Ansuz lehnt tief atmend an der Tunnelwand. Sein Herz schlägt langsam und regelmäßig, gewissenhaft seine Pflicht erfüllend. Schweiß wird von seinem eng anliegenden, unangenehm weichen Gambeson aufgesogen. Verspannungen beherrschen seinen Nacken, und wahrscheinlich wird er am nächsten Morgen fürchterlichen Muskelkater in den Beinen spüren. Seine Kehle ist trocken, fast staubig, als habe sie nie die nasse Kühle einer Quelle gekostet.
In seinem Schädel herrscht brodelndes Chaos, nicht unähnlich den verzehrenden Flammen des Donnerbergs. Die Gedanken steigen aus der Tiefe empor, zerbirsten und speien ungestüm ihr Inneres heraus, bevor sie wieder in der glühenden Masse verschwinden. Er vermag kaum noch klar zu denken, so rasant prasseln neue Eindrücke und deren Konsequenzen auf ihn ein.
Ächzend lädt er den Rucksack von seinen Schultern. Dumpf prallt er auf den Boden und wirbelt eine große, sich langsam verflüchtigende Staubwolke auf. Wer weiß, wie lang niemand diese Katakomben betrat.
Über ihr Alter mutmaßend nimmt er einige Schluck aus seinem schicksalsergeben erschlafften Trinkschlauch. Sie versickern sofort in seiner Kehle, sodass nur ein vages Wohlgefühl verbleibt. Kurzerhand schüttet er alles in sich hinein.
Rülpsend verstaut er seine Habe wieder und senkt seufzend den Kopf. Noch kann er nicht einschätzen, wie ihn der Tod der Grünhaut beeinflussen wird. Einerseits ist ihr Verlust tragisch, bedeutet er doch den Verlust unersetzlichen Wissens. Andererseits verhielt sie sich rätselhaft und verschwörerisch, auf keinen Fall vertrauenswürdig. Das Schlimmste aber ist, dass seine Schande ungesühnt bleibt. Es gilt, anstelle ihrer ihren Mörder zu fällen, auf dass er an ihrer Statt zahlen möge.
Ja, das ist ein gutes Ziel. Auf irgendetwas muss er ja hinarbeiten. Kopflos herumzuirren und nach Heilung für Hragle zu suchen ist schier töricht, bestenfalls Zeitverschwendung und schlimmstenfalls Verrat.
So viel ist geschehen seit seinem Fortgang von Isvar Atli, seiner Heimat und Geburtsstätte seiner Väter. Es war geschunden und befleckt, aber standhaft, als er es verließ. Die Schinder konnten die Linien der Verteidiger nicht brechen, weder durch Sklavenhorden noch Krankheiten oder übles Zauberwerk. Ihre Stimmen flüsterten in den Köpfen der Klanskrieger, aber ihr Wille war stärker. Sie verteidigten ihre Heimat über Monate hinweg, bis die Toten die Invasionsschächte völlig verstopft hatten.
Ob die Silberbärte sicher angekommen sind? Isvar Atli hat neue Bewohner dringend nötig. Jedes Paar Hände wird gebraucht. Vieles muss wieder aufgebaut werden, manches ist unwiderbringlich verloren. Die Pilzplantagen und Zuchtbecken müssen wieder instand gesetzt, die Quellen gereinigt, die Stützsäulen erneuert und Schienennetze teilweise neu verlegt werden.
Mit Wehmut erinnert er sich an die Klanshalle der Grollbärte mit dem prasselnden Herdfeuer, den prächtigen Seidenbannern und den kunstfertigen Reliefs zurück, an die langen Kolumnen der Gedenkhalle, deren gesamte Form die Geschichte Isvar Atlis nacherzählt; an die geschwärzten Ambosse in den Tiefen Isvar Vrakkas, ewig umzüngelt von den Flammen des Vulkans, und an den Schrein des Großen Geistes, geformt aus einem einzigen Block reinsten Obsidians.
So großartig und zahlreich die Wunder seiner Heimat, so groß ist sein Verlangen nach ihnen. Er musste außerhalb des Gipfels mitanhören, wie der Ollam der Silberbärte vom Fall der verehrten Hallen von Dol Alarun berichtete. Das Leid der Zwerge stand ihnen ins Gesicht geschrieben, eingegraben von der Heimtücke der Menschlinge, die sogar einen Pakt mit den Schindern begrüßen. Auch ihre Augen haben zu viel gesehen.
Nur wenig später traf er auf ein weiteres Zeugnis des Wahns, der offenbar in der Welt vorherrscht. Er war gezwungen, seine eigenen Brüder, andere Kinder der Berge, wie Vieh abzuschlachten. Er watete regelrecht in ihren Leichen. Doch anstatt ihnen Ehrerbietung zu zollen und sie standesgemäß beizusetzen, ließ er sich von seinem eigenen Leid überwältigen. Seine Klage überstimmte die Mahnungen der Ahnen.
Dann ging alles so schnell, dass keine Zeit mehr für die Toten blieb. Es galt, den Lebenden zu helfen.
Nun ist das Dorf verlassen und die Zwerge verwesende Kadaver, faulend in der Mittagshitze. Möge man sich ihrer erinnern! Der Schinder wird es gewiss tun, wenn Grombil seine aufgedunsene Fratze spaltet!
Grimmig ausspuckend lässt Ansuz das Vergangene Revue passieren, ungeachtet seiner Begleiter und ihres ausbleibenden Vorankommens. Zu viel ist zu verdauen, so etwa die erste Begegnung mit Rhonin und dem Menschling, der sich wie erwartet als etwas anderes erwies. Die Grünhaut eröffnete ihm ganz neue Welten des Misstrauens, als sie so freimütig von Gestaltwandel, Infiltration und lebenden Bäumen sprach.
Was danach geschah, belässt er lieber unbedacht. Es gibt Erfahrungen, die ein Krieger niemals machen sollte, will er sich jemals wieder selber ernstnehmen.
Ohnehin sinnvoller, den Bemühungen des Elfen zu folgen, so richtungslos sie auch sein mögen. Immerhin tut er etwas, anstatt in Vergangenem zu rühren. Kurzentschlossen stößt er sich von der Wand ab. Die niedrige Decke verspricht Sicherheit und ein Gefühl der Vertrautheit. Unter der Erde ist ihm Erfolg gewiss.
Trotz seines Widerwillens ob Rhonins Zauberei nähert er sich, zückt schweigend Grombil und sieht zu dem Menschling hinüber. Hoffentlich kommt dieser bald zu Verstand, da alle weiteren Bemühungen sonst recht fruchtlos ausgehen könnten. Sie scheinen wahrhaftig auf ihn angewiesen.
”Hoffe, hilft!”, brummt er, holt aus und lässt die adamantene Schneide auf das Lichtfeld herabfahren.