine Kapuze abstreift, vor ihm auf die Knie fällt und ihm mit einer ehrerbietenden Geste den langen Eichenstab entgegenreicht. Der Rest der Anwesenden machen es dem grauhaarigen Mann nach und der Junge nimmt den Stab in einer feierlichen Geste entgegen. Den schlicht wirkenden Eichenstab hoch erhoben spricht er einige Worte in der Fremden Sprache, legt ihn vor sich auf den Boden und kniet sich wie die Anderen hin, während er leise etwas murmelt.
Die Vision verschwimmt und wird immer undeutlicher. Anfangs noch langsam, dann ruckartig verschmelzen die Vision und die Realität miteinander und der Zerebromant findet sich an der Seite von Faghira wieder. Wie viel Zeit verstrichen ist, weiß er nicht, doch mittlerweile ist es so dunkel, dass ein Mensch ohne Licht kaum etwas sehen kann.