Vaêl teilt dem Kammerdiener mit, dass sich die Gruppe noch ein wenig von den Strapazen der Reise ausruhen wird, bis man in einer knappen Stunde den einzelnen Einladungen der Adelshäuser nachkommen wird. Man solle die Kutsche bereit halten. Daraufhin verabschiedet Vaêl den Diener und fragt sich kurz, warum sein Gott das Portfolio des Adels in seinem Glauben aufgenommen hat, verschiebt diesen Gedanken allerdings auf später.
Als die Tür des Zimmers zufällt und sie endlich alleine sind, setzt sich Vaêl an einen Tisch und wendet sich an seine Gefährten. Die Unbeholfenheit und die Abneigung seiner Mitreisenden ist ihm nicht entgangen:
"Ich weiß, was ihr denkt und mir geht es wie euch. Aber ihr wusstet genau so gut wie ich, was es bedeutet, sich auf diese Tarnung einzulassen. Deshalb sollten wir uns unserem eigentlichen Auftrag zuwenden, um diese närrische Maske so schnell wie möglich wieder ablegen zu können.
Zunächst ist die Frage, welche Adelsfamilie wir mit dem Privileg beehren, sie als erste zu besuchen. Leider gibt es kaum einen Ausweg aus diesem Dilemma. Zwei Familien werden wir zwangsweise verärgern, eine jedoch freundlicher stimmen. Die Frage ist nur, welche? Melvaunt wird von einem oligarchischen Rat beherrscht, dem sogenannten Eisernen Konzil.
Das Eiserne Konzil besteht aus den drei Oberhäuptern der großen Häuser Nanther, Leiyraghon und Bruil, den Oberhäuptern der drei jeweils größten Gilden sowie dem gewählten obersten Despoten Peuter Marsk. Egal, welche Einladung wir also als letzte annehmen, der beleidigte Adlige wird in jedem Fall über großen Einfluss in dieser Stadt verfügen.
Aber zu den Häusern selbst:
Haus Bruil wird derzeit von dem harten Vanth Bruil geführt, obwohl sich Vanth bereits im sechsten Jahrzehnt seines Lebens befindet. Vanth hat einen mächtigen Streit mit seinem Sohn Halmuth hinter sich, dem Fürsten der Schlüssel, und die beiden benehmen sich in Gegenwart des jeweils anderen nur äußerst selten wie zivilisierte Menschen. Fürst der Schlüssel ist hier in Melvaunt übrigens der offizielle Titel des obersten Befehlshabers der Streitkräfte. Auf der Suche nach einem potentiellen Erben und in dem Wunsch, seinem Sohn Schmerz und Scham zu bereiten, hat Vanth seinen unehelichen Enkel Argens zu seinem alleinigen Erben bestimmt. Haus Bruil kontrolliert in Melvaunt darüber hinaus die Gilde der Rüstmeister und die Gilde der Schmiede, ist also im Erz & Stahlhandel dominierend.
Dann wäre da Haus Nanther, die älteste und ehemals mächtigste Familie der Stadt. Dieses Haus war bis zum Tod seines Patriarchen Dundeld Nanther unangefochten in seiner Herrschaft über Melvaunt, verlor den Titel aber nach seinem Tod durch eine geschickte Intrige Seitens Haus Leiyraghon. Jetzt teilt sich Haus Nanther die Vorherrschaft mit den anderen beiden Häusern und das derzeitige Oberhaupt der Familie, Woarsten Nanther, ist damit alles andere als glücklich. Gerüchte sprechen vom Fall des einst großen Hauses, aber derartige Einschätzungen vergessen, dass Haus Nanther immer noch die Gilde der Goldschmiede sowie das Konzil der Silberschmiede kontrolliert. Damit hat das Haus zwar keine weiteren Sitze im Rat wie die anderen Häuser, aber das gleicht Woarsten durch seinen Einfluss auf die lukrativsten und stabilsten Handelszweige der Stadt mehr als aus.
Zuletzt gibt es noch Haus Leiyraghon. Diese große Familie hat durch die jüngste Vergangenheit einen düsteren Ruf. Leiyraghon war einst ein kleines Haus, das seine derzeitige Machtposition erreichte, indem es die gleichrangigen Häuser Marsk und Natali in den Unruhen nach Dundeld Nanthers Tod stürzte. Gerüchte besagen, dass sie auch für den Tod Dundelds und zahlreicher anderer Angehöriger der Familie Nanther verantwortlich sind, was zur offenen Feindschaft beider Häuser führte, aber bewiesen ist das nicht und übrigens auch ein verbotenes Thema auf diplomatischem Terrain. Direkt nach seinem Aufstieg in den Status eines großen Hauses und kurz vor einem offenen Krieg der großen Häuser, sicherte sich Dornig Leiyraghon den Stand seiner Familie, indem er die Wahl eines Herrschers vorschlug, des Despoten von Melvaunt. Jeder solche Despot sollte dem Eisernen Konzil zwei Jahre lang vorstehen und danach sein Amt niederlegen. Eine in der Theorie große Geste, die leider daran scheitert, dass dem Despoten nur die Funktion eines Puffers zwischen den großen Häusern zukommt. Würde ein großes Haus in die Funktion des Despoten treten, gäbe es wieder ein Ungleichgewicht im Kräfteverhältnis und daher Krieg, weswegen nur kleinere Häuser gewählt werden, die aber nur bloße Marionetten der großen Häuser sind. Trotz allem verhinderte diese große, wohlwollende Geste den drohenden Bürgerkrieg und vollendete Dornigs Schachzug. Haus Leiyraghon kontrolliert die Gilde der Zimmermänner und die Gilde der Schiffsbauer.
Meiner Meinung nach sollten wir uns zunächst an Haus Nanther wenden.
Würden wir uns an Vanth Bruil wenden, hätten wir nicht nur Haus Nanther und Haus Leiyraghon verärgert, sondern auch den Fürsten der Schlüssel und seine Truppen als potentielle Verbündete verloren. Für die Zukunft rate ich sogar generell davon ab, eine engere Kooperation mit Haus Bruil in Betracht zu sehen. Vanth Bruil gilt als zu jähzornig und die zunehmende Destabilisierung der Stadt durch den Streit mit seinem Sohn, dem Einsetzen der Streitkräfte nach familiären Belieben und der Öffnung Melvaunts für Söldner aller Art, sprechen nicht dafür, dass er an einem Frieden in der Mondseeregion interessiert ist.
Haus Leiyraghon eignet sich ebenso wenig als Verbündeter, bedenkt man die verwendeten Methoden. Allerdings sollte man hier zunächst die Fakten überprüfen, auch wenn ich fürchte, dass sich wenig ändern wird. Auftragsmorde sind in dieser Gegend keine Seltenheit. Aber das wäre eine längerfristige Überprüfung. Für unsere Audienz zählt nur, dass Haus Leiyraghon im Kräfteverhältnis das schwächste Haus ist und wir uns, wenn wir dieses Haus als favorisiertes Haus wählen würden, die Abneigung zweier größere Häuser zuziehen würden.
Es bleibt also nur Haus Nanther. Und das ist vielleicht auch nicht die schlechteste Wahl. Die Familie ist tief mit den Strukturen der Stadt verwurzelt und auch wenn die Herrschaft Dundeld Nanthers streng war, so hielt sie doch den Einfluss dunkler Mächte in Schach. Vielleicht denkt Woarsten ähnlich und ließe sich auf eine Zusammenarbeit ein. Wir sollten es zumindest probieren.
Was sagt ihr?"