7. Dezember 1863 - Am Morgen des Krieges? - 16:00 Uhr - Am Hafen
Die Entscheidung schien gefallen. Es gab Situationen, in denen ein weiteres Diskutieren nur das Unvermeidliche hinausschob oder in denen die Diskutanten sich im Kreis drehten, wie sich belauernde und doch feige Duellanten, die sich zu keiner Entscheidung getrauten. Mommsen erkannte, trotz seiner berühmtem, sturen, fast unumwerflichen Art, diesen Moment und mit einem Wedeln der Hand deutete er an, dass er gegen diesen Plan Alfreds nicht vorzubringen hatte und auch nicht gegen den Samuels. Sie verzögerten zwar diese Reise kurzfristig, aber am Ende würde eine Zeitersparnis bleiben und eine Ablenkung. Wenn dies alles klappte, konnte der alte Historiker wohl kaum etwas dagegen sagen. Wenn er magischen Erscheinungen gegenüber nicht aufgeschlossen war oder wie die meisten, ihnen nicht sehr aufgeschlossen gegenüber auftrat, verbarg er es hinter dieser lässigen Handbewegung. Mit dampfenden Atem blickte er aus der Kutsche.
Himly hingegen schmunzelte über Weissdorns Worte. Der Mann mit der dünnrahmigen Brille schien sich sehr über die Art und Weise, in der Samuel Weißdorn seine Argumente vortrug, zu amüsieren. Dennoch zeigte er mit einem anerkennenden Nicken, dass er mit dem Plan an sich einverstanden war. Lächelnd rückte er seine Brille zurecht.
"Beeindruckend, Herr Weißdorn. Kein Wunder, dass ihre Illusion so überzeugend ist. Augenscheinlich sind sie selbst zu dieser Illusion geworden. Diese dargestellte Souveränität, diese scheinbare Planhaftigkeit ihrer Worte und ihrer Taten. Geschickt nutzen Sie Ihr Umfeld und die Gedanken und Informationen der Anderen, um Ihre Meinung zu bilden und trotzdem sind Sie in der Lage so zu tun, als wäre Ihre Darstellung und Meinung originär und genialisch und geben dabei dem armen Herrn Mommsen das Gefühl, dass er sich von dieser forschen Jugendleistung brüskieren lassen muss." Karsten und Himly lachten herzlich, während Mommsen nur ein zögerliches Grummeln zu entlocken war, welches sich als Unbill lesen ließ. Wer aber genau hinschaute, konnte ein kleines, verkniffenes Zwickern erkennen seitens des grimmig blickenden, schmalen Mannes, was wahrscheinlich schon als positiver Gefühlsausbruch zu werten war.
Karsten wurde jedoch ernst und nickte die Ideen der ihn umgebenden Männer ab.
"So muss ein intelligentes, liberales Parlament funktionieren, meine Herren. Jeder trägt sein Scherflein dazu bei und jeder weiß, wann er eigenen Stolz und eigenes Belieben hinter sich zu lassen hat." Er nickte Theodor Mommsen zu und kraulte sich den langen, dunklen Bart.
"Und für mich ist dieser Zeitpunkt just in diesem Moment gekommen." Karsten schmunzelte.
"Ich kenne den Zauber, von dem sie dort sprechen, werter Herr Nobel. Ich kenne einen sehr aufdringlichen Alumni, der sich sehr gerne mit diesem schmückte und sogar mit solch einem geisterhaften Vehikel, dreist wie er war, zur Verteidigung seiner Promotionsarbeit anreiste...." Theodor Mommsen fuhr auf einmal dazwischen, obwohl Karsten seine Worte noch gar nicht beendet hatte. "
Ja. Und noch heute erzäht man sich, lieber Gustav, dass er nur durchgefallen sei, weil dem Materialforscher Gustav Karsten der Sinn für Stil und Schicklichkeit abginge." Gustav Karsten lachte herzlich und deutete auf die Kutschentür.
"Es können nur sechs Personen in Ihrer modifizierten Kutsche fahren, Herr Nobel. Ich werde hier in der Kutsche bleiben, wenn Sie alle in die andere Kutsche überwechseln. Carl Himly wird Ihre Kutsche dann am besten steuern. Der Mann kennt sich, wie Sie wissen, mit allerlei Kriegs- und Transportgerät aus. Bis dahin werde ich Sie noch begleiten und dann sind Sie auf sich alleine gestellt. Aber der Zeitvorsprung wird so eklatant sein, dass sich dieses Vorhaben auf alle Fälle lohnen wird. Und ich kann diese Kutsche bewachen und dafür gerade stehen, wenn sie näher unter Augenschein genommen werden sollte."Die Männer nickten sich zu und dann wurde es still, die Herzlichkeiten der guten Ideen und des Momentes schwanden und mit ihm wurden sich die Gäste der Kutsche wieder des schneidend-kalten Windes gewahr, welcher unbarmherzig durch die schmalen Schlitze der Kutsche pustete. Allen voran dem schmalsten der Männer, Mommsen, fröstelte es ungeheuerlich und nach ein paar letzten, lachenden Sonnenstrahlen verdeckten nun, als Spiegel der Gemütslage, weißgraue Schneewolken den Himmel. In der Ferne war schon der einsetzende Schneefall zu bewundern, wie er sich mit steigender Intensität über die Förde nach Kiel schleppte, getragen von bitterlich kaltem Ostwind. Der Plan war gefasst. Samuel würde einen Soldaten als Alfred Nobel verkleiden und dieser würde nach Friedrichsort gehen und eine falsche Spur auslegen, danach würde Samuel die Soldaten, welche Gustav Karsten, seinen großen Fürsprecher, begleiteten, so verkleiden, dass sie von weiten wie Alfred Nobels Gruppe wirken mochten und zu guter Letzt würde er sich und die restlichen Kutschengäste, auf Mommsen heftige Fürsprache, als ein preußisches Kavalleriekommando verkleiden, welches so tat, als würde sie dem Herzog die Bundesexekution überreichen.
Während Samuel Weißdorn mit seinen findigen Methoden der Irreführung die Verkleidungen aller vorbereitete und Alfred sich in der Kutsche verdeckt hielt, um die Scharade nicht auffliegen zu lassen, kaufte Conrad Rosenstock, der aufgrund seiner burschenschaftlichen Kontakte einige Schwarzhehler kannte, die an Waffengesetzen vorbei einiges an interessanten Kram verkauften, bei eben einem dieser Kleinhändler, Richard Courtright, die von Alfred gewünschte Zauberformel. Richard, auch wenn sein Ruf aufgrund seiner Waren ein anderer war, wurde von vielen, die ihn kannten, respektiert, da er ein ehrbarer Mann war. Seine Waren hatte er nie illegal erworben und Conrad wusste, dass er viele Zauber für die Universität zur Verfügung stellte, doch die Wogen der Zeit hatten viele seiner Handelsaktivitäten in einem falschen Zwielicht erscheinen lassen. Conrad und Richard, sie kannten sich. Aber auch Karsten und Richard, das wurde deutlich. Und so waren die Verhandlungen nicht zäh. An deren Ende stand, dass Richard die Schriftrolle für 675 Münzen über den provisorischen Tresen, also den schweren Eichentisch seiner Wohnung, gehen ließ. Conrad mochte nicht schlecht staunen, als Karsten die Kosten alleine übernahm und keine Widerrede hören wollte.
Als Conrad zurückkehrte, war fast alles vorbereitet
[1]. Emil und Alfred hatten einen Großteil der Zauberformel bereits antizipiert und lasen sich dementsprechend schnell in den Zauber ein. Es kostete einige Anstrengung, doch Alfred und Emil webten an diesem Zauber rum, gaben sich einer fast nach Sprechgesang klingenden Intonierung hin und dann entstand sie. Eine typische, preußische Kutsche, wie sie von Kavalleristen für wichtige Dienstfahrten genommen wurde. Kein Sonnenwagen, wenn auch sicher so schnell, aber prunkvoll genug, um etwas herzumachen, schlicht genug, um preußisch zu sein, groß genug um vier Passagiere im Inneren aufzunehmen, einen Fahrer und einen Beifahrer auf dem Sitzbock Platz nehmen zu lassen und mit vier, kräftigen und arbeitssamen, prächtig-muskulösen Pferden davor. Sie waren bereit zum Aufbruch.
Gustav Karsten lupfte den Hut, als sie ihn endgültig verließen.
"Ich wünsche Ihnen viel Glück. Für die Doppeleiche! Und für Sie persönlich, meine lieben Nobels, alles Gute!" Die alte Kutsche ratterte davon mit Karsten und den Männern, welche nur grob wie die Reisegruppe, der die Nobels, Rosenstock und Weissdorn angehörten, aussahen. Es würde für die Ablenkung reichen, aber doch so deutlich bei zu naher Betrachtung sein, dass man Gustav Karsten keinen Vorwurf daraus machen konnte, dass er einfach mit ein paar holsteinischen Soldaten in Zivil nach Molfsee reiste.
Dann bestiegen die fertig bekleideten, preußische Soldaten die geisterhafte Kutsche. Mommsen war als Rittmeister eingekleidet wurden und würde den grimmigen, höchstrangigen Offizier geben. Himly war sein Oberleutnant, aber hatte gleichzeitig die Zügel in der Hand. Ein Zeichen der Dringlichkeit ihres Auftrages. Und auch sonst war die Besetzung hochrangig. Nobel und Weissdorn aufgrund ihres Alters waren wohl am ehesten im Rang eines Leutnants, während Conrad Rosenstock und Emil Nobel aufgrund ihres Alters Offiziersanwärter waren, Kornetten, Fahnenjunker zu Pferd. Es sprach für wichtiges Personal und Mommsen nickte anerkennend, als er die mit wenigen Handgriffen und recht wenigen Requisiten zusammengestellten Verkleidungen, die Rosenstock ebenfalls beim britischen Händler Courtright erwerben konnte, prüfte. Selbst den gemeinem Preußen konnte man mit dieser Verkleidung täuschen, so viel war sicher.
"Nun denn.", sagte Mommsen bedeutungsschwanger.
"Die Sonne geht gleich unter und wir sind noch immer nicht auf dem Weg nach Emkendorf. Es wird Zeit." Himly ließ die Zügel knallen und das magische Gefährt nahm seinen Dienst geräuschlos auf. Mommsen schluckte schwer, als sich die Kutsche in Bewegung setzte. Seine Finger zitterten leicht. Er schluckte nochmals und nahm erstmal seinen Zwicker ab. Er blickte Alfred, Conrad und Samuel an - Emil hatte sich draußen auf den Kutschbock zu Himly gesellt, um ihn über die Himlybombe
[2] auszufragen - und sagte einen bedeutungsvollen Satz, der noch lange in ihren Köpfen spuken sollte. Er sprach ihn mit einem Esprit und einem inneren Feuer, dass es keinen mehr wundern mochte, dass dieser Mann Historiker werden wollte.
"Meine Damen und Herren, wir erleben hier Geschichte!"7. Dezember 1863 - Am Morgen des Krieges? - 16:00 Uhr - Gut Emkendorf
Es war kalt. Unerbittlich kalt und Carl zitterte wie Espenlaub. Es war dieses ungewisse Warten in der Kälte, in dieser nassen Kälte, obwohl sie dickt vermummt in dem weißlichen Zelt, welches inzwischen völlig eingeschneit war, auf der Lauer lagen. Einfach nur eingeschneit werden, das reichte noch nicht, um unter dem Schnee nicht zu frieren. Das wusste Carl. Er war Pionier. Er war preußischer Pionier mit Leib und Seele. Er hielt sich warm genug, und doch fror er stark genug, um sich an Espenlaub erinnert zu fühlen. Es war merkwürdig, an was für scheinbar unwichtige Dinge man in diesen Momenten dachte, wenn man vor Kälte zu erstarren glaubte und auf einen Schritt des Feindes wartete, auf das Auslösen der Falle oder auf was auch immer von Stiehle noch so warten mochte. Wie Espenlaub frieren. Carl fiel ein, dass die Espe auch Zitterpappel hieß. In seiner Heimat hieß sie jedoch weder Espe noch Zitterpappel, das waren Begriffe, die er in Mitteldeutschland aufgeschnappt hatte. In Holstein waren es Aspen, so hießen auch die Orte, die diese Bäume, aus welchen Gründen auch immer, im Wappen trugen oder sich danach benannt sehen wollten. Hohenaspe bei Itzehoe, Großenaspe südlich von Neumünster, Timm- und Krogaspe nördlich von Neumünster. Carl war schonmal in diesen Orten gewesen. Nur zur Sicherheit blickte er aus dem kleinen Zeltloch, welches fast ganz zugezogen war, damit nicht zu viel Wärme rausströmte. Von was für Bäumen waren sie umgeben? Er blickte sich um. Aspen. Hier standen viele Aspen. Ein paar Birken mit ihren weißen Rinden, ein paar Saalweiden und viele Eichen. Die Bäume waren typisch für Holstein und an diesem Ort waren sie gepflegt, selbst von ihrem Versteck aus im Schnee konnte er sehen, dass sie mehr oder weniger planvoll angelegt wurden. Ein schöner Ort im Frühjahr. Ein karger Ort im Winter. Carl blickte die große Allee entlang, welche nach Osten führte, nach Kiel. Mächtige Linden, Kastanien und Ahornbäume standen dort, viele von ihnen standen dort schon über ein Jahrhundert, vielleicht noch länger. Selbst von hier sah Carl, wie sie die hügelige Straße säumten und ihr preußisch-geordnet folgten. Wie viele Jahre würden sie dort noch stehen
[3]? Sie waren ein prächtiger, standhafter Anblick. Viele von den Bäumen dort hatten Zwiesel, eine Gabelung. Carl blickte zurück zwischen die Aspen, Eichen, Birken und Weiden, zwischen denen sie sich im Schnee verbargen und Ausschau hielten. Da entdeckte er sie, nur fünfzig Schritt vor ihm, der Baum mit dem mächtigen Zwiesel, er war eine Eiche. Eine Doppeleiche.
Von Stiehle riss Carl aus seinen Gedanken.
"Stecken Sie den Kopf wieder rein, Herr Leutnant." Von Stiehle hatte auf seinem Säckel gelegen und die letzten zwei Stunden keinen Mucks von sich gegeben. Man hätte denken können, dass er geschlafen hatte. Auf seiner Brust lag eine Art Taschen- oder Notizbuch, welches er mit dem Deckel nach oben liegen ließ, von Zeigefinger und Daumen festgehalten, sich rhythmisch mit seinem Brustkorb bewegend. Er schnarchte nicht, er atmete nicht wie ein Schlafender. Vielleicht hatte er die ganze Zeit über etwas nachgedacht. Die Mütze lag tief in seinem Gesicht und hatte seine Augen verborgen, ehe er sie jetzt wieder freigab und sich auf dem linken Ellenbogen aufstützte.
"Ich glaube, ich weiß, was im Busch ist." Er nahm das Notizbuch hoch und drehte es um, sodass Carl in der aufgeschlagenen Doppelseite lesen konnte. Es war irgendeine Schlachtzeichnung, wahrscheinlich von Stiehle selbst angefertigt, nicht sehr kunstfertig, aber klar strukturiert. Es war schwer zu erkennen, was die Aussage dieses Schlachtbildes war. Zwei Begriffe standen auf dem Schlachtfeld: Reisläufer
[4] und Morgarten
[5]. Carl wusste schon, was ein Reisläufer war. Ein schweizer Söldner des Mittelalters, doch was hatte die Schlacht am Morgarten damit zu tun? Sicher war es eine Schlacht, in der Reisläufer gekämpft hatten oder zumindest in einem Zusammenhang damit standen. Er war kein Historiker und an den Offiziersschulen hatte diese Schlacht keine Rolle gespielt. Von Stiehle war jedoch Kriegshistoriker und als solcher ließ er die Zeichnung nicht im Raum stehen.
"Ich hätte früher darauf kommen müssen.", schalt er sich selbst,
"Es ist doch deutlich. In der Schlacht am Morgarten kämpften die Eidgenossen gegen die Habsburger, um ihre Freiheit zu bewahren. Das ist weniger wichtig. Wichtiger ist, dass es eine Wende in der Schlachtführung war. Bis dato galten die Reiter als nonplusultra der Kriegsführung, gerade durch ihre Ordnung. Krieg war damals durch eine gewisse Form ritterlicher Fairness geprägt und die Eidgenossen begegneten ihr, in dem sie diese untergruben. Sie kämpften nicht mit der Absicht des Besiegens des Gegners, sondern des Zerstörens und Zermürbens. Da sie nur Fußvolk waren, brauchten sie vor allem das Gelände für ihren Vorteil." Von Stiehle blickte Carl von Lütjenburg sorgenvoll an.
"Unsere Reisläufer hier - klar in der Schlacht vom Morgarten waren es noch keine, sie wurden es durch ihren Ruf später, weil jeder unbesiegbare Schweizer an seiner Seite haben wollte - haben genau diese Absicht. Der Herzog hat sich deshalb die Söldner zusammenstellen lassen. Glauben Sie es mir, Herr Leutnant! Die Söldner gehören allesamt zu dem feinen, falschen Herzog. Sie haben mir von dem Angriff erzählt, dass der Braunschweiger - ein Söldner mit ähnlichen Ruf wie ein Reisläufer - im Kampf vor allem den Herzog schützte und nicht eingriff. Der Angriff war gar nicht auf den Herzog gerichtet..." Von Stiehles Augen zeigten ein gewisses Entsetzen.
"Ich wette, die Soldaten, die ich losgeschickt habe, um ihre Posten zu besetzen sind schon lange tot, Herr Leutnant. Das war die Falle. Jeder, der ihn aufgrund des Vertrages gefährlich werden kann, soll gebunden oder getötet werden und die Söldner heben die Ordnung der Diplomatie auf. Niemand könnte eine große Region oder gar ein Reich verdächtigen, wenn es die Söldner waren. Niemand könnte mehr als Vermutungen anstellen. Der Angriff auf den Herzog war fingiert, um ihn desbezüglich aus der Schusslinie zu nehmen. Die Reisläufer hebeln das Gentlemens' Agreement[6] der Konfliktlösung unserer Zeit aus." Von Stiehle schluckte hart, als ihm klar wurde, was für einen Fehler er gemacht hatte.
"Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass wir nur schwer hier rauskommen werden. Wir warten auf die Nacht und dann müssen wir so schnell es geht nach Preußen!"7. Dezember 1863 - Am Morgen des Krieges? - 18:12 Uhr - Gut Emkendorf
Als sie in den Sonnenuntergang ritten, der fahl war und doch eine gewisse Schönheit besaß, wurde Theodor Mommsen noch unruhiger, rutschte auf seinem Platz hin und her. Die Sonne war gerade im Inbegriff zu verschwinden, da fuhren sie über karges Feld. Hier auf dem Land gab es überall Knicks. Er begrenzte nicht nur die Felder der Landwirte und Herren, sondern war auch willkommener Schutz gegen die steifen Brisen, welche regelmäßig über Schleswig und Holstein hinweggingen. Die meisten Wege, die sie nutzten, das wusste Mommsen Alfred Nobel als Nichtholsteiner zu erläutern, waren sogenannte Redder. Wege, welche beidseitig von Knicks, also Hecken, begrenzt waren. Nach einer Weile wurden die Knicks aber kleiner, verschwanden dann ganz und gaben den Blick frei auf die wenigen, freien Flächen. Hier war vor nicht allzulanger Zeit geknickt wurden und auch die Bäume hatte man für den Winter zu Feuerholz verarbeitet. Mommsen seufzte.
"Es erinnert mich an ein wunderschönes, melancholisches Gemälde von Caspar David Friedrich. Er hat es 1811 gemalt. Es ist trotz seiner scheinbaren Tristess ein wunderschönes Bild. Glauben Sie mir das, meine Herren." Während sie vorüberfuhren, glaubten Sie einen Mann mit einer Axt beim Hacken eines Baumes zu sehen, doch dann war die schnelle Kutsche schon vorüber.
"Es heißt einfach Winterlandschaft[7]. Einfach, aber einprägsam. Das ist das Schöne an den Friedrich-Bildern. Kennen Sie diese? Herr Nobel, Sie kennen Caspar David Friedrich bestimmt. Obzwar er Deutscher war, ist er im schwedischen Pommern geboren und fühlte sich einen Lebtag als Schwede. Aber das soll nicht zur Sache tun. Seine Bilder haben eine melancholische Schönheit, welche in ihrem transzendenten Charakter erst völlige Genialität entwickelt. Es ist dieses Dunkle, was überall scheint und doch von Hoffnung und schwachem Licht durchbrochen ist. Und erst dieses Licht, gibt dem Dunklen sein schönes Gesicht. Wissen Sie, was ich meine?"Mommsen machte sich Mut. Das meinte er wohl am wahrscheinlichsten damit und so verzog er sich wieder in sein Grübeln, während Himly sich mit Bravour als Kutscher verdingte. Die Fahrt war angenehm und ruhig, dank der Zauberkraft.
Alles war angespannter seit Stiehle seine Befürchtung ausgesprochen hatte und endlich war die Sonne hinter dem Horizont verschwunden, der Schneefall hatte jedoch aufgehört und die anbrechende Nacht war sternenklar. Auf dem schneeweißen Untergrund war dies nicht zu einer Flucht geeignet, sie mussten, so unschön dieser Gedanke war, auf mehr Schnee warten und dann im Schneegestöber von dannen ziehen. Sollte der Scharfschütze noch immer unterwegs sein, wären sie in klarer Nacht ein viel zu leichtes Ziel. Und dennoch hörten sie Bewegung. Wittmaack kam schneebedeckt ins Zelt gekrochen, er atmete schwer.
"Herr Major! 'Ne Kutsche. In'nem unglaublichen Tempo, Herr Major." Erschrocken richtete sich Wittmaack halb auf und salutierte, als habe er das vorher vor Schreck vergessen.
"S'e kommen von Ost, Herr Major. Kiel." Wittmaack nahm die Mütze ab und hielt sie vor die Brust, als wäre ihm etwas unangenehm.
"Spucken Sie es schon aus, Wittmaack." "Sin' Preußen, Herr Major. Sin' Kavallerie, Herr Major." "Was?" Wittmaack zuckte mit den Schultern und machte einen entschuldigenden Gesichtsausdruck.
"Wir müssen Sie warnen!", sagte Stiehle schnell, nahm sich Revolver und krabbelte nach draußen, Wittmaack und Carl andeutend, es ihm gleichzutun.
Alfred Nobel schaute aus dem Fenster. Die Allee, die sich durchschritten war im vollen Mondschein und sternenklarer Nacht wunderbar zu erkennen, dank des schneeweißen Untergrund. Kastanien, Linden, Ahorn. Eine Allee die sogar entblättert einen prächtigen Eindruck machte, so von Schneeglanz bedeckt.
"Wir sind gleich da.", sagte Mommsen schließlich.
"Die Allee führt nach Emkendorf, bis zum Gut." Conrad erinnerte sich gut daran, wie das erste Mal hier lang gekommen waren. Und ehe sie sich versahen, bogen sie zum Gehöft ein.
"Verdammt!", entfuhr es Stiehle im Flüsterton als er das Zelt verlassen hatte und Carl sich hinter ihm mehr oder weniger aufrichtete. Die ungewöhnlich schnelle Kutsche raste an ihnen vorbei. Das Mondlicht spiegelte sich in diesem Moment im Fenster und Carl sah etwas, was ihm merkwürdig vertraut vorkam. Waren dies die Gesichter von Alfred Nobel und Conrad Rosenstock?
War es das Gesicht von Carl von Lütjenburg? Der Gedanke huschte sowohl Alfred Nobel als auch Conrad Rosenstock durch den Kopf, als sie an etwas vorbeifuhren, was mehr oder weniger wie übergroßer Schneehaufen aussah, aus dem irgendwas zu klettern schien und vor dem zwei Männer standen. Auch sie trugen preußische Uniformen. War das Carl? Conrad war sich sicher, dass es Carl war. Doch ehe sie Kontakt aufnehmen konnten, war Carl Himly schon vorbeirast und hielt auf den Vorhof des Gutes zu.
Endlich hielt die Kutsche nach ruhiger und fast stiller Fahrt. Geräuschvoll öffnete Mommsen die Tür und ließ einen Fuß rausbaumeln.
"Endlich!", er reckte sich auffällig.
"Wahrscheinlich noch früh genug, um sogar ein gutes Abendessen zu bekommen." Dann versuchte er wieder gestreng zu wirken. Doch es half nichts, dieser Mann war nervös. Auch Himly, der bereits vom Kutschbock abgesessen hatte und einen Tritt vor die Kutsche stellte, wirkte nervös. Seine Brille war von Eisrosen geziert, sein Gesicht sah verfroren aus, ebenso jenes von Emil, welches auf der anderen Seite der Kutsche auftauchte.
In diesem Moment schob sich eine Wolke vor den Mond und verdüsterte den Vorplatz Emkendorfs. Wind heulte kraftvoll auf und ging durch die Glieder der Gereisten. Sie stiegen aus der Kutsche und blickten zum Herrenhaus, in dem sich noch nichts tat. Mommsen stützte sich schwer auf einem Gehstock. Diesmal wirkten seine Worte noch nicht mehr so kraftvoll, eher ehrfürchtig, als er hinauf zum Gut blickte, in dem einige Fenster beleuchtet waren und matte Schemen vor den Fenster entlanggingen und Geschäftigkeit zeigten.
"Meine Damen und Herren, wir erleben hier Geschichte!"Sie hatten es geschafft. Sie hatten Emkendorf erreicht, ohne aufgehalten oder angegriffen zu werden und so schnell, wie sie lautlos durch das winterlache Holstein gereist waren, hatten sie auch sicher Zeit gewonnen. Mindestens einen Tag. Und doch war ihnen unwohl. Sie spürten, dass ein großer Druck auf ihnen lag und der heulende Wind trug ihn nicht fort.
"Wollen wir?", fragte Himly fröstelnd und rieb sich die Hände. Irgendwo war das Knacken alten Holzes zu hören.