7. Dezember 1863 - Am Morgen des Krieges? - 08:51 Uhr - Frau Borggrefes Haus, Unter Arrest
Die Soldaten dankten Alfred für seine Fürsorge und sagten ihm zu, für ihn die betreffenden Besorgungen und Vorbereitungen zu leisten, und auch Emil tat dies. Alfreds kleinen, chemischen Mittelchen erwiesen sich als Segen in diesem Moment für die unbedarfteren oder angeschlagenen Personen in seinem Dunstkreis. Alkoholbedingter Kopfschmerz, körperliche Gebrechen, gab es denn noch irgendwas, was die Chemie nicht zu heilen im imstande war? Diese Frage mochte man sich allen Ernstes stellen und man fand für gewöhnlich schnell Antworten. Zum einen waren dort geistige Schädigungen, welche noch nicht vollends geheilt werden konnte und die Chemie barg ihre eigenen Gefahren. Was heute noch ein Segen sein mochte, konnte grobe gesundheitliche Nachteile am nächsten Tag bringen, wenn man aus Versehen das falsche Präparat verabreichte oder man könnte die Chemie auch für furchtbare Dinge nutzen, für wahrlich furchtbare Dinge. Wissenschaft ließ sich von manchen mit Tugend in Zusammenhang bringen. Jeder wissenschaftlicher Erfolg konnte ein menschlichen Segen sein, wie eine weise genutzte Tugend ein Segen für einen oder mehrere Menschen war, doch beides konnte überstrapaziert, ausgebeutet und korrumpiert werden. Aus zu viel Tugend konnte Sünde oder Leid erwachsen und dasselbe galt für die Wissenschaft. Manche gingen soweit, dass sie Wissenschaft und Tugend für untrennbar hielten, während andere, wie Himly schon sagte, glaubten, dass die Wissenschaft frei davon sei
[1]. Es blieb eine schwierige Frage, die man alleine in Emils Augen zu lesen konnte, als er trotz ehrlicher Dankbarkeit mit viel Widerwillen die von Alfred gemixten Mittelchen zu sich nahm. Wie auch Alfred kam Emil aus einer Hause, in dem die Gefahr solcher Experimente deutlich gegenwärtiger war als in einem gewöhnlichen Kieler Durchschnittshaus. Die Faszination war groß, aber die Gefahr bekannt. Er schluckte beide Mittelchen schließlich runter, um gegen die restliche Schwäche und die Kälte anzukommen.
Emil richtete sich in seinem Bett auf, ließ die Decke jedoch trotz des Thermoregulators über den Beinen. Er blickte in seinen Schoß.
„Ich weiß es ehrlich nicht, Alfred. Ich…erinnere mich an die Schüsse auf die Solros. Auf einmal war dieses Schiff hinter uns. Wir dachten erst, es würde mit uns einlaufen, auch wenn es merkwürdig aussah. Mit Eisen verstärkt…nein, aus Eisen war es, und da war dieser Schotte an Bord, der verdammt viel darüber wusste. Er erzählte uns, was für ein Monstrum dieses Schiff war und wir hörten ihm gebannt zu. Es sei das erste komplett Schiffs aus Eisen der Dänen war, stark wie 700 Pferde und es schaffte angeblich mit diesem Motor bei jedem Wetter um die 11 Knoten[2]. Ja, er erklärte uns, dass es in Glasgow[3] gebaut wurde, und er deswegen kannte. Es trotz des Eisens drei Masten und starke Segel hatte, um Kraftstoff zu sparen und den Wind bei gutem Wind nutzen zu können. Er war gerade dabei, uns zu erklären, dass sie vier wahnsinnige 60-Pfund-Kanonen an Bord hatte. Er hatte uns von allen technischen Daten erzählt und so waren wir ins Gespräch gekommen. Ich erinnere sie noch alle. Länge: 57 Meter; Breiteste Stelle: elf Meter; Tiefgang: dreieinhalb Meter, die Dampfmaschine mit einer Leistung von 520 Kilowatt, die absolute Reichweite des Schiffes von 1150 nautischen Meilen bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 8 Knoten[4]. Ja, ich erinnere mich sogar noch an den Ingenieur, der dieses Schiffs entworfen haben soll. Cowper Phipps Coles[5]! Er war gerade dabei, von den Kanonen zu erzählen, als sie zündeten. Dann ging alles drunter und drüber. Ich spürte einen Schmerz, dann wurde alles rot um mich herum, dann schwarz. Und jetzt…jetzt sitze ich vor dir.“ Emil wirkte aufrichtig und schien insofern verzweifelt, dass er sich versuchte mit Gewalt an irgendetwas dazwischen zu erinnern. Alfred kannte dieses Verhalten seines Bruders zu gut. Wenn er unsicher war, warf sich sein Bruder in das einzige, was ihm neben der Familie geistige Sicherheit gab. Er klammerte sich an technische Daten und die Mathematik, da diese Dinge faktisch waren und Grundkonstanten des menschlichen Lebens war, gerade in der Mathematik. Ein definierter Zahlenbereich oder eine Zahl mochte in unterschiedlichen Kulturen und Sprachen unterschiedlich bezeichnet werden, aber das was hinter der Zahl 2 beispielsweise stand war eine alles durchdringende Wahrheit. Bezeichnungen, Wortklaubereien, Streit, nichts änderte etwas daran, dass eine 2 im Wesen eine 2 blieb, ganz anders als Begriffe wie Schuld, Unschuld oder alle Spielarten der Moral. Es gab Emil Sicherheit, auch wenn es nur ein schmaler Strohhalm in dieser Situation war
[6]. Emil schien nicht wirklich beruhigt.
Alfreds jüngerer Bruder hatte aufmerksam zugehört und als Alfred schließlich seine Ausführungen beendet hatte, die Emil mit einem Nicken oder einem schockierten Blick kommentierte, sackte er zusammen und ließ sich wieder ins Bett fallen. Wortlos rannen ein paar Tränen über seine Augen und bevor er etwas sagen konnte, klopfte es bereits an der Tür.
„Herr Nobel. Ihr Frühstück und die anderen Besorgungen.“ Röschmann überreichte Alfred die Besorgungen, welche er alle erledigen konnte, einschließlich des kleinen Traktates von Albert Hänel
[7]. Er lächelte freundlich mit seinem skelettartigen Kopf und bedankte sich noch einmal für das schmerzlindernde Mittelchen und betonte, wie hilfreich es an diesem Morgen gewesen sei. All das tat er in seiner typisch nuscheligen Sprache, eher er dann wieder seines Weges zog.
Gemeinsam frühstückten Emil und Alfred. Auf einem einfachen Holztablett lag eine Zeitung und Hänels Traktat in einer etwas verblätterten und sehr einfachen Druckausgabe. Darauf lagen zwei Teller und zwei Messer. Etwas Käse, der einen starken Geruch entfaltete
[8] und ein kleines Gläschen mit einer dunklen Geleemasse, welche marmeladenähnlich war. Auf dem Gläschen stand Fliederbeergelee
[9] in eine feinen Handschrift geschrieben darauf. Eine metallene Kanne mit einem dampfenden Saft fand sich auch darauf. Es roch ähnlich wie das Gelee. Dazu gab es relativ geschmackloses Graubrot. Jemand hatte sich dennoch Mühe mit dem Frühstück gemacht, denn ein starker Käse brauchte kein geschmackvolles, kräftiges Brot und das säuerliche, wenig süße Fliederbeergelee ergänzte den mild-würzigen Käse sehr gut. Das dampfende Getränk wärmte zusätzlich, auch wenn es Emil augenscheinlich ein wenig zu sauer war und er vom beistehenden Zuckerpott reichlich Gebrauch machte.
Die Stärkung kam Emil zu Gute und er nutzte die gefräßige Zeit des Schweigens, um sich Gedanken über das zu machen, was Alfred ihm offenbart hatte.
„Ich wurde erpresst…“, presste er schließlich peinlich berührt zwischen den Lippen hervor, dass Alfred es kaum hören konnte. Vorsichtig goss er sich vom warmen Fliederbeersaft ein und kippte wieder vier Löffel Zucker in das säuerliche Getränk.
„Sie kamen kurz vor unserem Aufbruch. Eine Französin, sie stellte sich als Erica Lavalle vor. Eine sehr anmutige Frau mit glänzend roten Haaren, vielleicht ein bisschen freizügig. Sie sprach fließend russisch und zeigte Interesse an einer Zusammenarbeit. Ich vereinbarte ein Treffen mit ihr. Ich…ging alleine. Vater hat immer dich für alles in Rat gezogen, aber nie mich. Ich wollte nur zeigen, dass ich nützlich sein kann, Alfred!“ Emil blickte Alfred mit traurigem Blick an.
„Ich habe euch nicht Bescheid gesagt und so ging ich alleine. Wir trafen uns in einem Haus nahe des Smolny-Klosters[10]. Sie sagte, dass sie einst dort gewesen wäre und sie gerne in der Nähe des Gewohnten bei Verhandlungen sein wollte. Ich hatte zugesagt. Das Gespräch…es war eine kleine, kalte Wohnung. Sie wirkte schmutzig und nur halbherzig bewohnt. Die Tapeten fielen langsam aufgrund der Feuchtigkeit herab, sie fühlte mich unwohl. Sie versuchte mich zu beruhigen, da ich mein Unwohlsein schwerlich verbergen konnte. Ich blieb, obwohl alles in mir schrie, diesen Ort zu verlassen.“Er hielt seine Nerven beisammen und trank einen weiteren Schluck.
„Sie hielt mich interessiert. Sie wusste viel von Technik und gab mir dadurch das Gefühl, dass ich der richtige Ansprechpartner sei. Sie wollte sich unsere Dienste sicher, und dass sie ein interessantes Projekt in Frankreich für uns hätte und dass sie interessante Daten von Giovanni Luppis[11] hätte, irgendwas über seine Torpedos[12]. Es interessierte mich brennend, ich blieb.
Und während wir Belanglosigkeiten austauschten und ich versuchte, das Eis zu brechen, überwältigten mich zwei Hünen. Ich weiß nicht, wie sie so an mich rankamen…Das Gespräch, es war nun ein anderes. Ein völlig anderes! Diese Erica, sie schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht und bedrohte mich. Sie schrie mich an, warum Alfred Nobel nicht erschienen sei, sondern nur ich, der nichts wert sei…“ Emil blickte wieder in seinen Schoß und wagte es nicht seinen Bruder anzuschauen. Augenscheinlich fühlte er sich sichtlich schwach.
„Dann meinte sie, dass sie dann wohl das „Beste“ daraus machen müssten. Sie drückten mir einen Vertrag in die Hand. Ich wusste nicht, was ich damit sollte. Sie sagten, dass ich ihn zu einem Mann bringen sollte, der in Schleswig residiere. Wenn ich das nicht täte…drohten sie Vater und dich zu töten, Alfred. Ich konnte nicht anders! Ich verbarg den Vertrag und versuchte mich normal zu benehmen. Ich wollte ihn hier nur nach Kiel bringen und dann sofort nach Schleswig aufbrechen. Der Adressat heißt Christian Julius de Meza[13], er würde den Vertrag in Empfang nehmen.“ Verzweiflung trat in die Augen des jungen Mannes.
„Wenn der Vertrag de Meza nicht erreicht…werden sie uns töten wollen, Alfred! Uns und Vater!“Jetzt weinte der junge Mann wieder.