Es war getan. Der Schwur war geleistet und die größte Hürde auf dem Weg zurück in sein Leben damit gemeistert. Die Zar’rah stellten fortan keine Gefahr mehr für seinen Körper dar, in dem sich Alvanon noch immer ziemlich verletzlich fühlte, obgleich er sich immer mehr wie sein eigener anfühlte. Ihm wurde, während er noch kniete, bewusst, dass der Tod ihn umkreiste, gewissermaßen eins mit ihm geworden ist. Es war ein seltsames Gefühl, das Leben und den Tod in sich vereint zu wissen. “Und doch bin ich keines davon.“ Sein Blick ging zu den Zar’rah, mit denen er sich einen kurzen Moment vergleichen wollte, ehe er sich eines Besseren besann. Er lächelte, während seine Hand über den Boden glitt, um den rauen Boden zu spüren. Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass er immerhin nicht aller körperlicher Empfindungen beraubt wurde. Seine Umgebung nahm er kaum war, erst die ihm noch unbekannte Stimme König Maurons rief ihn zurück ins hier und jetzt, erinnerte ihn daran, dass es noch wichtigere Dinge gab, als die Entdeckung seines neuen Körpers.
Alvanon richtet sich auf, als Dhurek zu sprechen begann. Die Worte kamen ihm schrecklich belanglos vor. Worte, die ihn kaum berührten. Dass Dhurek in Vecors Auftrag handelte, war offensichtlich, und auch, dass Vecor nicht aus reiner Güte entschied, einem Haufen ehemaliger Könige und Königinnen das Leben erneut zu schenken. Der Elb vermutete, dass mit dem tumben Valash das Häuflein Staub gemeint war, was sich in einer Ecke der Gruft wie ein abstraktes Gemälde über den Boden verteilte. Eine Schwächung war dies wohl kaum, doch mit jedem Wort wurde auch die Neugierde größer. Alvanon wollte nun endlich wissen, weshalb er wieder hier war, weshalb er an den Lippen des Archivars hing. Zwangsweise musste er bei seinen Worten leise lachen. “Natürlich sind Zwerge und Elben nur schwerer von etwas zu überzeugen, als die im Geiste schwachen Menschen. Deshalb hat es auch ein Elb geschafft, den Menschen den König vorzuspielen, und nicht andersherum. Und die zwergischen Sturköpfe sind in dieser Hinsicht eh über jede Kritik erhaben.“ Der Elb schätzte diesen Charakterzug sogar an den Zwergen. Was er nicht schätzte, waren jedoch die Worte Dhureks. Sie kamen ihm mehr und mehr vor wie Lobpreisungen auf Vecor und seine Macht. Natürlich erkannte Alvanon die Macht Vecors an, immerhin lebte er jahrelang in einem Königreich, welches Vecor Untertan war. Es war jedoch eine Sache, die Macht anzuerkennen, und eine gänzlich andere, ihr auch zu folgen. Würde man jeder Macht folgen, die man sieht, wären die Fürsten und Herrscher dieser Welt mit Anhängern nur so überladen. Vecors Macht war keine, der er gerne folgen würde. Er hatte von Wüsten und unfruchtbaren Gebieten gehört und wusste auch, dass die unbarmherzige Sonne nur sehr wenig Gnade kannte. Die Zar’rah waren das perfekte Beispiel hierfür.
In einer kurzen Redepause erkannte der Elb in Dhurek ein gewisses Talent für Schauspielerei. Er wusste nicht, ob es vielleicht zu einem Ritual gehörte, doch er wusste mit seinen Handlungen und dem Liegeplatz auf dem Altar seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Und endlich drangen auch wissenswerte Informationen an Alvanons Ohren. Das Sanktuarium von Gharrusal. Es klang nach einem interessanten Ort, den er sehr gerne persönlich aufsuchen würde. Nicht um seiner Macht Willen, sondern wegen seines ästhetischen Interesses. Ein gänzlich anderes Interesse als das, was von Thuras ausging. Dieser musste also getötet werden, um den Auftrag zu erfüllen. “Ausgerechnet Mord. Meine Paradedisziplin!“, dachte der Elb bei sich und schüttelte den Kopf. Doch war es wohl notwendig, also fügte er sich in sein Schicksal. Nur überkamen ihn dabei leise Zweifel. Würde sein Plan wirklich aufgehen, wenn er den Herrscher des Reiches töten musste? Was würde das Volk dazu sagen? Es wäre vorher interessant zu wissen, wie die allgemeine Stimmung ist, denn was er auf keinen Fall wollte war, ein zweites Mal wegen Hochverrats hingerichtet zu werden.
Als Alvanon schließlich erfuhr, wie lange er in der Gruft gelegen hatte, hatte er das Gefühl des Schwindels in seinem Kopf. Beinahe 700 Jahre hatte sich die Natur an seinen Gebeinen bedient und sich das zurückgeholt, was er von ihr genommen hatte, um seinen Körper im Leben zu erhalten. Mehrere Jahrhunderte waren vergangen, und alles, was er auf der Welt kannte, war damit wohl auch zur Geschichte geworden. Er dachte bedauernd an die alte Zeit der Elben, in der sie noch unsterblich waren und sich nicht dem Zahn der Zeit beugen mussten. In diese Zeit wünschte er sich zurück, dann hätte er immerhin noch etwas, was ihm in seiner Heimat bekannt war. Siebenhundert Jahre waren selbst für die Elben ausreichend Zeit, um das Lebensgefühl mehr als nur in Nuancen zu verändern. Er fragte sich, wie es wohl in seiner Heimat aussah.
Plötzlich erschrak Alvanon, und er ging unter dem Schmerz in die Knie, der ihn durchzuckte. Als er wieder Herr seiner selbst war und den Archivar brennen sah, durchströmte ihn tiefste Zufriedenheit. Er schaute dem Lichterspiel einige Zeit zu und war versucht, seiner Genugtuung über das Vergehen des Mannes, der nicht fähig war, sein Gesicht wiederherzustellen, freien Lauf zu lassen. Das Lächeln blieb dennoch aus, die Maske blieb reglos. Der falsche König fühlte sich an die Vergänglichkeit des Seins erinnert, als er den warmen Schein des Feuers auf seiner Haut spürte und den Geruch des verbrannten Fleischs wahrnahm. Dhurek verging, so wie auch er über die letzten Jahrhunderte vergangen war, nur ungleich schneller. Im Tod waren letztlich alle gleich. “Auch im Untod?“, fragte sich Alvanon, während er den anderen Anwesenden nacheinander ins Gesicht blickte, wobei er erneut länger bei Mephala verharrte, da er ihre Augen nach wie vor seltsam anziehend fand. Der Elb war jedoch noch nicht bereit, das zu glauben, weshalb er entschieden den Kopf schüttelte und seine Frage somit selbst verneinte.
Als der von Dhurek für seine Macht gerühmte Nicos sprach, musste Alvanon zustimmen. Man konnte als Untoter tatsächlich viel erreichen. Umso mehr, wenn man nicht sein Gesicht verloren hatte, sondern eher lebendig aussah, so wie die anderen, die man mit ein wenig Schminke wohl vollends wieder zum Leben erwecken konnte, so sie denn wollten. Solange er selbst noch mit dieser Ruine von Gesicht über das Antlitz der Welt lief, würde an ihm jedoch stets der Makel des Todes haften bleiben und wohl jeden Mann vertreiben, der nicht hinter die Fassade zu blicken vermochte. Und dennoch, der Untod schenkte einem Zeit, viel Zeit. Er hatte sich mit diesem Thema niemals befasst, doch wusste er sich damit langsam aber sicher anzufreunden, da er die Vorteile erkannte. Auf eine perfide Art und Weise hatte er doch die Unsterblichkeit seiner Vorväter wiedererlangt.
Schließlich antwortete Alvanon auf die Worte des Ritters: “Ich habe weder einen Eid geleistet, noch ist es mein Reich oder das meiner Vorväter. Meine einzige Verbindung zu dem Reich besteht darin, dass ich es für eine kurze Zeit regiert habe. Dennoch, ich sehe die Notwendigkeit in unserem Auftrag und ich werde mit jedem Eifer dabei sein, ihn auszuführen. Ich werde an eurer Seite sein! Dennoch…“ Er blickte zu den anderen, um sich ihrer Aufmerksamkeit sicher zu sein. “Dennoch frage ich mich, was uns erwartet, sobald wir einen König ermordet haben. Wir, an die sich niemand erinnert. Ich habe nicht vor, für einen Mord zur Rechenschaft gezogen zu werden, aber das sollten wir draußen besprechen. Ich fühle mich eingeengt und diese Monster dort stören meine Kreise.“ Alvanon griff sein Hab und Gut, die Grabbeigaben, welche die Jahrhunderte überstanden haben, und verließ die Gruft, gespannt, was ihn draußen erwarten würde. Hoffentlich schien die Sonne nicht. Vorerst hatte er genug von Vecor.