Nicht nur, dass der Zwerg einen langen, einen enorm zähflüssigen, dreckigen, blutigen Tag gehabt hat und dementsprechend müde ist, es wird auch noch sein Schlaf gestört. Der Zwerg hat an einem Bein ein Lederband, auch wenn er sonst nur einen Unterrock trägt. Im Lederband steckt ein Dolch. Unbewaffnet ist dieser Zwerg nie. Sofort kann Scarlet die rituellen, formvollendeten Narben auf den Schien- und Wadenbeinen sehen, welche tief mit einander verwoben sind und in der Form stilisierte Drachen darstellen
[1]. Die Drachen schauen nach außen. Die Ränder wurde mit roter Farbe nachtätowiert. Der Zwerg hat sonst niemanden ein Blick auf seine Beine gewährt, sie waren immer mehr verpackt, als es bei diesem Wetter notwendig gewesen ist. Wahrscheinlich hat sie den Zwerg auf dem falschen Fuß erwähnt. Er achtet selbst nicht darauf, sondern sein Blick wird furchtbar grimmig.
"Bei Dol Dorn, Scarlet, hast du mir nicht zugehört? Du kannst nicht alleine gehen. Wir sind in Gefahr und es ist schon furchtbar törricht hier keine Wachen aufgestellt zu haben. Sie sind uns auf den Fersen und da du aus diesem Loch kommst, kennen sie dich besser als uns."
Ghart blickt auf den Rucksack von Scarlet und dann in ihre Augen.
Der Zwerg wischt sich die linke Hand durch das Gesicht und zieht sie dann dem Bart hinab, er verdreht die Augen dabei. Eine Geste der Verzweiflung. "Ich denke nicht schlecht über dich und ich weiß auch, dass ich dich nicht zurückhalten kann. Aber..." Der Zwerg stockt, hält inne und wischt sich nochmal durch das Gesicht. "Was fällt dir überhaupt ein, so zu gehen? Warum ausgerechnet dann, wenn es am gefährlichsten ist? Warte noch bis zum Morgengrauen, bevor du in die Stadt gehst. Jetzt sind die Feinde unterwegs, tagsüber findest du schnell Hilfe..." Der Zwerg zweifelt einen Moment daran, ob er richtig zugehört hat. "gerade wenn du...dein Kind holst und dann bei dir hast."
Der Zwerg verschränkt die Arme und dreht Scarlet den Rücken zu, damit sie nicht sieht, dass sein Blick für einen Moment etwas weicher wird. Scarlet kann erkennen, dass in der Mitte seines Rücken weitere Skarifizierungen sind, jene sind jedoch nicht an den Rändern betont. Sie sind Runen und bilden irgendein Wort
[2]. "Eigentlich müsste ich dich solange prügeln bis du windelweich bist und deine Meinung änderst. Ich könnte Pavel, Bolbas oder die ganzen anderen wahrscheinlich verletzen, aber bei dir kann ich es nicht. Frag mich nicht warum, aber dich kann ich nicht bewusstlos schlagen." Er pausierte einen Moment, in dem er sich zurückdreht.
"Ich will nicht, dass du mit falschen Bildern von Zwergen gehst, solltest du es schaffen. Wir halten genauso wenig unsere Worte, wie ihr Menschen es tut. Wir wissen nur besser Vertrauensbrüche zu kaschieren. Auch wir Zwerge müssen uns immer wieder aus der Scheiße retten, die wir oder andere uns einbrocken." Er atmete tief ein. "Nein, Scarlet, du brauchst mich oder mein vermaledeites Volk nicht in die Höhe recken, damit deine angeblichen Verfehlungen verächtlicher wirken. Ist Bolbas mutig? Nein, ihn treibt seine Pflicht, aber er geht daran langsam geistig zu Grunde. Ist Rendal mutig? Er ist der einzige Ermittler unter uns, aber getraut sich noch nicht, das Kommando zu übernehmen. Ist Pavel mutig? Er benötigt einen Engel, um sich seiner eigenen Möglichkeiten bewusst zu werden und er wird getrieben aus Sorge und der Verpflichtung Freunden gegenüber. Ist Dayn mutig? Auch ihn treibt die Angst um seinen Vater und nicht gleißendes Licht. Ist Gillivane mutig? Sie ist vielleicht naiv. Ist Ghart mutig? Nein, Scarlet, du hast es erkennt. Ich habe alles verloren und nichts mehr zu verlieren. Anfangs wirkte es wie ein beschwingtes Abenteuer, ich lernte Redril kennen und dann dich. Das erste Mal habe ich auf Sonnenschein statt Regen gehofft. Aber wahrscheinlich muss ich dankbar sein, dass ich mich nicht so gut mit euch anfreunden konnte, dass es mir noch mehr Schmerzen bereiten muss. Dass ich euch nicht schon sein Monaten kenne...auch wenn ich eher das Gefühl habe, dass dem so sein könnte."
Der Einzahn hat noch immer eine abwehrende Haltung, wie seine verschränkten Arme zeigen, doch jetzt lässt er sie fallen.
"Ist Scarlet mutig? Mutiger als alle anderen in diesem Haus. Sie macht nicht nur weiter, weil sie nichts mehr zu verlieren hat oder weil sie sich davor schämt, dass andere schlecht von ihr denken könnten. Sie geht nicht Wege, von denen sie zu wissen glaubt, dass sie diese nicht gehen kann. Vielleicht mag es aus der Sicht der Stadt beschissen sein, aber wen will die Stadt verurteilen? Sie hilft sich kaum von sich aus. Es sind Männer und Frauen von außen gewesen, welche die ersten Hilfeimpulse gesetzt haben. Wenn sie verurteilen, dass jemand aus ihrer Mitte Angst um ihr Leben, um ihr Blut, um ihre Nachkommen hat, dann wollen sie nur davon ablenken, dass sie selbst Angst haben und vor Angst gelähmt sind. Nur dass sie sich nicht, im Gegensatz zu einer Scarlet, nicht selbst zu helfen wissen. Du bist sicherlich eine Einzelgängerin, aber dann ist dem so. Und es ist sicherlich so, dass es verzweifelte Idioten wie Ghart braucht, um hier aufzuräumen."
Der Zwerg greift unter seinen Bart und nestelt einen Beutel los, den man unter dem dichten Bart nicht sieht. Er nimmt ein paar Münzen heraus und behält sie in der hohlen Hand und wirft ihn dann Scarlet zu. "Was? Guck nicht wie 'ne Milchkuh. Ich habe seit Jahren unter Pennern und Halunken gelebt. Ich weiß, wo ich mein Gold verberge." Ghart zwinkert kurz und versucht dadurch einen souveränen Eindruck zu machen. In Wirklichkeit versucht er eine sich ankündigende Träne wegzublinzeln. "Das ist für dich und dein Balg. Pass ja auf, dass es durchkommt und sieh zu, dass du durchkommst, Scarlet. Auf Wiedersehen."