Mit einem Lächeln lauschte Hong den Worten des alten Provinzherren von Cui Bao. Dessen Idealismus war bewundernswert. Der Glaube an die Wandlungsfähigkeit unübertroffen. Die Chancen standen gut, dass er der einzige bleiben wird, der den Weg aus dem Elfenbeinturm schaffte und seine Gedanken auch lebt. Doch zu viele der zehn Tage waren schon zerronnen. Der alte Provinzherr lebte Hong vor, dass man wieder alle Umstände einen Standpunkt vertreten kann, der anderen nicht zugänglich ist. Und was konnte er schon verlieren in den nächsten Tagen.
“Wieso sind wir hier?“fragte Hong und richtete sich auf. “Wieso sind wir nicht im Westen um die Barbaren abzuwehren, auf die Truppen aus Xiang zu warten? Wieso sind wir nicht im Palast und sind Teil der trauernden, Teil der Streitenden?“Er stand aufrecht und blickte jeden der Anwesenden an. “Wieso beteiligen wir uns am närrischen Spiel von Shazi? Schaut uns an Chuang Diyang. Was seht ihr?“Hong wartete einen Moment weniger als jemand zu einer Antwort ansetzen konnte. “Wir wissen es nicht. Doch wir können sehen und zuhören. Hier habt ihr Humanoide gefunden, die genau so verschieden sind wie die Menschen von Chuang. Ihr habt etwas einheitliches erwartet, dass ihr einordnen konntet, doch Chuang kann man nicht innert Augenblicken begreifen. Genau so wenig wie man die Spiele des Narren durchschauen kann. Sind wir hier unten denn nicht gleich, so wie das Reich gleich ist? Sind nicht die oberhalb dieser Marmormauern, an der Spitze des Reiches heterogen? Der Einigende ist nicht mehr da und der Zwist um die Nachfolge entlarvt die Unterschiede.“Hong verlässt den Stillstand und beginnt sich im Rhythmus des Kaisersohnes zu bewegen. “Wir erhalten hier viel besuch. Ist es nicht dies, was euch noch zusammenhält. Ihr habt oben die Gnadenfrist von zehn Tagen bis das Blutbad beginnt. Mit uns als Einleitung. Nachdem das Einigende endgültig getötet wurde, kann das gegenseitige Abschlachten beginnen. Vier Schwerter und kein Schild.“Widerholte Hong die Feststellung von Chuang Diyang. “Ein Besuch in diesen Marmormauern verändert General des Westens. Er verändert uns, weil wir die Gelegenheit haben zuzuhören und ungestört zu denken. Wir unterscheiden uns von unseren Besuchern, weil wir uns nicht am Speil um die Macht beteiligen müssen. Weil wir den Wunsch nicht haben. Weil wir die Krankheit des Zwists und der Ausbeutung nicht akzeptieren. Unsere Besucher verändern sich weil sie sich mit uns austauschen können. Sie lernen wie die Welt anders ist. Die Kaisersöhne erhalten die Gelegenheit der unverfälschten Weisheit Xu Danshis zu lauschen. Weisheiten die nicht Geiseln von Macht- und Moralansprüchen sind. Der Verwalter von Cui Bao hat immer noch das Ziel die Bäuche aller im Reich mit Nahrung zu füllen. Er säht nicht mehr auf den Feldern, er säht in den Köpfen. Er säht das Wissen wie das Reich in Zukunft blühen kann.“
Hong durchbricht den Rhythmus der Schritte von Chuang Diyang und folgt nun seinem eigenen. “Ihr seid der vierte Sohn der zu uns kommt. Der erste war da um uns zu zeigen, dass Shazi wünscht, dass wir von Bedeutung sind. Unbedeutende erhalten keine Audienz bei einem Kaisersohn, schon gar nicht in diesen Zeiten. Der zweite war da um uns zu zeigen, wie die Kultur Chuangs in den Köpfen verankert ist. Der dritte zeigte uns die Brutalität von draussen. Nun ist der vierte gekommen, der sieht an was das Reich krankt und der den Willen offenbart jedem zuzuhören, der die Korruption erkennt und verabscheut, der sich als Diener des Volkes sieht.“Hongs Schritte begannen einen Pfad entlang der Denunzianten zu folgen. “Wir hatten auch andere Besucher hier, die uns Dinge offenbahrten die oben vergessen sind oder ignoriert werden. Ihr habt die Überbevölkerung diskutiert und den Garten ins Spiel gebracht. Ihr habt gefragt, was ihr tun sollt. So gebe ich euch die Antworten der anderen Besucher und damit die Gelegenheit dem Reich zu helfen.“
Hong drehte sich auf den Fussspitzen um und lief einen Kreis in die entgegengesetzte Richtung. “Unter unseren Gästen fand sich ein Mann, der sich einschlich. Ich nehme an, es war der Tag des Skorpions und es war Nacht, denn ich schlief als er kam. Ohne das Licht der Sonne ist es jedoch schwierig zu sagen, welche Zeit es war. Er erzählte uns die Legende von Chuang, Xian und Qui, wie zwei Reiche gegründet wurden und wie Chuang den Himmel und den Garten für sich beanspruchte. Ebenso widerholte er die Prophezeiung vom Untergang.“Hong legte in die Rezitation der Prophezeiung eine stärkere intensität. “Chuang, dreiunddreißig deines Geschlechts mögen nach dir herrschen, doch hast du dann Feuer und Wasser nicht befriedet und ihnen nicht auf Dauer trotzen können und die Erde nicht wieder an deine Seite geholt, werde ich deiner Herrschaft ein Ende setzen. Dann soll keiner diesen Garten haben. Nimmermehr.“
Hong legte eine kurze Pause ein um die Worte wirken zu lassen. “Ihr werdet eure Ahnen besser kennen als ich. Vielleicht habt ihr diese Prophezeiung schon gelesen und wisst, wie viele Kaiser das Reich schon hatte. Wir können euch nicht sagen, wie ernst ihr die uns erzählte Geschichte nehmen müsst. Was ich kann, sind die Worte eines anderen Besuchers widerzugeben. Am Tag des Affen erhielten wir den Besuch einer Stimme. Nicht irgendeine Stimme. Sie war eindrücklich. Rollend, grollend, knirschend, alt und mächtig. Nach den eigenen Worten kam die Stimme von Tŭ. Ihr mögt Zweifel daran haben, da sich niemand daran erinnern kann mit Tŭ gesprochen zu haben, doch ihr wart nicht hier. Ihr habt nicht erlebt, was jeder von uns erlebt hat. Ihr habt euch verwundert, wieso Staub und Patina noch überall liegen, wieso noch niemand geflohen ist. Zumindest von mir kann ich sagen, dass ich noch hier bin, weil ich weiss, dass es Tŭ war und dass ich Erde helfen muss. Denn genau so wie Shazi, will Tŭ, dass wir von Bedeutung sind. Ihr fragt euch sicher, wie ein winziges Wesen auf zwei Beinen von für ein Gigant von Bedeutung sein kann. Was dies mit der Prophezeiung zu tun hat die ich erwähnte. Wo der Zusammenhang zum Garten und der Überbevölkerung besteht.“
Hong blickte den Kaisersohn direkt an. Gegen alle Etikette. Er fühlte sich als Sprachrohr von Erde und als solches kann er nicht den Blick vor einem sterblichen Wesen senken. “Wer sein Reich auf der Schönheit einer Pfirsichblüte errichtet, darf sich nicht wundern, dass sie eines Tages doch verwelken muss.“Rezitierte er einen Satz der Erde über den er in den letzten Nächten gebrütet hatte. Chuang hat das Feuer nicht befriedet, denn das Land brennt immer noch. Es ist dürr und verwüstet. Chuang hat die Erde nicht an seiner Seite, wie kann es da bestehen. Es muss die Erde an seine Seite holen. Deswegen hört jetzt genau zu. “[/b]Hong beendete das stete herumlaufen und stand still wie ein Berg, den Blick durchdringend auf den Kaisersohn gerichtet. “Das Grösste in Chuang ist nicht der Kaiser, nicht das Reich sondern der Garten. Und Chuang hält den Garten dem Reich, dem Volk, dem Land den Garten vor. Kein Wunder, dass das Reich blutet. Kein Wunder dass das Volk hungert. Kein Wunder, dass die Erde Zürnt. Der Kaiser war bis jetzt nicht bereit den Garten zu teilen. Da der Garten versteckt und nur einem statt allen zur Verfügung steht, konnte Feuer und Wasser nicht befriedet werden. Wenn Chuang Feuer und Wasser nicht befriedet, wenn er die Erde nicht an die Seite holt, dann wird Chuang untergehen. Dass dies begonnen hat, spüren wir alle. Der Kaiser ist tot und seine Söhne werden sich zerstreiten. Holt Erde an eure Seite und lasst uns in den Garten gehen. Den Garten zu dem machen, was er einst war. Zu einem Teil von Enwe. Dann kann Chuang wieder blühen. Der Kontinent kann blühen, so wie Cui Bao blüht. Die Bevölkerung braucht nicht zu hungern, weil auch sie Anteil haben können am Garten.“Hongs Augen begannen zu glänzen. Er streckte die offene Hand hin zu Chuang Diyang als symbolische Unterstreichung seinen Wunsches. “Gebt uns den Schlüssel zum Garten.“