Es bedarf lediglich eines Winks, um etliche Blicke zu ernten. Cyparus sieht sich geradezu umschwärmt von Locatha, ein nicht unbedingt angenehmes Gefühl. Alle wollen ihn berühren, vor allem seine Verletzungen. Dementsprechend schmerzhaft fallen ihre Zuneigungsbekundungen aus. Von ihren Worten versteht er kein einziges.
Sie greifen ihn wortwörtlich unter die Arme, umschlingen seine Waden und tragen ihn in einer seltsamen, stetig größer werdenden Prozession in die Höh. Leider kann er die spektakuläre Aussicht hinter den grünen Leibern kaum genießen. Überall strahlt ihn das Bordeauxrot ihrer Flossen an.
Sie intonieren einen vibrierenden, seltsam getragen klingenden Gesang. Ihre Peripherie umzirkelt ihn in einem perfekten Unterwasserballet. Manche ändern rhythmisch die Farbe ihrer Flossen, um dem akkustischen Erlebnis ein visuelles beizusteuern. Ein jeder scheint seinen Platz in diesem Ritus, dessen Mittelpunkt der Phieraner ist, zu kennen.
Vor ihnen schälen sich die Fassaden der Klippenbauten aus dem Blau. Es ist schwer, in der Menge Genaueres auszumachen. Als haben sie seine Gedanken gelesen, schwärmen die Locatha auseinander, um ihm Platz zu machen.
Der Anblick ist überwältigend. In den Heimatlanden sind prächtige Tempel ebenso wohl bekannt wie wändelange Fresken, vergoldete Säulen, übermannshohe Marmorstatuen und meisterlich bemalte Decken, doch nirgends gibt es Glyphen, die in der Größe eines der legendären Titanen in den Fels geschlagen wurden.
Jede Einzelne ist höher als drei aufeinander gestapelte Schiffe, breiter als zwei Aaorqh Lan hintereinander und gebildet aus hunderten, vielleicht tausenden kleinerer Zeichen, die in ihrer Gesamtheit ein ganzes Epos erzählen. Bedauerlicherweise kann Cyparus zwar der Schönheit der sanft ineinander gewundenen Linien Respekt zollen, doch nicht ihre Botschaft verstehen. Schon die Sprache bereitet Oberflächlern Probleme, wie sollen sie also unterseeische Symbolik verstehen?
Die Fischmenschen deuten auf eine der gewaltigen Glyphen, ihrem Bewuchs an pflanzlichem Leben zufolge die Älteste. Da ihm nichts anderes übrigbleibt
[1], schwimmt er auf sie zu. So nah an den Klippen ist die Brandung heftig. Er sieht sie unter der Wasseroberfläche, also ironischerweise über ihm, wie eine gottgesandte Gewitterfront heranrollen. Das Spiel aus Licht und Schatten ist spektakulär.
Es bereitet einige Mühe, sich in ihrem Wogen zu dem Eingang vorzukämpfen, aber letztendlich treibt ihn der Schwung einer Welle hinein. Niemand folgt ihm. Er ist allein in der Dunkelheit. Seine Hände ertasten kalten Stein und eine dicke Schicht Moos, die sich in kleinen Inseln angesiedelt hat. Voraus lockt ein schwacher Lichtschein, der mit jedem Schwimmzug näher rückt. Er vernimmt einen ätherischen Klang, der an den Gesang des Vorabends erinnert.
Als er schließlich aus dem Tunnel in den See taucht, versteht er den Namen der Halle.
Dutzende Stalagmiten ragen wie knapp unter der Krone gebrochene Baumstämme aus dem Wasser, jeder durchlöchert wie tvjodalesker Bergkäse. Manche sind so hoch, dass sie mit Stalaktiten an der Decke verschmelzen und fragile Säulen bilden.
In der Mitte des Felsendoms schwebt etwas, das am ehesten einer Wolke gleicht. Sie bewegt sich unruhig, als wäre sie ein lebendiges Wesen. Vermutlich ist sie Ursprung des Windes, der sich die Wasseroberfläche kräuseln und die Stalagmiten singen lässt.
Im Licht der blauen Kristalle, die Wände und Decke in breiten Adern bedecken, erscheinen die steinernen Nadeln wie ein Chor, der sich zum gemeinschaftlichen Gesang zusammengefunden hat. Die auf ihn zu schwimmenden Locatha sind nichts weiter als Zuschauer einer seit Jahrhunderten bestehenden Aufführung, genau wie er.