Irritiert betrachtet Treodaph das schwebende Rohr. Mit ausgestrecktem Finger zeigt er auf die Öffnung, durch die Gar gefallen ist. "Das Blitzen war nicht normal. Das muss ich später nochmal untersuchen, wenn mehr Zeit ist."
Dann wendet er sich an Mystral. Dabei setzt er sich im Schneidersitz auf den Boden, legt seinen Rucksack neben sich ab, und macht es sich gemütlich. Der Shakaian wirkt fast wie ein Großvater, der seinen Enkeln eine Geschichte erzählen möchte.
"Für viele hunderttausend Jahre", beginnt er seine Erzählung, "herrschte das Götterpaar Taraia und Tirios in ihrem Reich im Elysium. Sie waren gnadenvolle Götter, die stets nur das Beste für ihre Anhänger im Sinn hatten, und sie waren Geliebte. Taraia war eine Göttin der Liebe, der Wahrhaftigkeit und der Selbstlosigkeit. Tirios hingegen war ein Gott der Kunst, der Kreativität und der Perfektion. Sie brachten Glückseligkeit auf viele Welten, und die Seelen der Sterblichen, die nach dem Tod in ihre Reiche kamen, lebten in einem wahrhaftigen Paradies."
Ganz leicht bewegten sich die Ohren Treodaphs auf und ab, während er sprach. Seine Augen wanderten dabei von einem zum anderen, und seine Stimme hatte einen Klang angenommen, die es fast unmöglich machte, ihm nicht zuzuhören.
"Eines Tages aber begegnete Tirios dem Geisterfürsten Larokk. Einer der Fürsten der Neun Höllen plante einen Krieg gegen Tirios, und der elysische Gott schmiedete einen Pakt mit Larokk, um durch eine schlaue Intrige den Krieg abzuwenden. Alles geschah zum Schutz von Tirios' Anhängern, und tatsächlich gelang es, den Höllenfürsten in einen anderen Krieg zu verzetteln, so dass der Angriff auf Tirios gestoppt werden musste. Was der Elysier nicht wusste..."
Der Shakaian machte eine dramatische Pause. "Larokk war kein einfacher Geisterfürst. Er war eine Maske, eine Illusion, hinter der sich in Wahrheit der Fürst der Neunten verbarg, der Herrscher der Hölle, der Eine Dunkle. Und die ganze Situation war nur ein Vorwand gewesen, damit der Dunkle Fürst in Gestalt von Larokk dem elysischen Gott Dinge einflüstern konnte."
"Tirios war ein Gott der Perfektion, und Larokk hatte es geschafft, dem sanftmütigen Tirios einzureden, dass Perfektion über allem stehen musste - sogar über Mitgefühl, Gnade, und Liebe. Taraia tat ihr Bestes, um Tirios wieder zur Besinnung zu bringen, doch Larokks Einflüsterungen waren zu mächtig. Der Künstlergott stellte die Perfektion über Kunst und Kreativität, und gerade dadurch zerfiel sein Reich. Im Laufe vieler Jahrtausende setzte ein schleichender Verfall ein, bis das gesamte Reich des Gott aus dem Elysium gerissen wurde. Tirios verstricke sich nun selbst in Kriege, nahm schließlich sogar am Blutkrieg zwischen Dämonen und Teufeln teil, und so fiel sein Reich hinab in die Ebene Acheron."
Der Shakaian machte erneut eine kurze Pause. "Taraia hatte bis zuletzt um ihren Geliebten gekämpft, doch als der Riss nach Acheron in den Ebenen entstand, entschloss sie sich, die Seelen so vieler Anhänger des Tirios zu retten, wie sie konnte. Sie raubte ihm einen Teil seiner Göttlichkeit, und nahm jene seiner Anhänger zu sich, die nach den alten Werten suchten. Danach verschwand sie mit ihrem Reich, und niemand weiß, was aus ihr geworden ist."
"Tirios jedoch blieb als Halbgott und Kriegsherr auf Acheron, und verwandelte die letzten seiner Getreuen in dämonische Seelendiebe, die jedem, ob Sterblicher oder Unsterblicher, das Göttliche Licht rauben konnten. Viele Jahrzehntausende herrschte er so in Acheron, verbreitete Angst und Schrecken, während er im Grunde die ganze Zeit über verzweifelt danach strebte, die Leere in seinem Herzen zu füllen, die alte Perfektion aus Kunst und Kreativität zurückzuerlangen. Er schaffte es nie, denn vor rund zehntausend Jahren wurde er von einem Dämonenfürsten erschlagen. Sein Reich, bekannt als die Gärten der Perfektion, zerfiel, und die Essenz seiner Seelendiebe verging mit ihm. Die Bruchstücke seines Reiches sind die Steinernen Gärten, die nun überall in Thuldanin verstreut sind."
Mit einem Mal stand er wieder auf, griff seinen Rucksack und sprach nun mit seiner gewohnt sachlichen Stimme weiter. "Tirios ist tot, doch seine Essenz ist nicht völlig vergangen. Und nun versucht ein sterblicher Magier, Chezradin, seine Essenz an sich zu reißen, um selbst zum Gott zu werden. Es ist ihm bereits gelungen, einige Seelendiebe neu zu erschaffen. Allerdings konnte Chezradin seinen eigenen göttlichen Funken noch nicht entzünden, was ihn vermutlich schier zur Verzweiflung treibt, deshalb hat er einen, sagen wir, geeigneten Spender gesucht."
Nun sah er direkt zu Elenya. "Einen Sterblichen, der, gefangen im Pandemonium, in einem Moment unendlicher Verzweiflung, das Schicksal überwand, seinen eigenen göttlichen Funken entzündete, und zu einem Mischwesen wurde, halb Sterblicher, halb Geistwesen. Er glaubte selbst fest daran, dass er der oberste Seraphim des Lichts war - ein Wesen übrigens, dass es in der Form noch gar nicht gab. Und da die Position gewissermaßen offen war, sein Glaube ausreichte und vermutlich die Schicksalskräfte günstig standen, hat er sich selbst in einen Unsterblichen verwandelt, gefangen im Körper eines Sterblichen."
"Dieser Mann ist der Luminus, von dem ihr gesprochen habt, und den Chezradin nun gefangen hat, um seine Essenz für sich selbst zu rauben, jedoch nur als, sagen wir, Zündfunke, der verbrennen wird, wenn Chezradin die Essenz des Tirios in sich aufnimmt, um eine Schreckensherrschaft zu errichten, wie sie das Multiversum vermutlich seit Äonen nicht gesehen hat."