Dok'Haes Lager war weit genug von dem Leichnam entfernt, damit ein eventueller Räuber, der sich für das Fleisch des Menschen interessierte, nicht gleich auf den Wandler aufmerksam werden würde. Dennoch beunruhigte die Nähe des Toten ihn, zusätzlich zu den Dingen, die er gerade erfahren hatte.
Also sollte sein Weg ihn nach Osthafen führen. Hatte er bisher versucht, die Menschenhorte so weit wie möglich zu umgehen, würde er nun mitten in ihr Revier eindringen. Er konnte nur darauf hoffen, dass die Menschen in Osthafen sich Fremden gegenüber ähnlich verhielten wie die Bewohner des Heulenden Waldes: Wer sich den Regeln unterwarf, wurde geduldet, und man konnte sogar unbehelligt Handel treiben. So jedenfalls war es Dok'Hae erzählt worden, er selbst hatte den Heulenden Wald nie besucht.
Das Verhalten der beiden Menschen an der Brücke stimmte ihn aber hoffnungsvoll. Sie waren ablehnend, aber nicht aggressiv, und hatten ihm sogar gesagt, an wen er sich wenden konnte. Wenn er vorsichtig war, mochte er die fremde Rudelstätte betreten, ohne dabei selbst in ernste Gefahr zu geraten.
In der Nacht schlief Dok'Hae unruhig, und konnte einige Male die Schritte eines vierbeinigen Räubers hören. Was auch immer es war, blieb weit genug von ihm entfernt, dass er nicht aufstehen musste. Und so wachte er am nächsten Morgen zumindest einigermaßen erholt auf. Er warf keinen weiteren Blick auf den Leichnam, der inzwischen wohl bereits als Nahrungsquelle für den nächtlichen Räuber gedient hatte, sondern machte sich gleich auf den Weg nach Osthafen.
Der nächste Tag verlief zum Glück ruhiger als der vorige. Dok'Hae traf auf einige weitere kleine menschliche Rudelstätten, deren Bewohner die Natur gezähmt hatten, und er konnte beobachten, wie die Menschen die Pflanzen und Tiere in ihrem Umfeld hegten und pflegten, als würden sie zu ihrem eigenen Rudel gehören. Einmal konnte er etwas wirklich absurdes beobachten: Ein Mensch zapfte einer Ziege die Milch ab, die für ihr Junges gedacht war, und fing diese in einem Behälter auf. Anstatt sich dagegen zu wehren, ließ die Ziege dies über sich ergehen, als wäre es etwas völlig normales.
Die nächste Nacht verlief ebenfalls ohne Unterbrechungen. Es war schwierig gewesen, ein Lager zu finden, das weit genug entfernt war von den Rudelstätten der Menschen, aber schließlich hatte er eine kleine Baumgruppe gefunden, die ihm Schutz bot. Dok'Hae bemerkte einen salzigen Geruch in der Luft. Er hatte den Geruch schon vorher leicht bemerkt, aber jetzt war er so deutlich, dass man ihn nicht mehr ignorieren konnte.
Gegen Mittag erreichte der Wandler eine leichte Anhöhe. In dieser Gegend gab es praktisch keinen Wald mehr, nur noch vereinzelte Bäume, und das Land war so flach, dass man meistens kilometerweit sehen konnte. So war er froh über jeden kleinen Hügel, der ihm zumindest ein wenig Schutz bieten mochte.
Doch als er diese Anhöhe erklommen hatte, blieb ihm für einen Moment der Atem stehen.
In der Ferne sah er, dass das Land endete. Doch das Land grenzte nicht wie normalerweise direkt an den Himmel. Es grenzte an eine blaugrüne Fläche, die sich bis zum Horizont zog und dort auf den Himmel traf.
Er brauchte einige Momente, um diesen Anblick zu verstehen. Dies musste das Meer sein, von dem sein Alpha Jumr’phar ihm erzählt hatte. Unendliche Wasserweiten, die den Rand der Welt umspülten.
Eine ganze Weile stand er da, bis ihm bewusst wurde, dass er ohne jede Deckung offen in der Wildnis stand. Instinktiv schnellte er nach unten in die hohen Gräser, und sah sich aufmerksam um. Niemand schien ihn bemerkt zu haben.
Dafür bemerkte er etwas. Dort, am Meer, direkt am Rand der Welt, waren weitere Bauten der Menschen zu sehen.
Dies musste Osthafen sein, die große Rudelstätte.
Er war noch zu weit entfernt, um die Größe richtig einschätzen zu können, aber nach allem, was er sagen konnte, würden hier tatsächlich einige Hundert Menschen Platz finden.
Vorsichtig und von einem mulmigen Gefühl begleitet näherte er sich diesem für ihn fremdartigen Ort. Er hoffte, dass das mulmige Gefühl schon verschwinden würde, wenn er Osthafen näher kam, doch stattdessen wurde es immer nur schlimmer. Die Weite des Meeres hatte es ihm schwierig gemacht, die Entfernungen richtig abzuschätzen, und er stellte fest, dass dieser Menschenhort noch um einiges weiter entfernt gewesen war, als er angenommen hatte.
Als er schließlich nah genug war, um Osthafen in seiner ganzen Größe zu erfassen, stockte sein Atem erneut. Bau stand neben Bau, und Reihen der steinernen Konstrukte grenzen an weitere Reihen. Ein Schauer lief über seinen Rücken, als er langsam begriff, was das bedeutete. Diese "Rudelstätte" - oder wie auch immer man diesen Ort nennen sollte - bot nicht nur für einige Hundert Menschen Platz, sondern für ein Vielfaches davon.
Doch etwas stimmte nicht. Trotz der schier zahllosen Bauten konnte Dok'Hae kaum einen Menschen sehen. Die ganze Stadt strahlte etwas Lebloses aus, und die offenbar mit viel Mühe erschaffenen steinernen Höhlen sahen bei weitem nicht so gepflegt und intakt aus, wie die in den kleineren Rudelstätten, die Dok'Hae auf seinem Weg hierher gesehen hatte.
"Und? fragte sein körperloser Begleiter. "Willst du immer noch da rein?"