Früher Morgen des 5.Flamerule 1373TZ 05:04:00 Baldurs Tor – Zimmer der Taverne „Zum Schiffsbruch“
„Ihr blutigen Arschlöcher! IHR VERDAMMTEN BLUTIGEN ARSCHLÖCHER!“. Es hämmerte irgendwo auf dem Flur. Zweimal. Dann Ruhe. Vielleicht vier oder fünf Atemzüge später fing es wieder an, dann ein Krachen als wäre eine Tür aus den Angeln geflogen. „AAAARRRRRRGGGHHH!“ Ein Schmerzensschrei gefolgt von einem plumpen Aufprall als wäre ein nasser Sack umgefallen. Ihr seid wach.
Tamanar war schnell durch die Nacht entschwunden und war der Priesterin begegnet, welche ihn für ein Kind gehalten hatte. Die Wortfolge war eine kurze, das Gespräch nicht sonderlich erträglich und die Priesterin scheinbar keine geweihte Klerikerin in dem Sinne, wie der Halbling eine solche Beschäftigung verstan. Zudem war sie nicht sonderlich empfänglich für solche Begriffe wie die «Hände des Missgeschicks» und dergleichen, doch es dauerte nur wenige Minute, da hatte sie die Sorge um den Tavernenwirt Rutherford, welcher einen beinahe fatalen Herzanfall erlitt, übermannt und sie machte sich nach der Zahlung einer kleinen und freundlichen Spende des Halblings sofort auf den Weg in den Schiffsbruch, um den Wirt weiter zu betreuen. Ein wahrhaft guter Zug, denn nachdem Gramir dem Wirt die Schlüssel für die Zimmer abnehmen konnte, waren alle seine Gefährten auf die nur leidlich wetterfesten Zimmer geflohen und hatten sich, nachdem sie das Bett an eine trockene Stelle geschoben hatten, dem wohlverdienten Schlaf hingegeben. Als die Ilmaterpriesterin den Saal betrat, waren Gramirs Augen schon zugefallen, sodass er nach ihrem Wecken nur noch schlaftrunken nach oben torkelte. Ihr Name war nur noch Schall und Rauch, der erlösende Schlaf nahe. So waren fast alle in den Schlaf geglitten.
Nur Tamanar streifte noch durch die Nacht, angefeuert von den Ereignissen und auf der Suche nach Informationen. Wertvollen Informationen. Eben solche, welche über die Richtigkeit von Leben und Tod entscheiden konnten und welche vielleicht auch die Seite, auf welcher man in die Schlacht zog, bestimmten. Tamanar war nur leidlich zufrieden mit den einseitigen Ausführungen des Verrückten gewesen, welcher sich Geist nannte. Und eben, die Gelehrten mögen über diesen Wortwitz lachen, der Geist des Schattenfuß war nicht mürbe genug gewesen, um diesen Auftrag einfach nur ruhen zu lassen und dann selbst zu ruhen, bis man am nächsten Morgen gegen Tyrannosjünger kämpfte oder sogar Kinder schächtete oder ähnliches. Vielleicht war es der Halbling, der in diesen Momenten das Richtige tat. Ob dem nun so war oder nicht, er spürte eine zweite Luft, welche die Müdigkeit und die Nässe aus seinem Körper trieb. Und endlich hörte auch das Wetter auf Kapriolen zu schlagen, gerade als er den Eingang zum Tempel der Tymora erreichte. Die Halle der Lady war ein sagenhafter Ort und Tamanar kannte ihn bereits, doch es war keine Zeit für Schönheit und Kunst. So durchstreifte er den Tempel zielsicher und wurde sich schnell gewahr, dass nichts mehr so war, wie er es kannte. Graue Stofffetzen teilten den Tempel auf und verdeckte jedwede Kunst. Keuchen und Husten begleitete Tamanar auf seinem Weg. Kranke und vielleicht sogar Sterbende, vor Hunger oder vor Krankheit, lagen in diesem Tempel. Schönheit war dem Verfall gewichen.
Doch nach einer Weile fand Tamanar seinen alten Freund. Rupert Seyleen war immer ein Ausgeburt an Leben gewesen. Sechs Fuß groß und sehr schwer, ein Mann purer Lebensfreunde und großer Lust an Speis und Trunk. In Tamanars Erinnerung hatte er stets langes schwarzes und sehr lockiges Haar getragen, und einen sehr fein gestutzten Backenbart. Doch nun waren seine blaue Augen leer und fast gebrochen, seine Haare waren geschoren und nur noch wenige Millimeter lang, ihre Farbe war nur noch aschefarben und sein Bart war seit Wochen nicht getrimmt wurden, die drahtigen Barthaaren standen struppig ab. Er hatte zudem bestimmt das Gewicht eines ausgewachsenen Halblings verloren, der Bauch hing trotzdem schlimmer über den Gürtel als früher, denn es waren auch Muskeln gegangen. Tamanar und er unterhielten sich fast eine dreiviertel Stunde und der aufgeweckte Halbling schaffte es sogar dem erschöpften Rupert ein Lächeln abzuringen und vor allem kam er an wichtige Informationen.
„Der Geist, mein alter Freund, ist doch schon lange tot. 1361 wurde dieser, wohl bekannt als Nachtmaske und Assassine, von einem Deneirpriester erschlagen und sein berüchtigtes Artefakt zerstört. Vielleicht ist es ein Doppelgänger oder Imitator.“ Hatte eine der zentralen Botschatfen des Tymorapriesters gehießen. „Aber dieser Tage...“, er ließ den Rest ausgesprochen, die Botschaft war klar.
„Baniten? Selten mal ein Zent. Spione, wie immer. Nichts bewegendes. Die Flammenden Fäuste haben sie in der Vergangenheit gejagt. Die Nähe zur Kerzenburg zieht sie wohl manchmal an. Dort ist es wohl auch ruhig.“ Über die Anwesenheit der Tyrannosjünger war nicht viel bekannt, aber Aufschluss über den Jungen konnte Rupert auch nicht geben, jedoch die Situation wusste er einzuschätzen.
„Es darf eigentlich nicht wahr sein. Irgendwas behindert die Zaubermacht der göttlichen Zauberwirker. Nahrung lässt sich kaum von Fäule reinigen, das Wasser geht als einziges kaum zu neige, ist aber auch nicht sauber. Und dann hat der Gondtempel geschlossen, denn dort ist die Cholera ausgebrochen. Panik geht um, Tamanar. Seh lieber zu, dass du diesen Ort wieder verlässt.“
Doch auch eine letzte wichtige Information hatte der erschöpfte Kleriker für den Halbling. „Aber vielleicht weiß Phein Des mehr. Ist irgend’ne Stadtwache. Soll früher ziemlich tief im Orkdung gesteckt haben.“ Rupert liebte noch immer diesen Ausdruck, um die schattige Seite des Gesetzes zu beschrieben, wie in den alten Tagen. „Der weiß mehr über die Zents. War früher auch einer vom schwarzen Netzwerk.“
Ihre Wege trennten sich danach, aber die Hiobsbotschaften verfolgten Tamanar weiterhin. So hörte er noch Priester tuscheln, dass inzwischen der zehnte Ilmaterpriester verschwunden sei und es gäbe nur noch vierzig. Man habe Sorge um die Männer und Frauen, welche des Nachts die Schreine hüteten und die Armen fütterten, die Kranken versorgten und die Sterbenden begleiteten. So brach Tamanar wieder in die Nacht auf.
Phein Des war ein merkwürdiger Kauz gewesen. Ein Halbling, wie Tamanar auch, doch hatte er scheinbar keine Körperbehaarung bis auf eine dunkle Locke, welche zweifach gezwirbelt auf seiner Stirn lag und die er immer auffallend in die Höhe pustete. Das Gespräch mit ihm war...befremdlich, zumal er Tamanar mit Blicken auszuziehen schien. Seine grünen Augen musterten Tamanar immer wieder eindeutig. Seine schlechten Zähne lächelten mal verschüchtert, mal auffordernd. Diese Situation war befremdlich und Phein etwas zu aufdringlich, die Avancen unübersehbar. Und er stank nach billigem Fusel, wahrscheinlich Korn oder ein ähnlicher Schnaps. Jedoch hatte er auch ein paar sinnvolle Informationen, welche Tamanar 25 Goldmünzen kosteten.
„Süßer!“ Der Hauch von Phein wirkte ekelerregend. Zum Glück trug er eine ausreichend verbergende Lederrüstung. Mit seinem Kurzspeer und dem kleinen Holzschild wirkte er nicht wirklich wehrhaft, aber das mochte täuschen. Die Dunkelheit und das schwache Fackellicht waren ein Segen. Nur wenn das Licht günstig fiel, sah Tamanar Pheins pockennarbiges Gesicht. „Süßer. Ich sag dir was. Für so ein Schnuckelchen, wie du es bist, mach ich es auch für wenig Gold.“ Er entließ ein sehr damenhaftes und hohes Lachen und wedelte mit seiner Hand, so sehr freute er sich über seine Doppeldeutigkeit und ob seines Verhaltens, welches einer luskanischen Dirne glich.
„Spaß beseite. Ist nur einer. Redmond heißt er. Übler Wicht.“ Phein schlug die Rückhand der Hand vor seine Stirn, um seine Bestürzung zu zeigen. „Ein Banit. Sucht wohl Kinder, hab ich gehört. Hat hohes Fieber, find ich. Andauernd, wirklich andauernd, Süßer, redet er von diesem Messiaskind. Schlimm, oder?“ Diesmal rotzte er undamenhaft auf den Pflasterstein vor sich und zog die Nase hoch. „Sucht `ne ganze Weile schon nach diesem Kind. Sagt immer, dass es noch gebor’n wer’n muss. So’n Müll. Naja. Umgibt sich immer mit Söldnern, mindestens vier von denen.“
Er rotzte nochmal auf den Boden. „Und das Schlimmste, er soll Ilmaterpriester entführen. Weil die sich um die Weisen kümmern, will er sie wohl auspressen. Keiner weiß, wo die sind. Vielleicht schon tot. Passiert. Momentan vermisst die eh keiner so sehr, dass er sein Leben noch weiter riskiert als das Leben hier von einem verlangt, obgleich es natürlich ärgerlich ist. Frei fressen und so.“ Dann schaute er Tamanar das erste Mal mit ernstem Blick an und leckte sich über die Lippen. „Und wenn du jetzt mehr Information haben willst, müssen wir anders verhandeln, Süßer.“
Tamanar verließ den Torplatz und machte sich auf den Heimweg in die Taverne. Es war inzwischen schon um die dreiundzwanzigste Stunde des Tages. Aber der Halbling kam heil in der Taverne an und fand dort die Ilmaterpriesterin vor, welche den schlafenden Rutherford bewachte, welcher in einem improvisierten Bett schlief. Müde, aber pflichtbewusst, kümmerte die Priesterin sich um den kranken Wirt und händigte Tamanar noch den letzten Schlüssel aus, ehe dieser wie ein Stein ins Bett und in eine traumlose Nacht fiel.
Traumlos war der Schlaf aller Abenteurer im Schiffswrack und erschreckend kurz. War das, was eben vor der Tür zu hören war real? Jetzt schien es ruhig. Für einen Moment vielleicht nur, aber ruhig. Jeder von euch hatte tatsächlich eine einzelne Kammer bekommen. Erst jetzt im klammen Morgenlicht, die Sonne fing gerade an zu steigen, wurden die Details des Zimmers sichtbar. Ein räudiges Bett, mehr Möblierung gab es nicht mehr. Alles andere war aus dem Haus getragen. Schon vor Tagen oder Wochen für Nahrung verkauft. Manche Stellen fielen auf, an denen das Holz eine hellere Farbe hatte. Bilder hatten hier gehangen. Vielleicht sogar Teppiche gelegen. Jedweder geringer Luxus war vergangen. Durch die Hagel war das Dach weiter beschädigt wurden. Tröpfchen fielen auf den Boden neben eure Betten. Die Zimmer, nicht größer als sieben Fuß x sieben Fuß. Immerhin konnte man die Fensterläden schließen, sodass es nicht zu stark zog. Jetzt fiel schwaches Licht durch sie rein. Immerhin regnete es nicht, es schien sogar so, als würde die Sonne scheinen. Nichtsdestotrotz überfiel die Abenteurer ein kalter Schauer. Als würde ein sechster Sinn sie warnen.