Endlich hatte der Regen aufgehört und schnell sind die Wachen abgesprochen. Die Gefährten sind zu abgekämpft und müde, um die Zelte aufzubauen. Sie raufen einige breite Blätter, mit denen sie den matschigen Boden bedenken und spannen die Zeltplanen als Regenschütz zwischen die Bäume. Die erste Wache, Rahajan und Galbar, verstreicht, ohne dass etwas nennenswertes geschieht. In der Nacht werden Sidkar und Ling geweckt, die die zweite Wache übernehmen.
Lange sitzen die beiden schweigend am Feuer. Sidkar bearbeitet mit seinem Beil einen dicken Ast, doch wahrscheinlich mehr, um sich zu beschäftigen, als aus praktischen Gründen. Ling nutzt die Zeit, um ihm schwachen Licht des Feuers einige Schriftzeichen zu übertragen. Sidkar fragt ihn nicht nach der Bedeutung der Zeichen. Ling fragt sich, ob es ihn tatsächlich nicht interessieren mag. Doch während er seiner Beschäftigung nachgeht, denkt er die ganze Zeit über den verdrillten Mann nach. Er war die ganze Reise über so zielstrebig, so automatisch, so... unnahbar. Ich kann mich an keinen Moment erinnern, in dem er mehr sprach, als notwendig. Und dann, gestern abend und heute morgen beim Frühstück, da offenbarte er eine wahrhaftig menschliche, ja, vielleicht in seinen Augen verletzliche Seite. Ich möchte gerne den Moment nutzen und mehr über ihn erfahren.
Aus dem Nichts sagt er: "Ich habe ein wenig meine Gedanken sortiert, Sidkar. Als ich Euch in Salericsenseis Laden kennenlernte, dachte ich, dass Ihr Soldat gewesen sein müsst. Ich kenne das Verhalten und die militärische Haltung von den Kriegsversehrten, die nach ihrem Dienst Zuflucht und Sicherheit in unseren Klosterhallen suchten. Manche konnten dieses Gebaren nie wieder ablegen und ihre Erlebnisse suchten sie noch Jahre später heim. Aber Ihr seid mehr als ein Soldat gewesen. Ihr habt nicht gezögert, die Gruppe anzuführen, Ihr müsst es gewohnt sein. Dass ihr Euch durchaus gewählt ausdrücken könnt und wie Ihr mir im Holzfällerlager die Funktion von Schrecken für den Aufbau einer Herrschaftsordnung erklärt habt, zeigt mir, dass Ihr eine gute Ausbildung am Hof genossen habt. Vielleicht wart Ihr Hauptmann. Aber ebenfalls in Salericsenseis Laden habt Ihr gezeigt, dass es Euch schwer fällt, den Euch Anvertrauten zu vertrauen. Ihr glaubt nur an die Loyalität, die Ihr direkt beobachten könnt. Was ist passiert, Sidkar? Was hat Euch so enttäuscht, dass Ihr das Militär verlassen habt? Sind Eure Soldaten desertiert?" Die letzte Frage ist nur eine reine Vermutung, doch er äußert sie, denn er glaubt, dass Sidkar das Gespräch sonst schnell abbrechen wird. Eine Selbstoffenbarung ist kein guter Weg ein Gespräch zu beginnen. Er sitzt ruhig da und wartet auf die Antwort des Anführers. Vielleicht wird er verärgert sein, dass ich ihn darauf angesprochen habe. Vielleicht wird es ihn aber auch lösen.
Sidkar blickt Ling mürrisch an, als dieser ihn auf seine Vergangenheit anspricht. Seine Beobachtungen mögen nicht ganz falsch sein, aber sie sind auch nicht ganz richtig. Sidkar nimmt etwas vom Dschungelboden auf und zerreibt ihn zwischen seinen Fingern. "Was fällt ihm ein? Seine verdammte Hoffnung auf Vertrauen geht mir bald noch mehr an die Nieren als die Gefahr durch die Echsenwesen." Sidkar sieht es im Moment noch gar nicht ein, überhaupt in die Richtung des Sarloniers zu schauen und blickt lediglich mit starrem Blick in das Feuer vor ihm, er will Zeit zwischen Frage und mögliche Antwort kommen lassen. Eigentlich will er ganz schweigen.
Ling sieht Sidkar geduldig an, doch er fordert keine Antwort von ihm. Wenn Sidkar nicht innerhalb der nächsten Minute antwortet, dann widme ich mich wieder meiner Aufgabe und wir können so tun, als wäre nichts geschehen. Und ich werde ihn auch nicht weiter belästigen, doch immerhin weiß er, dass ich an ihm interessiert bin.
Der Klageländer beginnt mit den Zähnen zu mahlen, seine Kiefer machten das sichtbar. Wieso bin ich so interessant für ihn?, kommt dem ehemaligen Soldaten plötzlich eine ganz andere Frage in den Kopf, verdrängt die Gedanken an die Vergangenheit, die sich gerade in ihm ausbreiten wollten und eine Auseinandersetzung mit dem Geschehenen provozieren wollten. Sein Interesse kann unmöglich nur darin liegen, dass er Vertrauen erwartet und schüren will. Eskariots Blick fällt jetzt auf seinen ungewöhnlichen Gefährten, aber mahlt weiter mit den Zähnen, die Augen blicken starr an die Stirn Lings, als würde der Klageländer sich mit seinen Augen in die Gedanken des Sarloniers bohren wollen. Seine Stimme klingt nicht schwermütig, nicht herrisch, aber auch nicht neutral. Sidkar bringt wieder eine gewisse, aber kaum anklagende Schärfe, in seine Worte.
"Obgleich euer Geist eigentlich aufgeweckt ist, lässt auch er sich schnell täuschen." Sidkar lässt diese Aussage einen Moment stehen, da sie auf vieles bezogen sein könnte, aber sie ist mitnichten auf die Vermutungen Lings bezogen, was für eine Person Sidkar sei. Bevor Ling zu seiner Antwort setzen kann, führt Sidkar dann weiter aus, die Schärfe wandelt sich, schwächt sich ab, sodass es fast schon etwas bemitleidend klingt.
"Ihr beachtet jene, welche sich schön geben oder eine laute Klappe haben. Doch das Verrat und mangelndes Vertrauen oftmals in den ruhigen und stillen, sich vorbeizwängenden Personen ruht, beachtet ihr nicht. Sonst hättet ihr den heuchlerischen Drachenmal-Träger," mit dem Zeigefinger deutet Sidkar weit in den Dschungel, etwa in die Richtung, in der der Elf umgekommen war, " ausgefragt und euren Fokus sofort auf ihn gelegt."
Er spricht wahr, ich habe vor allem diejenigen beachtet, die sich auffällig gaben. Es war aber auch nicht meine Absicht, einen Heuchler - wie er ihn nennt - zu entlarven, sondern einen Kontakt zu ihnen aufzubauen., denkt sich Ling.
Sidkar verfällt wieder in Schweigen und blickt wieder in das Feuer, welches sich in seinen hellen Augen zu spiegeln scheint. Doch noch einer kurzen Bedenkpause spricht er weiter, die Schärfe ist ganz verschwunden. "Ja, es ist euch richtig aufgefallen, dass ich Soldat war." Sidkar greift wieder in den Boden und zerreibt wieder Dreck zwischen seinen Fingern und streicht mit seinen dreckigen Fingern fast beiläufig über sein Beil. "Aber meine Soldaten sind nicht desertiert, weil ich kein Hauptmann war. Nie war ich einer und wollte auch nie einer sein. Ich war einer von vielen Soldaten, ein kleines Rad in diesem kriegsgeschmiedeten Titan aus Fleisch und Blut."
Sidkar weiß nicht so recht, warum er jetzt davon erzählen will, zumindest einen Teil.
Wahrscheinlich ist es die Resignation. Ling würde er sonst nicht loswerden, bis er nicht zumindest einen Teil offenbart hat.
"Ich war in derselben Position, welche ich auch jetzt einnehme. Ich war ein Kundschafter."
Sidkar greift zu seinem Wasserschlauch und trinkt einen Schluck und lässt dann seinen Blick durch das Lager schweifen, um sie grob davon zu überzeugen, dass die anderen ruhen. Trotzdem spricht er leise, damit nur Ling ihn verstehen kann.
"Ich kann nicht zurückkehren, meine Heimat gibt es nicht mehr. Aber ich hatte meine Heimat verlassen, ehe mein Land der Zerstörung anheim fiel." Sidkar blickt Ling jetzt in die Augen und sein rechter Wangenmuskel zuckt unter der seelischen Anspannung, unter welcher der Kundschafter steht. "Ich habe mitnichten Soldaten verloren. Jene, welche desertierten, waren nie die Soldaten unter und neben mir, es waren die Herren über mir, welche jede Moral und jedwede Form der Gerechtigkeit schächteten, wie Opfervieh und uns normale Soldaten dafür seelisch bluten ließen. Deswegen bin ich gegangen."
Die Andeutung, dass er eine bessere Ausbildung erhalten haben könnte, lässt Sidkar beiseite, sein Kopf geht wieder in Richtung des Feuers und er nippt am Wasserschlauch.
"Mein Misstrauen ist an jene gerichtet, welche von hohem Stande sind oder sein könnten und erzogen sind, ein Teil dieser allesverschlingenden Bestie von Perversion und Macht zu sein."
Ling ließ Sidkar geduldig sprechen, bis er sich ganz sicher war, dass er nichts mehr sagen würde. "Ihr verwendet sehr drastische Worte, um mir Euer Leid während Eurer Militärzeit zu schildern. Ich würde lügen, wenn ich sagte, dass ich Euch verstehe oder gar weiß, wovon Ihr sprecht. Es ist nicht mein Erleben gewesen und darum habe ich keine Vorstellung davon. Durch Zufall oder Schicksal reise ich mit Euch und habe noch keine Geste des Vertrauens oder der Vertrautheit von Euch gesehen. Ich verlange kein Vertrauen von Euch, ich spreche mit Euch, weil ich Mit-Leiden", er spricht das Wort bewusst in seiner Zusammensetzung aus, "mit Euch habe. Ich glaube, dass Ihr Euch noch immer auf einem Schlachtfeld befindet - auf einem Schlachtfeld in Euch drinnen.", sagt er. Er ist sich aber unsicher, wie er fortfahren sollte. Ihm ist bewusst, dass er die Situation spannt, darum beschließt er, nun auf den Punkt zu kommen. "Ist Euer Dasein von Frieden erfüllt?", fragt er und versucht keineswegs suggestiv zu klingen, als erwarte er, dass Sidkar sie verneinen würde. Die Frage war voller naiver Unschuld, wie sie auch unerwartet war.