Als Kind war Amaara ausgerissen, um alleine in der großen Stadt ihr Glück zu machen. Anfänglich bedeutete das jedoch, dass sie sich immer nur mit den anderen Straßenkindern um die besten Abfallhaufen prügeln musste. Dabei lernte sie allerdings, dass sie durch Täuschung und Hinterlist wesentlich erfolgreicher sein konnte, als durch rohe Gewalt.
Als sie dann kurz vor Erreichen ihres 100. Lebensjahres von einem reichen Kaufmann darauf angesprochen wurde, ihm für Geld eine Nacht lang gefällig zu sein, kam ihr der Gedanke, sich auch in Zukunft als Freudenmädchen zu betätigen. Auf diese Weise hatte sie nicht nur ein anständiges Honorar verdienen können, sondern war auch jederzeit in der Lage, sich an der Geldbörse der Freier zu bedienen, die ihrer Meinung nach zuviel besaßen.
Seit sie jedoch einmal einen Kunden, der zu aufdringlich geworden war, mit seinem eigenen Dolch hatte töten müssen, versteckt sie stets mehrere dieser Waffen an ihrem Körper, um sich gegen solche Angreifer zur Wehr setzen zu können. Die Narbe, die ihr dieser Mann am linken Oberschenkel zugefügt hatte, weiß sie ebenso gut zu verstecken, wie ihre sechs Dolche.
Und auch heute noch verlässt sie sich aufgrund ihrer mangelnden Körperkraft immer wieder auf ihre Fähigkeit, einen eventuellen Gegner zu täuschen um so seine Blöße für sich zu nutzen.
Spoiler (Anzeigen)24. Eleasias 1354 (Jahr des Bogens), in einer namenlosen Seitengasse Athkatlas, wenige Stunden nach Mitternacht
Wieder traf sie der Fuß in die Rippen. Wieder wurde ihr gewaltsam die Luft aus der Lunge gepresst. Wieder zwang sich ein gequältes Stöhnen aus ihrer Kehle. "Hast du es jetzt kapiert?!", brüllte der bullige Orc sie an und trat ein weiteres mal nach ihr. Amaara versuchte gar nicht mehr sich dagegen zu wehren. Das machte ihn nur noch wütender, ließ ihn nur noch heftiger zu treten. Sie hoffte, das er und seine Bande sie einfach dort liegen lassen würden, wenn sie sich nicht mehr regte.
"Hast du es jetzt kapiert?!", wiederholte der Orc, "Das hier ist unser Gebiet! Entweder du verziehst dich, oder du zahlst deinen Tribut!" Noch ein Tritt. Dieses mal glaubte Amaara das Knacken von Knochen zu hören. "Du kannst froh ein, dass wir dich diesmal noch so leicht davon kommen lassen. Wenn wir dich noch einmal hier erwischen, geht´s dir wirklich schlecht.", drohte er und spuckte sie an. Seine Bande, ein zusammen gewürfelter Haufen von Menschen, Goblins und noch mehr Orcs, taten es ihm gleich und endlich, endlich wandten sie sich von ihr ab.
Amaara blieb noch so lange auf dem harten Pflaster liegen, wie sie hörte, dass sie sich laut lachend und schmutzige Witze machend von ihr entfernten, und selbst als sie schon außer Hörweite waren war sie noch einige Minuten - oder waren es Stunden? - nicht in der Lage wieder auf zu stehen. Es war ihr schon schwierig genug, überhaupt die Kraft zu finden, zu atmen. Erst als sich die ersten Sonnenstrahlen am Himmel zeigten, brachte sie es über sich, sich langsam wieder auf die Beine zu kämpfen. Sie musste diesen Teil der Stadt verlassen, oder sie würden sie wirklich töten. Oder schlimmeres.
Mühsam schleppte sich Amaara durch die Straßen Athkatlas, die Zähne aufeinander beißend und ihr zerrissenes Kleid fest haltend, damit es nicht zu Boden fiel. Jeder Schritt war eine Qual für ihrer geschundenen Beine, die die Schläger des Orcs unter ihr weg getreten hatten und jede Bewegung wandelte den dumpfen, pochenden Schmerz in ihren Rippen in ein unerträgliches Stechen, dass ihr durch den ganzen Körper ging, aber irgendwie schaffte sie es, den Stadtrand zu erreichen. Sie befühlte ihr Gesicht und bemerkte, dass es geschwollen war, wo es von den Fäusten und Stiefeln getroffen worden war, und als sie ihre Hand zurück zog, waren ihre Fingerspitzen mit Blut bedeckt.
Leise weinend ließ sie sich am Rand eines Baches nieder. Was sollte sie jetzt tun? Wohin gehen? Sie hatte kein Kupferstück mehr und auch alles andere, was sich für ein bisschen Geld verkaufen lassen oder gegen ein bisschen Wein eintauschen lassen würde, hatten sie ihr genommen. Vielleicht hatte ihre Mutter recht gehabt und Elfen gehörten wirklich nicht in die Städte der Menschen, doch für sie gab es nun kein zurück mehr.
Aufmerksam schaute Amaara sich um. Sie war unbeobachtet und es war nicht wahrscheinlich, dass so früh am Morgen jemand auch nur in Sichtweite kommen würde. Also legte sie ihr einst hübsches Kleid am Ufer des Baches nieder, stieg in das Wasser und begann, vorsichtig ihre Wunden zu waschen. Anschließend brachte sie ihr Kleid notdürftig mit ein paar Knoten soweit in Ordnung, dass es wieder zusammen hielt und sie es nicht mehr fest halten musste, bevor sie sich wieder auf den Weg in die Stadt machte, um heraus zu finden, an wen sie ihren Tribut zu zahlen hatte.
29. Nachtal 1361 (Jahr der Jungfrauen), Waukeens Promenade, kurz nach Sonnenuntergang
Frierend hatte sich Amaarra in einen Hauseingang zurück gezogen und zu einer kleinen Kugel zusammen gerollt. Diese Nacht versprach besonders kalt zu werden und sie war sich sicher, wenn sie einschlafen würde, würde sie nie mehr erwachen. Immer noch trug sie ihr zerfetztes Kleid, das nicht im geringsten in der Lage war, sie vor der bitteren Kälte zu schützen. Die Tribute, die sie wöchentlich zu zahlen hatte, ließen ihr kaum mehr übrig, als sie zum Überleben brauchte und dennoch musste sie an manchen Tagen hungern. Nach einigen Tagen des Fastens hatte sie sich zumindest ausreichend angespart, um einem schmierigen, einäugigen Straßenhändler eine alte, zerschlissene Decke ab zu kaufen, die mehr Löcher hatte als ein Sieb. Am ganzen Leib zitternd zog sie sich den Lumpen über den Kopf. Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, einfach nicht mehr auf zu wachen, sagte sie sich, vielleicht wäre es das beste...
"...drei Silberlinge?" Amaara schreckte hoch, als sie die Stimme hörte. Sie war tatsächlich eingeschlafen, doch die seltsame Frage des Mannes vor ihr hatte sie wieder geweckt. Es war ein großer, ziemlich dicker Mann in einem teuren, maßgeschneiderten Anzug und auf Hochglanz polierten Lederstiefeln. Er hatte einen gut gepflegten Bart und was von seinem Gesicht zu sehen war, trug schon die ein oder andere Falte, was von seinem fortgeschrittenen Alter zeugte. Er musterte Amaara mit einem Gesichtsausdruck, den sie nicht zu deuten wagte.
"Was?", fragte Amaara noch völlig schlaftrunken und spürte plötzlich die Kälte wieder. Im Schlaf war ihre Decke nach oben gerutscht und hatte nun ihre Beine entblößt. Beschämt schob sie sie wieder nach unten und zog die Beine an den Körper, um sich vor der Kälte zu schützen.
"Na gut, vier.", erwiderte der Fremde anstatt einer Antwort und setzte ein freundliches Lächeln auf, wobei er eine Reihe perfekter, weißer Zähne zeigte.
Seltsamerweise war Amaaras Gedanke dabei nur: Vielleicht ist er doch nicht so alt. Sie blickte ihn verwirrt an. "Ich weiß nicht wirklich, was ihr..."
"Also fein. Fünf, aber das ist mein letztes Wort." Der offensichtlich sehr reiche Mann verschränkte die Arme vor der Brust und blickte sie herausfordernd an.
"Fünf Silberlinge?", fragte Amaara immer noch verwirrt. Sie war noch viel zu verschlafen und fror viel zu sehr, um zu verstehen, was er von ihr wollte. "Ich habe keine fünf Silberlinge. Ich habe nicht einmal einen." Ist das der neue Anführer der Diebesgilde in dieser Gegend?, fragte sie sich. Die Gilden hatten in den letzten Jahren oft die Anführer gewechselt. Heißt das, ich muss diese Woche zweimal meinen Tribut zahlen?
Lange Zeit schwieg der Fremde und schaute sie nur forschend an. Seine Blicke folgten dabei den Linien ihres Körpers, der sich unter der Decke abzeichnete. Schließlich ergriff er wieder das Wort: "Du weißt, wie man handelt.", gestand er ihr zu, "Wie du willst. Sieben Silberlinge, aber dafür bleibst du dann die ganze Nacht."
Endlich begriff Amaara, was er von ihr wollte und wofür er sie hielt. Sie holte tief Luft und wollte protestieren: "Das ist ein Irrtum, ich bin keine..." Sie verstummte, als ein plötzliches, heftiges Zittern durch ihren Leib ging und sie erneut spürte, wie die Kälte ihre Haut zusammen zog. Eine Weile schwieg sie und betrachtete ihre von der Kälte bläulich angelaufenen Finger. "Ihr gebt mir sieben Silberlinge und dafür bleibe ich die ganze Nacht in eurem Haus?"
Der reiche Mann schüttelte den Kopf. "Nicht in meinem Haus. In meinem Zimmer im besten Hotel der Stadt." Er reichte ihr die rechte Hand machte mit der linken eine einladende Geste in Richtung der Kutsche, die hinter ihm stand.
Amaara traute sich zuerst nicht, sich zu bewegen, doch der Gedanke, eine Nacht lang in einem geheizten Zimmer zu verbringen und nicht zuletzt die Aussicht auf sieben Silbermünzen waren eine zu große Versuchung als dass sie hätte widerstehen können. Leise seufzte sie, zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und ergriff seine Hand, die sich in diesem Moment wunderbar warm anfühlte. Galant half er ihr auf und geleitete sie zu seiner Kutsche. "Mein Name ist übrigens Damian Jysstev. Mit wem habe ich die Ehre?"
"Amaara", erwiderte sie artig, "Amaara Firron."
30. Nachtal 1361 (Jahr der Jungfrauen), Mithrest Inn, Sonnenaufgang
Amaara hatte die ganze Nacht nicht schlafen können. Sie hatte nur wach gelegen und sich kaum gewagt, zu bewegen. Weder das weiche, warme Bett, noch das ruhige, gleichmäßige Atmen Damians neben ihr, hatten ihr Ruhe bringen können. Ihr Herz schlug ihr immer noch bis zum Hals und das Erlebte ging ihr immer und immer wieder durch den Kopf.
Damian hatte ihr noch in der Kutsche einen Koffer in die Hand gegeben und sie dann an der Rezeption als seine Bedienstete vorgestellt. "Selbstverständlich", hatte der Rezeptionist nur mit einem wissenden Lächeln erwidert und sie kurz gemustert, was sie dazu brachte, verlegen zu Boden zu blicken, "wünschen die Dame vielleicht ein heisses Bad, eine warme Mahlzeit oder andere Annehmlichkeiten?"
"Ganz bestimmt.", hatte Damian für sie geantwortet, der bereits bemerkt hatte, dass sie zu schüchtern sein würde, "ich vertraue darauf, dass ihr alles wie üblich zu unserer Zufriedenheit arrangiert." Ohne ein weiteres Wort hatte er Amaara dann bei der Hand genommen und sie eine Treppe hinauf geführt. Kaum waren sie allein gewesen, hatte er ihr den Koffer, der ohnehin sehr leicht war wieder abgenommen und sie weiter einen Gang entlang bis zu einer Tür geführt, die er für sie geöffnet hatte. In dem Raum dahinter fand sich ein riesiger Badezuber und Regale voll duftender Seifen und kleine, mit gläsernen Deckeln versehene Fläschchen. "Warte hier einen Moment", hatte er sie aufgefordert, "bald wird das Zimmermädchen kommen und dir dein heißes Wasser bringen. Wenn du fertig bist, findest du mich in dem Zimmer am Ende des Ganges."
"G-gut.", hatte Amaara stotternd geantwortet und war sich unglaublich dumm und armselig dabei vor gekommen. Damian aber hatte ihr nur lächelnd über den Kopf gestrichen und dann seinen Koffer in besagtes Zimmer getragen.
Nachdem sie ihr Bad beendet hatte, hatte Amaara kurz mit dem Gedanken gespielt, schnell wieder zu verschwinden, aber der Gedanke wieder in die kalte Nacht hinaus zu müssen, besonders jetzt, da sie noch von dem Bad so aufgewärmt war, schien ihr geradezu unerträglich. Außerdem war es ihr ungerecht gegenüber Damian erschienen, der sich bisher ihr gegenüber nicht weniger als liebevoll und - was noch wichtiger war - respektvoll verhalten hatte. So war sie langsam, Schritt für Schritt, in einen der zum Hotel gehörenden Bademäntel gehüllt, zu seiner Tür gegangen und hatte zaghaft angeklopft...
Ein leichtes Schmunzeln huschte Amaara über das Gesicht, als sie sich an den "Imbiss", wie Damian es nannte erinnerte, welchen er für sie hatte bringen lassen. In ihren Augen war es eher ein Festmahl gewesen und es hatte ihm anscheinend gefallen, mit welchem Appetit sich die junge Elfe an den vielen, größtenteils unbekannten Speisen erfreut hatte.
Auch anschließend war Damian sehr zärtlich zu ihr gewesen. Zwar hatte es etwas weh getan, das musste sie sich eingestehen, und sie hatte sogar einmal die Zähne aufeinander beißen müssen, um nicht laut auf zu schreien, aber es war weniger schlimm, als sie es sich aus gemalt hatte. Tatsächlich konnte sie sich vor stellen, das gleiche noch einmal zu machen.
"Hast du gut geschlafen?" Ohne dass Amaara es bemerkt hatte, war Damian aufgewacht, hatte sich im Bett aufgerichtet und blickte sie nun abwartend an. Statt einer Antwort lächelte sie nur höflich. Sie wollte ihm nicht sagen, dass sie kein Auge zugetan hatte. "Möchtest du vielleicht frühstücken? Das machen die hier großartig.", fragte er dann, während er selbst das Bett verließ.
"Ja!" platzte es aus ihr heraus, bevor sie bemerkte, dass das wohl etwas ungebührlich war und dann mit beschämt nach unten gerichtetem Blick zu stammeln: "Ich... ich meine... ein Frühstück würde ich sehr zu schätzen wissen." Damians leicht belustigtes Lächeln konnte sie so aber nicht mehr sehen.
"Sehr schön," erwiderte Damian, "ich werde uns etwas bringen lassen." Er war gerade den halben Weg zur Tür gegangen, als er sich noch einmal um drehte. "Ach, beinahe hätte ich es vergessen: Hier hast du dein Silber." Er nahm einen Geldbeutel hervor, stellte ihn auf dem Nachttisch ab und zählte sieben Silbermünzen heraus, die er daneben legte. "Du hast es dir wirklich verdient.", versicherte er ihr,bevor er den Raum verließ.
Amaara blickte eine Zeit lang das Silber nur mit großen Augen an und wagte kaum, es nur zu berühren. Fast fürchtete sie, es könne sich als eine bloße Illusion heraus stellen. Noch größer wurden ihre Augen, als sie bemerkte, was noch alles in dem großen Geldbeutel verblieben war, den Damian sorglos dort hatte offen stehen lassen. Gold- und Silbermünzen in Hülle und Fülle befanden sich darin, mehr Geld, als sich die junge Elfe jemals vor zu stellen gewagt hatte. Vor Aufregung zitternd nahm sie eine Handvoll der glitzernden Münzen heraus. Davon könnte ich Monate lang, vielleicht Jahre lang meinen Tribut zahlen und trotzdem gut leben. schoss es ihr durch den Kopf.
Plötzlich waren alle guten Vorsätze und alle Skrupel vergessen. Von einem wahren Goldfieber gepackt schlüpfte Amaara in ihr Kleid, schnappte sich zusätzlich zu den Münzen, die sie schon in der Hand hielt noch ihre sieben Silberstücke vom Nachttisch und stürmte so schnell sie konnte nach draußen. Ich werde ihn sicher nie wieder sehen. Er hat sowieso genug Geld. Vielleicht bemerkt er es nicht einmal. versuchte sie sich zu beruhigen, während sie durch die Straßen rannte, als ob sie bereits verfolgt würde.
30. Nachtal 1361 (Jahr der Jungfrauen), in einer namenlosen Seitengasse Athkatlas, kurz nach Sonnenuntergang
Wieder fror Amaara bitterlich. Wieder versuchte sie sich vergeblich unter ihrer Decke zu wärmen. Zwar hatte diese neue Decke - die alte hatte sie in ihrer Hast in dem Hotel vergessen - weniger Löcher, doch bot sie auch nicht viel mehr Schutz gegen die bittere Kälte der Nacht. Zudem wurde sie nun auch noch von einem schlechten Gewissen gequält. Ich hätte das nicht tun dürfen. Er war immer nur gut zu mir gewesen und ich habe ihn betrogen. Aus Furcht vor Entdeckung hatte sie es kaum gewagt, etwas von ihrem gestohlenen Geld aus zu geben, und so hatte sie sich wieder in den Hintereingang eines Geschäftes verkrochen, anstatt ein Gasthaus auf zu suchen, um wenigstens ein wenig vor dem Wind geschützt zu sein.
Sie zog sich die Decke wieder über den Kopf und versuchte, sich mit dem Gedanken an die vergangene Nacht auf zu wärmen. Wie schön wäre es, wenn sie auch weiterhin so einfach ihr Geld verdienen könnte. Doch würde es wohl kaum jemanden geben, der bereit wäre, ihr so viel Geld zu bieten. Vor allem nicht jemanden, der sie gleichzeitig so liebevoll und zärtlich behandeln würde, wie Damian das getan hatte. Aber was wäre, wenn...
"...sieben Silberlinge?" In Gedanken war Amaara wieder ein geschlummert und war nun von den schon beinahe vertrauten Worten Damians wieder geweckt worden. Dieser lächelte sie nur an und streckte ihr eine Hand entgegen, wobei er wieder mit der anderen in Richtung seiner Kutsche weiste.
Bei seinem Anblick erschrak Amaara zuerst. War er gekommen, um sie zur Rechenschaft zu ziehen? Hatte er das fehlende Geld bemerkt und wollte es nun von ihr wieder haben? Oder war das alles vielleicht nur ein Traum? "Ich habe nicht... Ich wollte nicht...", stammelte sie unbeholfen.
Damian runzelte daraufhin die Stirn und zog seine Hand zögerlich wieder zurück. "War es denn so schlimm letzte Nacht?", fragte er mit leichtem Bedauern in der Stimme, "Ich hatte mich schon gewundert, warum du vor dem Frühstück gegangen bist, aber..." Er verstummte und blickte sie entschuldigend an.
Amaara erwiderte den Blick aber nur verständnislos. Es geht ihm gar nicht um das Geld, wurde ihr klar, möglicherweise hat er es nicht einmal bemerkt. Schnell schüttelte die Elfe den Kopf. "Nein, überhaupt nicht,", erklärte sie entschieden, "ganz im Gegenteil. Es wäre mir eine Ehre, euch erneut zu Diensten sein zu dürfen.", ergänzte sie, während sie sich erhob und ungeschickt einen Knicks versuchte. Auf diese Weise kann ich ihm zumindest einen Teil von dem zurück geben, was ich ihm genommen habe. dachte sie, während sie sich gut gelaunt wieder von ihm zu seiner Kutsche führen ließ.
24. Kytorn 1365 (Jahr des Schwertes), Waukeens Promenade, Sonnenuntergang
In ihrem neuen Kleid und mit dezent geschminktem Gesicht sowie einem betörenden Parfum ausgestattet wartete Amaara am Rand einer besonders belebten Stelle des gewaltigen Marktplatzes auf einen möglichen Kunden. Zwar bezahlte sie Damian immer noch besser als jeder andere, und suchte sie außerdem fast jeden Tag auf, aber nur, wenn er auch in der Stadt war, wozu er leider aufgrund seiner vielen Handelsreisen nicht oft die Möglichkeit hatte.
Aber Amaara machte sich nichts daraus. Über die Jahre war sie immer besser in ihrem Metier geworden und immer, wenn sie einen besonders reichen Kunden um ein paar Gold- oder Silberstücke zusätzlich erleichterte, wagte es niemand, sie in Verdacht zu ziehen. Vielleicht deshalb, weil niemand zugeben wollte, ihr Kunde gewesen zu sein, vielleicht aber auch deshalb, weil es nie jemandem aufgefallen oder einfach nicht als wichtig genug erachtet worden war. Was auch immer der Grund sein mochte, es kümmerte Amaara nicht wirklich, denn endlich hatte sie eine Möglichkeit gefunden, ein angenehmes Leben zu führen, in dem es ihr an nichts mangelte.
Ein gut angezogener Mann hatte sich ein wenig vom größten Betrieb entfernt an eine Wand gelehnt und beobachtete sie nun schon eine Weile mit kaum verhohlenem Interesse. Amaara warf ihm ein schüchternes Lächeln zu, zögerte aber noch eine Weile, bevor sie sich ihm näherte. Das Spiel war immer das gleiche. Man muss ihnen eine Gelegenheit geben, den ersten Schritt zu tun. erinnerte sie sich.
Wie erwartet zauderte er auch nicht lange, sondern machte sich, kaum dass er ihren Blick bemerkt hatte, auf den Weg zu ihr. Während er sich näherte, nutzte Amaara die Gelegenheit, ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Er war ein hochgewachsener Mann mittleren Alters mit kräftigen Armen und breiten Schultern, die durch seinen maßgeschneiderten Anzug nur noch mehr zur Geltung kamen. An seinem Gürtel prangte ein reich mit Juwelen und Ornamenten verzierter Dolch, der nach Amaaras Einschätzung allein schon mehr wert sein musste, als ein kleines Haus. Insgesamt war er ein mehr als zufriedenstellender Anblick, vor allem, da er zwar seiner Kleidung nach zu urteilen offensichtlich reich war, reiche Leute aber im Allgemeinen sonst nicht so einen kräftigen Körperbau hatten.
"Drei Silberlinge.", kündigte er an, als er dicht genug bei ihr war, dass sie ungehört miteinander reden konnten. Es war keine Frage, aber bei einem solchen Preis wäre Amaara dumm gewesen, nicht sofort zu zu stimmen. Dennoch behielt sie ihre Rolle des schüchternen Mädchens bei und nickte nur scheu, wobei sie ihm hin und wieder einen flüchtigen Blick zuwarf. "Gut.", erklärte er, packte sie grob am Arm und zog sie mit sich.
Der hat es aber eilig. dachte Amaara noch bei sich, aber sie wusste natürlich, dass manche Männer eine eher ruppige Umgangsart bevorzugten. Eigentlich war ihr das sogar ganz recht, bedeutete es doch, dass sie selbst nicht so viel Initiative zeigen musste. Wenn sie genau wissen, was sie wollen, muss ich mir nicht erst die Mühe machen, es heraus zu finden. Bei dem Gedanken huschte ihr ein kurzes Grinsen über das Gesicht, welches sie aber schnell verbarg, um ihre Rolle nicht auf zu geben.
Sie mussten nicht weit laufen, bevor sie an ihrem Ziel angekommen waren. Amaara bemerkte es erst dadurch, dass er ihren Arm los ließ, um eine Tür auf zu schließen. Beinahe wäre sie gegen ihn gelaufen, so plötzlich war er stehen geblieben. Kaum war die Tür geöffnet, packte er sie wieder am Arm, zog sie mit hinein und schloss hinter ihnen wieder ab.
Ein wenig enttäuscht schaute Amaara sich um. Hinter der Tür befand sich nur ein einziger Raum, der zudem noch geradezu kärglich eingerichtet war. Außer einem Bett mit einfacher, fleckiger Bettwäsche gab es nur noch ein paar größere und kleinere, verschlossene Schränke in dem kleinen Zimmer. Diese Einrichtung wollte so gar nicht zu dem ursprünglichen Erscheinungsbild ihres Kunden passen. Mit einem fragenden Blick beobachtete sie ihren Kunden, wie er seinen Gürtel ab nahm, und ihn sorgsam, beinahe liebevoll auf einen kleinen Schrank direkt neben dem Bett legte. "Mein Name ist Amaara", begann sie, "wie darf ich euch..."
"Zieh dich aus!", unterbrach er sie mitten im Satz. Seine Stimme schien den Befehlston gewöhnt zu sein.
Amaara stutze einen Augenblick. Es kam nicht selten vor, dass ein Kunde ungeduldig war und keine Verzögerungen wollte, doch ihre reichen Kunden bevorzugten normalerweise ein Vorspiel in Form von höfischem Werben oder mehrdeutigem Kokettieren. "Ehm, vielleicht möchtet ihr das lieber übernehmen", versuchte sie es erneut, "oder wenn ihr mögt, kann ich auch zuerst euch..."
"Zieh. Dich. Aus!", unterbrach er sie abermals. Seine Stimme hatte nun einen ungeduldigen, beinahe drohenden Unterton. Lautlos seufzte Amaara und begann, seinem Befehl nach zu kommen. Seltsamerweise würdigte er sie während dessen nicht eines Blickes, sondern hielt seine Augen, nachdem er die Jacke abgelegt hatte, stur auf seinen, auf dem Nachtschrank abgelegten Dolch gerichtet. "Endlich!", kommentierte er, nachdem sie fertig war und musterte sie nun erneut. "Komm her!", forderte er sie auf, indem er sich auf die Bettkante setzte und mit er flachen Hand leicht auf seinen Oberschenkel klopfte.
Bereitwillig gehorchte Amaara. Nun würde der Teil beginnen, bei dem sie nicht mehr mit Überraschungen zu rechnen hätte.
Sanft ließ sie sich auf seinem Schoß nieder, stellte die Beine in einer Imitation von züchtigem Verhalten, welches ihre Blöße noch mehr betonen sollte, nebeneinander und lehnte sich gerade so weit zurück, dass ihr Rücken an seiner Brust zum Liegen kam. Behutsam legte er einen starken Arm um ihre Taille und strich mit seiner freien Hand über ihre Schulter, an ihrem Hals entlang, folgte der feinen Linie ihres Unterkiefers und fasste schließlich ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. In Erwartung eines ebenso sanften Kusses schürzte Amaara ihre Lippen während sie der Bewegung folgte, als er ihr Gesicht langsam drehte, um seinem zu begegnen.
Der Ausdruck, den sie dort sah, ließ sie vor Angst erstarren.
Von der Zärtlichkeit und Leidenschaft, die seine Berührungen verhießen war dort nicht ein Schimmer zu erkennen. Statt dessen war sein Mund zu einem bösen Grinsen verzogen und in seinen Augen blitzte schiere Mordlust. Der Arm um ihre Taille wirkte nun nicht im Geringsten angenehm, sondern schien sie geradezu gefangen zu halten. Dennoch wagte sie nicht, sich zu bewegen, denn bevor sie auch nur einen Muskel hatte rühren können, war nun statt seiner Hand plötzlich der Dolch an ihrem Hals, dessen Spitze so fest gegen ihre Haut drückte, dass bereits ein kleiner Tropfen Blutes an der Klinge hinab lief.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, in der Amaara steif wie eine Statue blieb. Deutlich spürte sie seinen Atem auf der Haut in ihrem Nacken, während sie selbst aber kaum zu atmen wagte. Schließlich begann die Spitze des Dolches an ihrem Hals hinab zu wandern und endlich fand sie ihre Stimme wieder: "B-bitte legt den Dolch weg, mein Herr, es gibt doch keine Veranlassung..."
"Doch, natürlich gibt es eine." Seine Stimme war nun überraschend ruhig. Sie erinnerte Amaara an ein Raubtier, kurz bevor es los springt, um seine Beute zu töten. "Ich zeige dir eine Veranlassung." Die Spitze der Klinge drückte sich gegen ihre Brust und einige Tropfen Blut rannen über ihre Haut.
"Bitte nicht," flehte Amaara, "sonst werde ich schreien." Sie erschrak selbst fast darüber, wie schwach und hilflos ihre Stimme bei diesem verzweifelten Versuch einer Drohung klang.
"Das hoffe ich doch.", war die höhnische Antwort, "Das haben die anderen auch alle getan." Weiter hinab ließ er die Klinge wandern, von ihrer Brust, über ihren Bauch, verharrte kurz an ihrem Bauchnabel, um dann noch weiter hinab zu wandern...
Und Amaara schrie.