6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 11:05:06 Uhr - Gut Emkendorf
Die Überraschung war allgegenwärtig, viel ging durch die Gegend, Bücher flogen durch die Gegend, leere wie volle Tintenfässchen aus Porzellan und Glas zerbrachen und zerbarsten, weil sie umgestoßen wurden und ihr kostbarer Inhalt wurde vom Teppich und umliegenden Schriftstücken aufgezogen. Doch es gab keine Atempause, um auf solche Nichtigkeiten in Anbetracht der eigenen Lebenserhaltung zu achten. Nur Carl blieb übermutig oder vielleicht übermütigt stehen und verkündete die Gefangennahme des Hünen mit dem Gewehr. Zwar war er darauf gefasst, sich zu Boden stürzen, sobald der Mann anlegte. Doch die Bewegung und das Zielen des Mannes war dermaßen fließend, dass Carl zu spät reagierte.
Ein zweiter Schuss ertönte und während Carl sich zu Boden warf, spürte er brennenden Schmerz in sich aufglühen. Ein weiterer Halstreffer! Kurz blieb dem Wahlpreußen die Luft weg, Blut spritzte auf und landete auf Schriftstücken, an den Wänden, auf dem Teppich und jenen Personen, welche in dem Raum verzweifelt nach Deckung suchten. Carl wurde schwummrig vor Augen, die Wunde blutete stark und irgendwas stimmte nicht. Er spürte, wie seine Gliedmaßen taub wurden. Ein schwerer Treffer, der ihn zeichnete[1].
Ein bedrohliche, weibliche Stimme erschien im Raum, obwohl niemand zu sehen war.
"Il faut être enclume ou marteau.[2]", verkündete sie süffisant lachend und wurde schlagartig wieder still.
Immerhin war die Tür aus dem Raum wieder offen, weil Conrad sie geistesgegenwärtig geöffnet hatte. Es war draußen noch immer ruhig, keine Stimme war zu hören. Bewegten sich die Reiter des Braunschweigers etwa nicht? Auf einmal hörte Conrad es. Schritte von Stiefeln auf dem Flur.
Der Braunschweiger lud seine Waffe durch und kniete sich vor den Herzog, um ihn vor möglichen Schüssen zu schützen.
"Was zur Hölle ist hier los? Was zur Hölle!"Der Herzog schien mit der Situation völlig überfordert, er zitterte wie Espenlaub. Währenddessen meldete Donald, dass der Attentäter seine Waffe nachlud.
Es berührt Conrad durchaus, dass Carl so schwer getroffen worden ist. Er macht sich richtig Sorgen um ihn. Schon der andere Karl ist einen sinnlosen Tod gestorben und dieser Carl sollte nicht auch noch sterben durch sein leichtfertiges Handeln. Carl war immer ein Vorbild für Conrad, doch sein momentanes Verhalten war einfach aus Conrads Sicht unklug.
"Verdammt! Auf diese Entfernung haben wir gegen den Scharfschützen wenig Chancen, das musst auch du doch einsehen, Carl! Können Sie seine Wunden heilen, Schwester?" Bei seiner letzten Frage blickt Conrad natürlich zu Schwester Hermene, die vielleicht tatsächlich die Kraft hat seine Wunden schnell wieder zu heilen.
Conrad merkt, dass die französisch-sprechende Frau- offensichtlich unsichtbar- ganz in seiner Nähe ist, deswegen bereitet er sich darauf vor, vor möglichen Angriffen von ihr so gut es geht auszuweichen, während Conrad dabei ist vom Boden wieder aufzustehen.
Donald musste eingestehen, dass Conrad Recht hatte. Auf diese Entfernung konnten sie nicht an den Scharfschützen herankommen, aber er musste etwas zu ihrem Schutz unternehmen. Der gefallene Mann, Donald meinte sich zu erinnern, dass er Carl hieß, wurde schon von der Nonne umsorgt. Also konnte er sich um den Schutz seines Lebens und das der anderen kümmern. Gleichzeitig würde er den Angreifer zwingen, aus seinem Versteck zu kommen. Er murmelte Worte in der alten Sprache und im Hof zog vor dem Fenster ein dichter Nebel auf. Zwar ging draußen ein leichter Wind, aber für ein wenig Schutz würde es schon ausreichen. Conrad behielt das Fenster im Auge.
Hermene blickte zu Conrad, und ihr Gesicht mochte möglicherweise bereits einen großen Pessimismus ausstrahlen, denn sie wusste um die kritische Lage von Marius, der ebenfalls Opfer des Schützen wurde, und sie wusste um die Gangrene, unter der er litt. Es bastanden kaum die Chancen, dass sie würde helfen können. Dennoch - der Vollständigkeit halber und um ein gutes Bild als ehrwürdige Gottesfrau abzugeben - kroch sie herüber zu den Korpus des Getroffenen .
Dabei blickte sie immer wieder auf ihre Leidensgenossen, die so wie sie hier unverhofft in diese fürchterliche Lage gekommen waren. Die unsichtbare Stimme, die sie plagte, konnte nur eines bedeuten. Eine Unsichtbare war mit ihnen im Raum, und dies war ein Umstand, den Hermene keinesfalls dulden konnte. Sie hob ihr Kruzifix und beschwor die Macht ihres Herren, ihr, seiner Dienerin, Beistand zu leisten. „Erscheine, Weib!“, schrie sie, und schickte eine Welle aus auflösender Kraft in die Richtung, aus der die Stimme kam.
Souverän bleiben und Preußens Gloria verteidigen, diese beiden Gedanken gehen dem Wahlpreußen durch den Kopf, als er sich auf dem vollgebluteten Teppich der Tatsachen wiederfindet. Blut hat ihn noch nie geschreckt, dennoch muss er erstmal die Blutung stoppen. Mühsam bringt er sich wieder auf die Beine, während das Blut warm an seinem Hals und seiner Brust runterfließt. Eine tiefe Wunde, wahrscheinlich wird er sie operieren lassen müssen. Aber Blut und Schmerzen haben Carl noch nicht in der Situation des Kampfes gestört, es war ein Teil des Handwerkes, so wie ein Schmied sich die Hände verbrannte und ein Gleisbauer an Rückenschmerzen litt. Carl drückt sich ein Tuch auf die Wunde. Er spürt, wie das Gift noch immer in im wirkt und ihn innerlich angreift, ihn zerfrisst und ihm das Atmen schwer macht.
"Erst die Wunde stoppen, dann das Gift.", murmelte er wie in Trance, während er vom Nebel geschützt, die Wunde verband.