Juwyn folgt dem Archivar und Lord Thackery in die Kammer des Fürsten. Sie hat Tholath III. noch nie zuvor zu Gesicht bekommen, auch nicht aus der Ferne, und so ist dieses Treffen von Angesicht zu Angesicht eine interessante, wenn auch etwas beklemmende Erfahrung für sie.
Die Diebin hat sich den Regent von Nebelfels ganz anders vorgestellt: Protzig und prächtig, mit Gold umhangen und mit vielen Gemmen an wurstigen Fingern. Kurzum hatte sie jemanden erwartet, bei dem es es auf den ersten Blick lohnen würde, ihn verstohlen um das ein oder andere glitzernde Geschmeide zu erleichtern.
Als Lord Thackery vortritt, um sich zu verbeugen, tut sie, ohne zu zögern, das Gleiche, auch wenn sie hinter dem Adeligen bleibt. Sie weiß, wo an diesem unseligen Ort von einer Festung ihr Platz ist. Auch als Lord Thackery sie vorstellt, verbeugt sie sich schweigend, wenn auch nicht so deutlich wie beim ersten Mal.
Juwyn versteht den Unwillen der Halbork, sich irgendwem unterzuordnen, sei es nun einem Fürst wie demjenigen, den sie gerade vor sich haben, oder einem Hund der Diebesgilde, der die Abgaben eintreibt.
Doch hier sind sie Gäste, und auch wenn Juwyn sich sonst eher selten mit angemessenen Umgangsformen befasst, ist ihr Gastgeber immerhin der Kopf hinter einer riesigen Garde und auch der Stadtwache. Das ist schon Grund genug, warum sie ihn nicht verärgern will und auch warum Shirish ihr Verhalten Juwyns Meinung nach überdenken sollte.
Es ist seit jeher Sitte, auch wenn es eine unnütze Sitte ist, dass man Adeligen gegenüber Respekt zollt. Und Adelige bestehen in der Regel darauf, dass Leute niederer Herkunft dem auch nachkommen, und greifen nicht selten zu barschen Mitteln, wenn sie sich durch Missachtung dieser bürgerlichen Pflicht gekränkt fühlen. Das erzählt man sich zumindest auf den Straßen. Man lästert und reißt Witze über die hochnäsigen, gepuderten Höflinge, die aber andererseits, ihre Würde vergessend, alles Erdenkliche taten, um ihrem Fürsten zu gefallen.
Doch Lord Thackery ist nicht so, das hat Juwyn schnell gemerkt. Auch wenn man ihm den Adel anmerkt, hat er auf sie noch nie arrogant gewirkt. Er behandelt jeden mit höflichem Respekt, solange das auch erwidert wird. Shirish begibt sich gerade auf dünnes Eis, ist Juwyn bewusst, da die Halbork dabei ist, zwei Adelige auf einmal zu verärgern. Sei es durch das Zögern, wie auch durch das wütende, fast schon hasserfüllte Gesicht, das sie gerade macht.
Juwyn beschließt für sich, dass die Warnung des Adeligen, die er ihr vertraulich in der Bibliothek zugeflüstert hat, ernsthaft berechtigt ist. In Shirishs Augen blitzt der Zorn geradezu und dass sie offen zugegeben hat, eine Ninja zu sein, zeugt von gewisser Aggressivität und auf jeden Fall von hohem Geltungsbedürfnis.
Während sie über die Halbork nachdenkt und nur mit einem Ohr zuhört, wie Lord Thackery dem Fürst berichtet, fällt ihr ein, dass sie Shirish vor dem ersten Auftauchen der Geister gesehen hat. Wie sie im Schatten zweier Häuser in einer Gasse herumgeschlichen war. Juwyn hatte befürchtet, die Halbork würde sie beobachten. Vielleicht war es auch so gewesen. Vielleicht war sie ihr gefolgt und hatte nur deswegen die Geister gesehen.
Nun, denkt die Diebin und wirft einen Seitenblick auf Shirish, werde ich dich beobachten.
Lord Thackery hat recht: Einer Ninja ist nicht zu trauen.