Eyre, im Jahre 999 nach Gründung des Königreichs, am ersten Zol des Monats
Sharn, Stadt der Türme, Breland
Dichter Nebel umspielt die mächtigen Türme Sharns in den Morgenstunden dieses noch jungen Tages. Noch kann die Sonne, die an klareren Tagen über das Heft und die Sturmsee strahlt, nur erahnt werden, und doch herrscht auf den Brücken und Plateaus der Stadt beständiges, wenn auch nicht reges Treiben. Die ersten Luftschiffe kreuzen ihren Weg, was oder wen auch immer sie auf ihrem Weg transportieren mögen. Am Hafen hatte die Arbeit freilich bereits vor Stunden ihren Anfang, um unzählige Güter zu verladen und Schiffe abreisefertig zu machen. Sicherlich würde zu späterer Stunde, wie an den vergangenen Tagen auch, der Nebel einem strahlenden Frühlingstag weichen…auch wenn dieser nicht in allen Vierteln der Stadt gleichsam wahrgenommen werden wird. So prachtvoll die Viertel der Stadt sein mögen, welche den Ruf der Stadt als Nabel Khorvaires und Juwel Brelands rechtfertigen, so tief sind auch die Abgründe, welche die Türme der Stadt bergen.
Für Neugierige (Anzeigen)Nichts von dem morgendlichen Treiben der Stadt der Türme bekommt hingegen Sir Fedo d’Medani mit, welcher sich zu dieser Zeit immer noch in seinem Arbeitszimmer in der Enklave seines Hauses im Stadtteil Drachentürme aufhält. Eine lange Nacht voller widersprüchlicher Mitteilungen, Entscheidungsschwierigkeiten und Diskussionen liegt hinter ihm, und noch sieht er kein Ende. Stöhnend reibt er sich seine rot unterlaufenen Augen und blickt auf den Banner, der seinem Schreibtisch gegenüber hängt. Basilisk…wie ich dich an manchen Tagen ver…
Sein Gedankengang wird unterbrochen durch ein lautes Pochen an der Eichentür seines Büros, wie es in der Nacht schon so oft vorkam. „Tretet ein!“, antwortet er, halb hustend, halb rufend. Eine edel gekleidete Halbelfin betritt mit einer ähnlichen Mine wie die Fedos das Zimmer. „Wir haben Nachricht“, gibt sie kurz kund.
„Und? Spannt mich nicht auf die Folter, die Nacht war lange genug!“, sagt er missmutig. „Wenn ich mir Eure Augen anschaue, sollte man meinen, Euch erging es genauso!“, fügt er schmunzelnd hinzu, als er seinen genervten Ton bemerkt.
„Das Kompliment gebe ich gerne zurück“, erwidert die Frau trocken, wobei auch ihr ein kleines Lächeln entfleucht. „Zur Sache: Wroat will Hamwyn abziehen, und hierbei handelt es sich um die endgültige Entscheidung. Es gibt dieses Mal keine Chance eines Einspruchs. Er hat noch wenige Tage da oben, dann muss er das Feld für den Nachwuchs räumen.“
Erneut vergräbt Fedo seine Augen hinter seinen Fingern, bevor er schließlich antwortet. „Dann hat er es wohl übertrieben“, sagt er resigniert. „Sind sie weiterhin überzeugt, dass er langsam…überfordert ist mit seiner Aufgabe?“
Kurz blickt die Frau auf die Wand, bevor sie Fedo fest anschaut. „Ich wüsste nicht, woran man hierbei überfordert sein könnte, aber ja, allem Anschein nach ist er es. Er verliert die Kontrolle. Er ist ein Repräsentant unseres Hauses, und das gilt es zu bedenken. Kümmert Euch nicht weiter darum, sondern nehmt es hin.“
Fedo nickt wortlos, um seine Zustimmung zu erteilen. Nach langen weiteren Sekunden antwortet er: „Also gut. Wen wollen sie als Ersatz?“
„Shesara“, sagt die Frau emotionslos.
„Shesara?“, fragt der Halbelf ungläubig. „Sie hat…nicht gerade die Erfahrung, die man -“
Schnell erhebt Fedos Gegenüber die Hand. „Es ist entschieden. Sie soll aus ihrem Goldenen Käfig ausbrechen und endlich beweisen, was sie Wert ist. Sie war zu lange hier in der Enklave, fernab von Realität. Bei Aureon, Sharn hat die Realität nie gesehen!“
Fedo atmet tief aus, bevor er weitere Worte herunterschluckt. „Soll sie…alleine gehen?“
„Nein. Sie bekommt einen Assistenten. Einen Menschen, der in Wroat bereits einige Aufträge für das Haus erledigt hat und sich sowohl als überaus zuverlässig als auch fähig erwiesen hat. Sein Name ist Korig.“
Schwere Stille herrscht in dem Arbeitsraum, und es scheint, als würde die skeptische Mine Fedos mit der herrischen Ausstrahlung der Frau einen Kampf austragen. „Ich lasse sie rufen“, stimmt er den ihm unterbreiteten Vorschlägen schließlich zu.
Keine Stunde später am selben Morgen im Drachenturmdistrikt, Sharn, Breland
Für Shesara d’Medani hat der Tag erst vor wenigen Stunden begonnen, als sie zum ersten Mal ihr Appartment im Drachenturmdistrikt verlassen hat, um im nahe gelegenen Tempel der Göttlichen Heerschar ihre tägliche Gebetszeremonie durchzuführen. Dort kennt man sie natürlich, die Priesterin des Hauses Medani, gesegnet mit der Gnade der Göttlichen Neun, und Trägerin des Mals der Erkenntnis. Hinzu kommt, dass Shesara mit ihrer Schönheit sowohl im Haus, als ach als Priesterin durchaus aufzufallen vermag.
Auf ihrem Rückweg schleicht sich immer noch leichter Nebel zwischen den Türmen der Stadt umher, und doch kann Shesara schon jetzt mit Gewissheit sagen, dass es noch ein schöner Tag werden würde. Kurz nachdem sie wieder in ihrem Heim angekommen ist, werden ihre Vorbereitungen für den Tag durch ein kräftiges Klopfen an ihrer Tür unterbrochen. Als sie öffnet, begrüßt sie ein ihr flüchtig bekannter Halbelf, der, wie sie zu wissen glaubt, ebenfalls im Haus angestellt ist. „Lady Shesara d’Medani?“, fragt er höflich. „Ich habe eine Nachricht für Euch. Sir Fedo d’Medani erwartet Euch in seinem Arbeitszimmer. Es geht um eine dienstliche Unterredung.“ Der Halbelf steht vor ihr, als würde er von ihr eine Reaktion erwarten, macht zugleich aber keine weiteren Anstalten, seinem Gesagten etwas hinzuzufügen.
Am Abend des gleichen Tages in der Schänke zum Gelben Hippogriff, Wroat, Breland
Seit seiner Ankunft in Wroat vor einigen Jahren zählte der Gelbe Hippogriff zu den liebsten Tavernen Korigs. Es hatte alles, was sich Korig von einem solchen Etablissement erwünschen konnte: Gutes Bier, passables Essen, erschwingliche Preise, anschauliche Mägde. Zudem genoss er in der Anfangszeit die zahlreichen Möglichkeiten, berufliche Kontakte zu knüpfen, die die Taverne hergab. Es tummelten sich zahlreiche Reisende, Geschäftsleute, Händler, aber auch weniger seriöse Gestalten wie dubiose Spitzel und andere Auftraggeber im Hippogriff.
Seinen jüngsten Auftrag hat Korig bereits vor einigen Tagen erfüllt, und so bleibt ihm heute Abend nicht viel übrig, als sich in der Schänke Ablenkung zu suchen. Auch an diesem Abend tummelt sich ein bunt gemischtes Publikum im Hippogriff, von dem man meistens nicht sagen kann, was genau es hierher verschlagen haben mag.
Nach einer geraumen Zeit setzt sich, wie immer fast lautlos, eine magere Gestalt neben Korig an den Tresen. Es handelt sich dabei um einen mageren Elfen mittleren Alters, nicht auffallend gekleidet, fast auffallend unauffallend, und Korig erkennt ihn direkt als den Mann, der ihm seinen ersten Auftrag bei Haus Medani verschafft hatte. Ohne großartige Begrüßung sagt er: „Du wirst erwartet.“ Dann greift er sich einen Krug Gebrautes von der Theke, lässt eine Münze aus seinem Ärmel fallen und verschwindet zwischen den anderen Gästen der Taverne.