Zerah ist vorsichtig genug, um nicht bemerkt zu werden, nicht einmal vom schreckhaften Eidil, der hingebungsvoll an seinem Daumen zu lutschen begonnen hat. Ihre Schwester liegt unbehelligt und schlummernd in ihrer Koje. Kein Beobachter käme auf die Idee, über welche Mächte die zierliche Gestalt zu gebieten fähig ist. Dazu sieht sie bedeutend zu friedlich und unscheinbar aus, mehr eine hübsche Magd von irgendeinem Hof als gebieterische Beschwörerin.
Sie selbst würde wohl ebenso oft unterschätzt werden, gäbe es da nicht die Augen ihres Vaters, die sie geerbt hat. Kaum jemand kann ihrem finsteren Blick widerstehen, zumal er durch das Ausmaß ihrer Klinge eindrucksvoll unterstrichen wird.
Vorsichtig hebt sie die Luke an und späht heraus. Schon ihr erster Blick beweist, dass sie sich nicht geirrt hat: Kapitän Marcellus läuft unruhig auf dem Deck auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und den Kopf gesenkt. Wie besessen kaut er auf seiner Unterlippe herum. Fehlt nur noch, dass er zu schlottern beginnt wie ein verängstigtes Kind.
Seit ihrem Aufbruch hat Zerah den Mann nie derart aufgewühlt erlebt. Er wirkt, als habe er den Fliegenden Oranier gesehen. Einen ähnlichen Anblick bot ihr bisher höchstens der Rüpel, der in Moesas Hafen ihre Schwester auf rüpelhafte Weise zu becircen versuchte. Immer wieder sieht er zu den anderen Schiffen herüber, auf denen sich zu dieser Stunde nichts mehr regt.
Die Fieranerin kann sich unbemerkt aus der Luke ziehen und sie hinter sich schließen, ohne einen Laut zu verursachen. Schnell geht sie hinter ein paar Kisten und Seilen, die nah eines Masts abgestellt wurden, in Deckung.
Trotz der Stille des nächtlichen Ozeans hört Marcellus sie nicht. Dafür ist er viel zu sehr mit sich selbst und den Nöten beschäftigt.
Plötzlich wird es spürbar kälter. Für einen Moment hat Zerah das Gefühl, als zöge sich das Licht der Monde, das bis vor einem Moment das Deck illuminierte, vor etwas Unsichtbarem zurück. Die Dunkelheit bekommt fast greifbare Substanz. Irgendetwas liegt in der Luft, vergleichbar mit der Stimmung, die einen einsamen Wanderer im nächtlichen Wald überkommt.
Dann verdichtet sich der Schatten neben ihr und gebärt eine berobte Gestalt, die aus ihnen heraustritt wie aus einer gewöhnlichen Tür. Gleichzeitig ertönt ein flüsternder Chor, der in uralten, toten Sprachen zu klagen scheint. Er verschwindet ebenso schnell wie das Gefühl, fortgesogen zu werden in eine andere Existenzebene, hinterlässt aber eine tiefe Beklemmung.
Marcellus zuckt zusammen, geht auf die Knie und haucht ein ängstliches „Meister!“.
„Ich habe Euch erwartet!“
Der Vermummte gebietet mit einem herrischen Wink Ruhe. In der Geste liegt eine Autorität, wie sie nur jemand mit einem absoluten Gefühl der Unantastbarkeit entwickeln kann. Er strahlt eine unangenehme und doch seltsam faszinierende Präsenz aus, ähnlich den Meistermagiern von Fierna. Genau wie sie ist er des Zauberns mächtig, offenbar bis zu einem Grad, der ihm interplanare Reisen erlaubt. Sein Weg führte durch den Schatten.
Zerah weiß nicht viel über diese Ebene, aber ein jeder, der jemals mit einem Magus oder einer Lehrstätte in Kontakt kam, weiß von der dreizehntägigen Fluchnacht, die vor 800 Jahren die Welt in Dunkelheit versinken ließ. Ewige Nacht senkte sich über die Länder. Damals zerbrachen die Schranken der Dimensionen und der Schatten sickerte in die Existenzebene der Menschen. Seitdem wurde er zurückgedrängt, aber auch bereist und missbraucht. Inzwischen ist die Sciomantie, die Lehre der Schatten, fester Bestandteil des hermetischen Paradigmas.
Wer der Fremde auch sein mag, er bedient sich finsterer Magie, vor der ihre Schwester mehr als einmal gewarnt wurde. Das Gefühl, dass sie bei seiner Ankunft überkam, war Warnung genug. Es war beängstigend. Kein nordischer Winter ist derart kalt.
Marcellus scheint verängstigt. Er sieht nicht einmal in Zerahs Richtung, sondern fixiert mit gesenktem Haupt einige Bohlen vor sich. Der Fremde ragt hoch über ihm auf, an seiner Seite ein im Mondlicht schimmernder Degen. Sein Kopf ist von einer Art Gugel bedeckt, die sich an seinem Nacken teilt und auf die Brust hinabfällt. An seinem Gürtel hängen mehrere Ledertaschen, wahrscheinlich voll mit Ingredenzien für seine unseligen Zauber.
Er spricht ein einzelnes Wort, begleitet von einer knappen Geste. Dann schweigt er. So scheint es zunächst zumindest.
Marcellus` Lippen bewegen sich, ohne einen Laut zu entlassen. Zerah hört die Geräusche der See und des Schiffs deutlich, jedoch keinen Laut vom Kapitän oder seinem „Meister“
[1].
Einige Minuten vergehen, während die beiden ihr stummes Zwiegespräch führen. Die Kriegerin muss sich gedulden, will sie nichts verpassen
[2]. Der Berobte dreht sich irgendwann einfach um und läuft direkt auf den Schatten zu, aus dem er gekommen ist, geradewegs an Zerah vorbei.
Ihr Herz beginnt sofort wie wild zu pochen. Obwohl sie nicht das Dunkel unter seiner Kapuze zu durchdringen vermag, fühlt sie sich angestarrt. Soll sie still bleiben und auf die Ignoranz des Zauberers hoffen oder sich leichtfertig verraten?