6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 00:38 Uhr - Auf der Helka
Die Helka bäumte sich auf, als Carl sie ein weiteres Mal hart rumriss. Doch diesmal achtete er darauf, welche Kisten Steuer- und Backbord, als auch Achtern lauerten und so manövrierte er den Kutter gerade so an einer explodierenden Kiste vorbei, sodass nur kleine Trümmer hinabregneten, jedoch ohne schwere Verletzungen zu hinterlassen. Der Kutter knarrte und quietschte unter der enormen Belastung und der Unerfahrenheit seines Steuermannes und doch mutete Carl von Lütjenburg dem Kutter nicht zu viel zu, auch wenn er kurz vor der äußersten Belastung lag. Er tat eben das, was ein preußischer Offizier zu tun hatte: das, was nötig war.
Es war ein Höllenritt auf den aufgeschaukelten Wellenkämmen der Kieler Förde, links und rechts des Bootes, vor und hinter ihm, überall flogen Fetzen und Trümmer umher, die Förde selbst brannte und irgendwo dazwischen kämpften zwei Kutter gegen den Wind und das Wetter und versuchten wieder in den heimatlichen Hafen zu kommen, während keine funfhundert Meter entfernt zwei, vielleicht dänische, Schiffe sich unbehelligt zurückzogen, nachdem sie für das nächtliche Inferno gesorgt und Menschenleben vernichtet hatten.
Doch Carl und Alfred blieben Herr der Lage und so schafften es die Studenten gemeinsam, ihre Helka und damit ihr Leben aus der Gefahrenzone zu bringen. Doch zu welchem Preis? Während sie zurück auf die Piere steuerten und das Adrenalin und der Schutzschild des Momentes zu zerbrechen begann, wurde das wahre Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Vielleicht die Hälfte der geretteten Schiffsbrüchigen lebten überhaupt noch, sie waren total unterkühlt oder litten unter dem enormen Blutverlust, den sie durch die Wunden, welche umherfliegende Trümmerteile gerissen hatten, erlitten. Die unruhige See und das ganze Blut schlugen für sich oder zusammen auf Magen und Gesundheit. Viele Studenten, von denen sich ebenfalls einige verletzt hatten, so auch Paul, der zwei Platzwunden am Kopf hatte, und Gerettete übergaben sich jetzt hemmungslos, wobei einer fast noch über die Reling stürzte. Alfred spürte den Druck der Bewegungskrankheit besonders hart, da er vom Maschinenraum nicht auf den Horizont blicken konnte und auch Karls Magen krampfte langsam. Die Ausbeute sah katastrophal aus, nur elf Überlebende konnten verzeichnet werden, die anderen waren entweder schon weitesgehend tot als die geborgen wurden oder waren in den Armen der helfenden Studenten gestorben. Und auch Emil war stark verletzt, eine offene Wunde am Oberschenkel musste versorgt werden, die meisten Schiffsbrüchigen mussten innerhalb der nächsten halben Stunde in ein Hospital, oder sie würden die Nacht nicht überleben. Und auch die Helka sah malträtiert aus, die umherfliegenden Trümmer hatten fast alle Segel und Taue zerrissen und zerstört. Die Gewalt mancher Explosion und der umherfliegenden Trümmer war allein daran zusehen, dass ein von der Explosion katapultierter Pfahl sich fast bis zur Hälfte in den Holzmast der Helka gefressen hatte. Jene Studenten, welche nicht verletzt wurden, hatten wahrlich das Glück auf ihrer Seite, doch es änderte nichts daran, dass der Angriff der Dänen katastrophal verlaufen war für die Solros. Wenn der Kutter des Militärs ähnlich wenig Erfolg beim Retten der Schiffsbrüchigen hatte, dann stimmte Emils bittere Prognose:
"Wenn wir Pech haben...", sagte er unter Schmerzen und presste Tuch auf seine Wunde,
"sind wahrscheinlich nur noch zwanzig von einhundertvierzig Passagiere und Crewmitglieder am Leben..."Nur etwa eine halbe Stunde nachdem sie sich in die Gefahr der angreifenden Schiffe gewagt hatten, kehrten sie als zweiter Kutter unter dem Jubel der Soldaten und einiger inzwischen hinzugekommener Schaulustiger wieder zurück in den Hafen, die Helka dampfte noch an einigen Stellen, an denen Feuer ausgebrochen war, welches die Studenten immer gleich zu löschen wussten, oder Trümmer verbrannt waren. Und ein Blick auf den anderen Kutter zeigte kein besseres Bild. Die Helka gab ein letztes Stöhnen von sich, dann hatte Alfred alles getan, was er konnte. Der Kolben schlug aus und die Maschine erstarb, die letzten Meter trieb die aufgepeitschte See die Helka an die richtige Stelle. Der Jubel wollte nicht mehr abflauen. Es waren wahrscheinlich Helden geboren und doch auch viele Männer gestorben.
Als die Studenten und Alfred mit wackeligen Beinen von Bord staksten, nahmen jubelnde Soldaten sie in Empfang und klopften ihnen auf die Schultern und übernahmen die Verpflegung der Verwundeten und der Toten. Die Helena von Wismar hatte das Auslaufen nicht geschafft und so auch nicht das Schiff löschen können, und vielleicht war der Wind ein Wink des Schicksals. Hätte sie versucht an Bord des Schiffes zu retten, wären wahrscheinlich noch mehr Menschen gestorben. Nur Feldwebel Franz hatte es geschafft mit dem Kutter Barbara auszulaufen. Sie wurden ebenso frenetisch begrüßt, sie retteten zwölf Schiffsbrüchigen das Leben und verloren einen Soldaten.
Emil, er war fast schon am wegdämmern vor Schmerzen, wurde sich erst dann seines Bruders unter all dem Kohlestaub gewahr.
"Bruder!", sagte er fast erschrocken und Tränen sammelten sich in seinen Augen, ehe er sich vor Schmerzen wieder hinlegen musste. Drei Soldaten versperrten Alfred dann die Sicht und begannen mit der Versorgung der Wunden. Während im Hintergrund der dicke Oberwachmeister auf seinen stelzenartigen Beinen angewippt kam.
"Meine Herren! Lassen sie sich im Namen Holsteins sagen, dass sie verdammt nochmal Teufelskerle sind!", bekräftige er mit fast stolz geschwellter Brust und ließ es sich nicht nehmen, jedem Studenten persönlich die Hand zu geben und auch Alfred, den er kurz prüfend anschaute, ob dieser dieses Lob gern nehmen würde oder ob sein Bruder gestorben sein könnte, doch dann ging er bereits weiter zu Carl von Lütjenburg.
"Leutnant! Was sie da heute geleistet haben! Da wäre man stolz, man könnte selbst ein Preuße sein!" Carl reichte er nicht die Hand, sondern schlug im wild und kräftig auf die Schulter und salutierte dann vor so viel Mut. Er drehte sich den Studenten zu.
"Kommen sie alle ins Unteroffiziersheim, dort bekommen sie ein Bad, frische Wäsche und ein Bier!"Er nickte den Studenten zu und zog dann wieder ab, um die Versorgung der Verwundeten und der Toten zu koordinieren.
Sie hatten es geschafft, die Studenten und Alfred, sie hatten Menschenleben gerettet und waren selbst wieder Leben zurückgekehrt
[1].