Fabulon verabschiedete sich schließlich von Kevrin und überlegte, ob er an dem Ritual im Tempelinneren teilnehmen sollte. Viel Sinn hätte es ja nicht, außer dass ihm vielleicht dort irgendeiner der Priester sagen konnte, ob seine Schwester hier gewesen war oder nicht. Letztlich hatte er jetzt aber erst einmal andere Probleme. Weil es die einzige Gaststätte war, die er kannte, ging er zurück zum Gasthaus "Zur Lindwurm-Schildwache" und ließ sich dort ein Zimmer geben, das klein, aber beschaulich war und nicht allzu viel kostete. Kurz bevor es dunkel wurde, brach er erneut auf und fand sich im Innenhof des Tempels wieder ein, wo sich mittlerweile zahlreiche Zuschauer versammelt hatten. Es mussten sicher fünfmal soviele sein wie am Nachmittag, als er das erste Mal hier gewesen war. Auch die drei Männer waren mit dabei, die Fabulon oberflächlich einige Stunden zuvor kennen gelernt hatte. Doch die interessierten ihn herzlich wenig. Stattdessen stellte er sich etwas abseits und beobachtete gespannt, was passieren würde.
Shan Thar zeigte Verdan, Arion und Dorgen sein Quartier, das er sich mit Kevrin teilte. Es war recht klein, nur mit zwei Betten, Schränken und Schreibtischen bestückt. In den Regalen standen kleinere Fläschchen und Phiolen, doch sie warfen nur einen flüchtigen Blick darauf, denn Kevrin, der sich eben von dem Elfen verabschiedete hatte, wollte gerne seinen Studien nachgehen und brauchte dafür Ruhe. Es war jedoch anzunehmen, dass die Tränke für Verwundete oder Menschen gedacht waren, die den Segen der Priester benötigten. Shan Thar zeigte ihnen schließlich auch noch den Aufgang zum Wehrgang und redete allgemein recht viel, aber eher über belanglose Dinge, die kein Interesse bei den Dreien zu erwecken vermochten. Wenigstens wirkte er keineswegs so, wie Tunaster ihn beschrieben hatte. Auch fand sich sonst kein Grund, der irgendwie Verdacht hätte auslösen können. Ob der alte Mann doch einfach nur durchgedreht war? Es wurde dunkel und der Tag ging in die Nacht über. Der Innenhof füllte sich und die ankommenden Besucher verteilten sich im Kreis um die beiden Staturen in der Mitte des Hofes, also taten es die Drei ihnen gleich. Aus dem Augenwinkel sahen sie auch, dass der Elf anscheinend zurück gekehrt war.
Aber wen interessierte schon die Ankunft eines Elfen, wenn man so eine Zeremonie genießen konnte, wie sie im Folgenden stattfand? Nach einer Weile, als der Abend schon voran gerückt war und die Besucher langsam unruhig wurden, öffnete sich die kleine Holztür im Osten. Stille trat sofort ein und ein Gang wurde frei gemacht, damit Shan Thar und Kevrin zu den beiden Staturen gelangen konnten. Shan Thar nickte allen Besuchern freundlich zu, hielt sich dann aber im Hintergrund der Geschehnisse, während Kevrin sich unter die ausgestreckten Arme der beiden Staturen stellte. Es sah einen Moment lang so aus, als würde er etwas sagen wollen, doch stattdessen wurden seine Gesichtszüge nur sehr ruhig, er ging in sich und es war, als würden die restlichen Besucher vor Anspannung die Luft einsaugen. Dann offenbarte er seine Handflächen, auf denen ein kleines Stück Schaffell lag, das sich unter Einfluss einer leisen Monotonie aus Wörtern, die Kevrin sprach, von weiß zu silber verfärbte. Kevrin legte es bedächtig, ohne den Reigen seiner Worte abreißen zu lassen, auf seine rechte Hand, während er mit der linken begann, verschiedene Formen in die Luft zu zeichnen, die keinen richtigen Sinn zu ergeben schienen. "Oh Mama, guck mal!" rief ein Kind leise und zeigte auf das Schaffell, aus dem sich winzige, kleine, leuchtende Kügelchen lösten und in den Himmel hinauf stiegen, wohl darauf bedacht, genau zwischen den sich fast berührenden Fingerspitzen der Staturen hindurch zu fliegen. Ein Kügelchen nach dem Anderen erhob sich und wanderte in den Nachthimmel hinauf, wo es sich in einen Stern verwandelte. Als einige Dutzend hinauf geflogen waren, begannen sie herum zu schwirren, jagten sich gegenseitig über den nächtlichen Himmel und sorgten bei den Zuschauern für einiges Staunen. Nach einer Weile formten sie sich zu den verschiedenen Sternzeichen, eines nach dem Anderen tauchte auf und nun wurde auch offensichtlich, was Kevrin da für Zeichen in der Luft beschrieb. Als eine halbe Stunde vergangen war, wurden sieben der Sterne größer und formierten sich, während die restlichen Kleinen sich zu einem schimmernden Weg zusammen schlossen, der zwischen den sieben Großen hindurch führte. Kevrin ließ die Hand sinken, das Schaffell war zu einem winzigen Rest weißer Wolle zusammen geschrumpft, doch das Zeichen blieb noch ein wenig am Himmel bestehen, bis die Sterne schließlich erloschen und sich stattdessen die wahren nächtlichen Begleiter zeigten und der helle Mondschein den Innenhof ausleuchtete, so dass Fackeln an diesem Abend unnötig waren.
Kevrin wirkte ein wenig erschöpft. An seine Seite trat Shan Thar und meinte leise, um die Atmosphäre nicht zu zerstören: "Wir danken euch sehr für euer Kommen und hoffen, dass es euch gefallen hat. Falls ja, dann hinterlasst uns doch einen kleinen Tribut, nachdem ihr an den Altaren unserer Herrin gebetet habt. Heute Nacht werden eure Gebete einen schnellen Weg zu ihr finden." Die Menge raunte, ein paar begaben sich zu den Altaren, andere verließen, begeistert von der Zeremonie erzählend, den Innenhof. Kevrin zog sich zurück, doch Shan Thar blieb noch eine Weile und nickte zwei Wachen zu, die am Eingang standen und bereit waren die Tore des Innenhofes für den Rest der Nacht zu schließen. Dennoch verbreitete er keine Unruhe, sondern ließ alle Besucher gewähren.