Erst am Abend...
Bis dahin könnte noch so viel geschehen. Die kleinen Grünen teilen ihren Tag merkwürdig ein, als verfügten sie über jede Muße, die man sich nur wünschen kann. So etwas gab es daheim nicht. Man musste bestenfalls warten, wenn man den Beischlaf störte oder Krankheit um sich griff.
Hymir versteht nicht so recht, was die Schamanen dieser Welt damit bezwecken. Die Krieger üben und das Weibsvolk geht geschäftig seinen Arbeiten nach. Weshalb wollen sie unbedingt allein mit dem kleinen Alf sprechen? Dadurch verlieren sie Zeit, in der sie wie der alte Mimir die Geister und Götter anrufen könnten.
Thrym hat immer gesagt, im Krieg sei alles Zeitverschwendung, was nicht entweder dem Schutz der eigenen Leute oder dem Tod möglichst vieler Gegner diene. Selbst die Alfen und Valkyren tat er mit einem Achselzucken ab. Ihm zufolge ist das Schicksal bereits gesponnen; wann ein Krieger stirbt, steht bereits bei seiner Geburt fest. Bis dahin kann er nur versuchen, so viel Ruhm wie möglich zu erlangen, auf dass er in der Speerhaale schmausen möge.
Wer weiß, was das für Hymir bedeutet. Er jedenfalls nicht. Weder versteht er das Land noch die Sitten seiner Einwohner. Er ist deshalb glücklich, zahlreiche Übereinstimmungen entdeckt zu haben. So fremd die Welt hinter der Welt auch sein mag, sie ist seiner glitzernden Heimat gar nicht so unähnlich. Wäre es nicht so unerträglich heiß, ließe es sich glatt als angenehm bezeichnen.
Ob die Götter im Eis wohl irgendwo in den Ländern seiner Ahnen zu finden ist, ganz weit draußen, jenseits von Mökkurkalfis Rücken? Dort war er noch nie. Eigentlich ist das seine erste wirkliche Reise. Zuvor durfte er bestenfalls an längeren Jagden teilnehmen. Selbst für seinen Stamm ist alles auf der anderen Seite des Gebirges viel zu weit entfernt, um sich Gedanken darüber zu machen. Eigentlich ist es unmöglich, dass die Gottfreunde dorthin gelangt sind.
Andererseits ist es im Wald viel zu heiß für Eis. Es gibt überhaupt keinen Sinn, was der Pelzige da erzählt hat. Vielleicht ist sein Geist aber auch nur zu träge. Bestimmt muss er nur besser zuhören, um die Worte zu verstehen. Er hätte dem alten Mimir mehr Aufmerksamkeit schenken sollen, als er ihn die Fernzunge lehrte.
Sich stumm scheltend überlegt Hymir, wie er sich die Wartezeit versüßen könnte. Der Grüne mag anscheinend keine Herausforderungen, also bleiben ihm wenig Alternativen. Nach einer Weile beginnt er, die Wolken zu zählen. Er versucht sogar, besondere Muster oder Runen darin zu erkennen, was sogar ganz gut klappt.
Seine Mutter hat immer gesagt, im Himmel sei die Zukunft geschrieben, besonders wenn die Sterne schienen. Sie konnte darin ganze Geschichten lesen, die sie ihm vor dem zu Bett gehen erzählte. Sie erinnerte ihn daran, wie wichtig es sei, dass er zu einem großen Krieger heranwüchse, war die Welt doch ein finsterer, unseliger Ort. Genau als solchen hat ihn der Thain bezeichnet.
Erneut im Stolz vergessen und mit den Gedanken einmal mehr ganz woanders fährt er erschrocken hoch, als die vielfarbigen Flammen aus dem Zelt hervorbrechen. Für einen Moment erwartet er Surtur selbst hinter den Tierhäuten. Der stattdessen heraustretende Alf vervollkommnet sein Staunen. Offenbar ist auch er zaubermächtig, ebenso ein Gehängter und vielleicht sogar so weise wie Mimir selbst!
Ungläubig blickt er dem Grünen hinterher, dann fragend zum Ork. Kurzentschlossen leckt er sich die Lippen, umfasst sein Amulett, holt noch einmal tief Luft und schickt sich an, das Zelt zu betreten. Wie ein junges Rentier scheuend prallt er zurück, als die Plane angehoben wird und eine Ansammlung weiser Männer offenbart, alle behangen mit wunderlichen Zauberzeichen und Pelzen wilder Bestien.
Beeindruckt lässt sich Hymir wieder nieder. Obwohl sein Geschlecht keine Furcht kennt und die Windläufer ein starker Stamm sind, ist er zugegebenermaßen etwas eingeschüchtert, so von den Grünlingen umringt zu werden. In ihren Augen liegt Weisheit. Wind und Zeit haben Furchen in ihr Anlitz gegraben und Arbeit hat ihre Hände schwielig werden lassen. Ihre Haut ist gebräunt von der Sonne, die in ihrem lodernen Wagen über den Himmel gezogen wird.
Das sind allesamt große Zauberer, ganz bestimmt. Wie soll er solchen Leuten Auskunft geben? Vor Mimir hat er sich auch nie wirklich getraut das Wort zu erheben. Und den kennt er zumindest!
Dementsprechend nervös ringt er nach Worten, bevor er stockend zu sprechen beginnt:
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