Thassilo von Salsweiler
Der letzte Monat war hart, wirklich hart. Eigentlich hatte Thassilo gedacht, dass nach seiner Ausbildung an der Kriegerakademie zu Neersand das Exerzieren, der Waffendienst und das Lernen erst einmal vorbei wäre, doch da hatte er sich offenbar getäuscht.
Mit Freude hatte der junge Knappe die Nachricht, dass er seinen Pflichtdienst auf der Hauptburg des Widderordens in Niederwaals nahe Neersand ableisten durfte, aufgenommen. Da hatte er jedoch auch noch nicht gewusst, dass seine Ausbildung dort fortgeführt werden würde.
Auf Abenteuer im Überwaals hoffend hatte Thassilo sich vor genau einem Monat mit einigen Kameraden zusammen zur Hauptburg des Widderordens aufgemacht, um sich beim Ordensvorsteher zum Dienst zu melden. Die erste Enttäuschung gab es bereits, als Niederwaals in Sicht kam. Ein kleinen Fischerboot – eine Fähre gibt es nicht – hatte die jungen Männer und Frauen über den Walsach übergesetzt und samt Gepäck an einem kleinen Anleger am Rande eines ärmlichen Dorfes, welches kaum mehr als zweihundert Seelen zählen dürfte, ausgeladen. Nirgendwo weit und breit war eine Burg zu sehen. Dafür wurden die jungen Krieger von einer Frau erwartet, die einem Standbild gleich auf einem kräftigen Streitross saß und die kleine Schar vom Pferderücken herab in Augenschein nahm. Ritterin Tissa vom Widderorden war sie, eine herrische, kurz angebundene und scheinbar immer schlecht gelaunte Offizierin in ihren Vierzigern, die offenbar nichts lieber tat, als die jungen Männer und Frauen, welche ihr anvertraut wurden, mit harten Übungen zu schikanieren. Die Hauptburg erwies sich als ein großes aus Feldsteinen gemauertes Gebäude mit einem rechteckigen Innenhof, vor dessen Toreinfahrt eine Flagge mit dem Wappen des Widderordens - einem silvbergrauen Walbergwidder auf rotem Grund - wehte.
Noch am gleichen Tag fand sich Thassilo bei einer Exerzierstunde wieder, denn schließlich musste das neue Material begutachtet werden. Und so ging es an den folgenden Tagen und an den Tagen danach, einen ganzen Monat lang. Immer wieder erklärten die Ausbilder, dass ihre Ausbildung an der Kriegerakademie zwar wichtig gewesen sei aber schließlich nicht mehr als den Grundstein gelegt habe. Noch lange, das ließ vor allem Tissa die jungen Novizen wissen, seien aus ihnen keine Krieger geworden. Das Überwaals, so sagten die Geschichten, welche abends die Runde machten, sei ein sehr gefährlicher Ort. Monster gibt es dort, wie man sie sich in seinen schlimmsten Alpträumen noch nicht ausgemalt hätte. Doch das ist nicht alles. Nicht nur gegen die Kreaturen des Überwaals galt es sich zu verteidigen, sondern es galt auch die Flusspiraten auf dem Walsach in Schach zu halten. So sei der Widderorden, das betonten alle Ausbilder immer wieder, das einzige Licht der Zivilisation gegen die weltlichen und die überweltlichen Bedrohungen in dieser Gegend.
Genau einen Monat nach ihrer Ankunft war es nun soweit. Einen Monat lang hatten die Novizen, und damit auch Thassilo, das Gebäude nicht verlassen dürfen. Doch jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo jeder der jungen Novizen seinen Rang als Korporal verliehen bekam und einem der Offiziere für das nächste halbe Jahr als Adjutant zugeteilt werden würde. Es war Traditionen, dass die Ritter sich Ihren Adjutanten selbst aus suchten. Und so wusste Thassilo nicht, ob er lachen oder weinen sollte, als ausgerechnet Tissa sich ihn als rechte Hand aussuchte. Eine schlecht gelauntere Herrin konnte er sich wahrlich nicht vorstellen, andererseits war der Umstand, dass Tissa ihn ausgewählt hatte, durchaus als Kompliment zu verstehen: Wie Thassilo in Gerüchten erfuhr, hatte Tissa sich in den vergangenen Jahren nie einen der Rekruten ausgesucht, da keiner Ihren Ansprüchen genügt hatte.
Bereits am nächsten Morgen wies Ritterin Tissa ihrem neuen Adjutanten an, sich reisefertig zu machen. Sie habe einige Dinge in Neersand zu erledigen und Thassilo sollte sie begleiten.
„Ihr habt genau fünfzehn Minuten, um mit allem, was ihr braucht, abmarschbereit im Hof zu stehen. Wir sind bei Einbruch der Dunkelheit zurück. Marsch, marsch!“