10. Jantus 1214 - Die vergessene Gruft - 02:44 Uhr
Alvanons Tirade prallte an dem betenden Archivar ab, wie kalter Regen an einem Bleiglasfenster
[1] einer Kathedrale. Ungerührt, ins Gebet vertieft und wahrscheinlich unberührt von den fordernden Worten des untoten Abbildes eines Elben, übersah er das Verhalten des gesichtslosen Mannes. Vergolt den Ausbruch des Mannes mit unbarmherziger Ignoranz, während Dagurs Griff noch immer durch scharfe, kalte Windzüge für den Priester spürbar blieb, doch auch dies störte ihn in diesem Moment nicht. Dieser Moment, welcher für ihn Kontemplation
[2] war. Der ihn mit der Kraft versah, die er durch die für ihn unglückselige Auferstehung der ehemals toten Könige verloren glaubte. Er ließ sich nicht stören, weder von Fragen, noch von der Impertinenz einer Person, die sich für besser und höher erachtete.
Das Krächzen und Knirschen der sich langsam bewegenden Golems erfüllten für einen Moment als einziges Geräusch die vergessene Krypta, welcher Ort der ewigen Stille, Gefangenschaft, Vergessenheit der toten und untoten Könige war. Das Feuer umspielte jetzt wieder die Augen des Quecksilbergolems, des Anführers der Zah'rah. Er blickte den gesichtslosen Elben an und wartete beharrlich, dass dieser der Forderung nachkam. Diese Wesen waren trotz ihrer beeindruckenden Macht nicht beseelt, wie sollten sie die Wahrheit von einer Lüge unterscheiden? Oder waren die Zah'rah, diese mechanischen Missionare, Kreaturen ,Vecors anders? Wenn sie es waren, zeigten sie nichts davon, denn ihr Warten war beharrlich. Sie hatten mit der Zerstörung eines der toten Könige ihre Forderung unterstrichen. Aber wenn sie seelenlose Stahlkolosse waren, war auch keine Gnade von ihnen zu erwarten, war kein Wort an sie zu verlieren. Sie würden nur ein Niederknien und die Vecorformel als ein «Ja» oder ein Verweigern, Diskutieren, Disputieren oder eine Flucht als ein «Nein» interpretieren. Das zumindest stand zu befürchten, gerade für jene, die wussten, dass die Zah'rah älter als das Königreich Zhuras waren. Wer hatte sie gebaut? Wer hatte ihnen einen solchen missionarischen Geist gegeben, welcher der Reflexion oder der Beachtung der Zeit keine Rechnung tragen konnte? Diese Golems waren ein Epitom
[3] des gleißenden Fanatismus.
Das sonnenartige Licht der Golemaugen ließen Dhurek sein Gebet an seinen Gott beenden. Ein Gott, der in Zhuras verehrt wurde, doch von den untoten Königen maximal geduldet wurde. Ebenso wurde Dhurek nur geduldet, dessen war er sich bewusst geworden. Er stand auf und blickte an Alvanon, den er nur als Johannes kennen mochte, vorbei, blickte zu Clavius, dann zu Mephala. Er wusste, dass das Verweigern von Johannes und des noch immer knienden Maurons seinem letzten König das Skelett kosten könnte. Dabei war er doch so gut erhalten gewesen. Dhurek trat an allen vorbei an das Holzgestell, befühlte die unheiligen Sargnägel und strich über die unwohnt ledrige Haut des Toten.
"Als sei jede Fettzelle bei seinem Tod geschmolzen, ist er nun ein Toter aus Leder und Knochen geworden. Wie ein Ghul, nur ohne unnatürliche Lebensflamme...", sagte Dhurek mit einer Mischung aus Erstaunen und Bewunderung in seiner Stimme.
"Bei allen musste ich das Fleisch, so es noch an euch heften mag, rekonstruieren. Ich habe euch modelliert wie Talgkerzen; manche von euch, wie eine Wachskerze; andere wie eine Pechkerze. Jenes, was von euch zu rekonstruieren war, tat ich. Was verschollen war, blieb verschollen.", er blickte kurz mit einem kalten Ausdruck zu Alvanon.
"Doch er war anders. Kein Fleisch wollte an ihm haften, da sein Fleisch blieb. Ausgezehrt, entfettet, doch existent."Dieses Mal nahm er den Krug Engelsblut wieder selbst. Er goss ihn in die Opferschale und wartete, wie ein neues, untotes Leben in den Körper des ledrigen Mannes, der Dhurek so sehr an einen Ghul erinnerte, kam. Die Nägel verbrannten und Nicos schlug unlebend auf dem kalten, staubigen Boden auf. Er war erwacht.
Noch bevor jemand das Wort erheben konnte, taten die Zah'rah, was sie bei jedem Erweckten taten. Die Golems
[4] forderten, dass auch Nicos sich Vecor mit einem Kniefall und dem Wiederholen der Glaubensformel beugte
[5].
Als die hallenden, bedrohlichen Stimmen der Zah'rah wieder verklungen waren, widmete sich Dhurek dann endlich den Fragen, die ihm gestellt wurden.
"Ihr seid erwacht, sieben von acht sind erwacht, wiedergekehrt. Die Zeit der Erklärungen ist gekommen, und ich will manches berichten, doch nicht alles, ehe nicht jeder König sich dieser Sache verschrieben hat." Dhurek wusste, dass die Golems ihm nur die untoten Könige zerstören würden, weshalb er versuchte, sie nochmals davon zu überzeugen, dass Knie zu beugen und die Formel zu sprechen. doch die Formel selbst spielte für Dhurek kaum noch eine Rolle. Es musste weiter gehen, ungeachtet der kompromißlosen Missionare und der wenigen, renitenten Könige. Er hatte ihr Schicksal einmal besiegt, mit einer Macht, die kein Sterblicher beherrschen konnte, aber er konnte nicht verhindern, dass manche es wieder besiegeln wollten in diesem Augenblick. Dhurek glaubte, dass dies nicht mehr sein Kampf war.
Er blickte zuerst zu Clavius und beantwortete die Fragen, die er zuletzt gestellt hatte.
"Ihr seid vergessen worden und jeder, der euer Andenken verteidigt hätte, wurde auch vergessen, getötet, vernichtet. So sie konnten, verbrannten sie sogar die Knochen in magischen Feuern und verstreuten die Asche über die Felder vom Westkammgebirge bis zur Rûûn. Es ist ein Wunder, dass eure Körper in die vergessene Gruft gebracht wurden, damit die Zah'rah Jahrhunderte über sie wachten. Ich habe verstanden, welchen Zweck dies hatte und habe euch zurückgeholt. Doch für eure Geliebten, Freunde, Verwandten ist dies nicht möglich gewesen, so kein magischer Bund euch einte." Der Archivar, dem das Gebet sichtlich neue Zuversicht gegeben hatte, blickte auf die magischen Vertrauten und den noch immer packenden Zwergen.
"Sie leben nur noch in eurer Erinnerung. Eure Erinnerung ist der letzte Nachklang an sie. Eine Erinnerung wie derartig belebt wurde, wie eure geschundenen Körper. Ob sie im Nichts darben oder im Paradies sitzen und auf euch warten, das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Aber sicher ist, da Vecor ein gerechter Gott ist, dass wenn euer Tod ihren bedingt hat, eure Erlösung auch die ihre bedingt.", fügte Dhurek hinzu. Im Licht der Fackeln fiel auf, dass seine Augen langsam dunkler wurden. Sein Gesicht schien langsam einzufallen. Dhurek zitterte, doch ließ keine Unsicherheit mehr in seine Stimme fließen.
"Ich bin Dhurek Ghassor, Archivar des Vecor, Hüter der Schriften und Geheimnisse, Verwahrer der sieben Rollen des Reiches.", verkündete er.
"Eure Hoheiten mögen sich für prächtig, mächtig, wahrhaftig und überlegen halten, doch wisset, dass euer Rang, wie der meine, zwar auf einer hierarchischen Stufe stehen und über dem der gemeinen Menschen, Elben oder Zwerge, doch wir verblassen im Licht der Sonne. Nur das Leuchten Vecors lässt uns wichtig erscheinen. Ihr mögt euch gar für Geschöpfe der Nacht halten, doch selbst in der Nacht sieht Vecor euch durch die Monde. Ihr mögt an mir, ihr mögt an Vecor zweifeln. Ihr mögt an allem zweifeln, sogar an euch." Er blickte zu Alvanon. Dhureks Gesicht war nun gänzlich eingefallen und er wirkte selbst wie ein mit Haut bespanntes Skelett.
"Aber ihr habt mehr verloren als Gesicht, Fleisch und ein schlagendes Herz. Ihr habt Würde, Stolz, Gnade und Erlösung verloren. Vecor gewährt euch eine zweite Chance. Ihr mögt es als Sakrileg bezeichnen oder gar als Sakrament[6] der bleichen Hand Dagurs. Doch es ist nicht an uns, über die Wege der Götter zu urteilen, ihr könnt dem allem einen Namen geben, doch den Geist begreift ihr erst in der Erlösung. Wie diese Erlösung für euch aussehen mag, das kann ich euch nicht beantworten. Aber ich kann euch den Weg weisen zu ihr. Ich kann euch leiten, den Pfad offenlegen. Wie ihr ihn begeht, das ist nicht an mir zu entscheiden. Das ist nicht einmal von den Zah'rah zu entscheiden. Nicht einmal, ob ihr den Weg geht. Doch wisset, dass dieser Weg eure Chance ist. Dass ein Verlassen des Weges das endgültige, ewige Nichts bedeutet."Dhureks Augen finden an zu tränen, Blut lief aus ihnen, es strömte auch aus seiner Nase. Seine Stimme schwankte kurz, doch er bleib stehen, stützte sich auf seinen Gehstock und sprach gegen das, was ihm widerfuhr an.
"Ich habe euch wiederbelebt, weil ihr Versager ward, trotz aller der Segen, die ihr innehattet. Talent, Können, Geburt und Glück, diese Züge durchströmten euch, suchten euch als Schicksalsbegünstige aus. Doch für liederliche Lächerlichkeiten habt ihr es verschenkt, oder aus Furcht oder weil ihr von Sünden ablenken ließet. Ihr ward als Könige so erbärmlich, dass man euch nur noch vergessen wollte. Und vielleicht hat man euch Unrecht getan, denn niemand konnte aus euren Fehlern lernen. Und so kam es, dass nun ein Mann herrscht, der all eure Fehler vereinigt und doch nicht sterben will."Dhurek blickte sich um, das Blut sickerte nun auch aus seinen Ohren, seine Gesicht war eine Maske des Blutes.
"Der Weg, der euch vorbestimmt ist, ist jener: Das Reich, welches ihr jeweils an den Rand des Unterganges führtet, kann durch euch gerettet werden. Wenn ihr das Reich von seinem Tumben, von seinem Urbild der Unfähigkeit befreit. Darin liegt eure Befreiung aus dem Nichts.", sagte er theatralisch, ehe das blendende Licht der Zah'rah ihn innehalten ließ. Die Augen des Quecksilbergolems waren auf einmal auf ihn gerichtet, dann konzentrierten sie sich wieder auf jene, die noch nicht Vecor die Gefolgschaft bekundet hatten. Die Zah'rah bewegten sprechend ihre Mäuler, doch niemand hörte etwas, denn in den Köpfen der Untoten hallte es ohrenbetäubend.
"D A G U R!"