10. Jantus 1214 - Die vergessene Gruft - 07:03 Uhr
Eine Hackordnung
[1] oder eine wirkliche Hierarchie war nicht gefunden und gleichzeitig deuteten manche Könige, wie es in ihrem Geblüt nach mancher Meinung verpflichtend war, an, dass sie alles andere als Freunde eines wie auch immer gearteten Egalitarismus
[2] waren. Und so galt für Könige vielleicht, ob sie es selbst wollten oder auch nicht, was für jedes gemeine Bauernheer galt, welches die heimischen Felder gegen Goblins, Räuber oder das Reich verteidigten. Erst das Feuer des gemeinsamen und spürbaren Leids und der Gefahr half beim Schmieden einer schlagkräftigen Truppe, beim Werden einer Hackordnung oder gar strukturierten Hierarchie. Dass jeder von ihnen auf seine Art versagte und teilweise mehr als ein Elbenleben im Nichts verbracht hatte, war noch kein verbindendes Element, sondern nur eine marginale Gemeinsamkeit, die sie zusammen an denselben Ort führte. Tutari, die geflohene Königsmörderin, bewies dann auch noch hinlänglich, dass ein Wink des Schicksals oder die Intervention eines Priesters keine Grundlage einer Zusammenarbeit war. Und wie auch jeder über Tutaris Verhalten urteilen mochte, selbst wenn sie bereits am nächsten Teich von einem grauen Reißer zerlegt worden sein mochte, war sie der Beweis dafür, dass ein geteiltes Schicksal und ein gemeinsames Ziel, ob freiwillig angenommen oder oktroyiert, nicht ausreichend war, um eine homogene, funktionierende und übereinstimmende Gruppe von Gefährten zu schaffen. Und dieser Schicksalswink mochte ein besonders schwer sein, waren es nicht nur unterschiedliche Wesen, sondern auch noch Wesen aus unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Vorstellungen, Wissens- und Verständnishorizonten. Waren ihre Weltsichten und ihre majestätischen Egos überhaupt zu vereinbaren? Selten traf es der Ausdruck einer Zweckgemeinschaft so gut, wie in dieser Gruppe von Untoten, denn sie waren vergessen, untot und vielleicht sogar verdammt, da man ihnen nicht die Totenruhe ließ. Was würde ihnen eine Blutlinie nützen, die nicht gelten kann, da kein Blut mehr in ihnen fließt? Was würde ein majestätisches Ego nützen, wenn sich keiner ihrer Herrlichkeit erinnerte?
Und wie würde die Schicksalsgemeinschaft reagieren, wenn mehr Könige sich wie Tutari benahmen?
Tutaris Verhalten hatte das Ende jeglicher Meditation, Reflexion und Fingerübung eingeleitet, aber ein jeder König oder Königin hatte ihre Zauber memoriert, ihre Mitte gefunden oder herausgefunden, dass die Glieder ihres Körpers nicht mehr schmerzempfindlich und dadurch deutlich belastbarer waren. Das verminderte Schmerzempfinden war eine große Gefahr, denn es verleitete zu halsbrecherischen Verhalten. Vielleicht würde es ihnen drohen, denn es war der Zeitpunkt des Aufbruches gekommen. Die Meditation und Tutaris Flucht hatte die Gespräche über die Ordnung und Unordnung der Gruppe unterbrochen und wahrscheinlich hatte Nicos recht, indem er andeutete, dass jeder erst seinen Wert im Konflikt und bei jeglicher Art der Herausforderung zu beweisen hatte, bevor er irgendwelche Ansprüche stellen konnte. Mephala hatte sich dafür ausgesprochen, dass die Schwachen aussortiert werden mussten und genau dies würde die Gefahr tun. Immerhin Morgrim wusste, wo sie sich gerade aufhielten, und dass es damit gar nicht so weit her war mit der überall lauernden Gefahr...
Der Weg, dem die folgten, als sie die bruchreife Hütte und die beiden erfrorenen Männer verließen, war kein natürlicher Weg, denn er war gerade und obwohl der Wald sich hier und dort sanft in kleine Senken und Steigungen wand, blieb der Weg auf einem Niveau. Der Schnee verbarg den Weg gut, aber außer kleiner Schlaglöcher schien es ein sauber gepflasteter Weg zu sein, der nur von einer Menge Schmutz und Humus bedeckt war. Ein Weg, der selten bereist und doch in ausreichendem Zustand war. Dass er so gerade war, ließ die bauliche Leistung beeindruckend, den Weg jedoch sehr langweilig wirken. Beinahe drohte man, unaufmerksam zu werden...
Der Himmel färbte sich bereits wieder ein, es war kalt und noch immer weitestgehend sternenklar. Wie lange mochten sie gelaufen sein? Die dritte Stunde vielleicht? Das Morgengrauen kündigte sich langsam an und tauchte den Wald in unheimliches Zwielicht. Die lebenden Toten, die vorher nicht weiter als drei Sprünge weit in die düsteren Wald sehen konnten und ihn deswegen mieden, bekamen nun ein paar Schritt mehr zu sehen. Doch der Wald wirkte nicht anders, kahle, eng zusammenstehende Bäume, zwischen denen etwas Puderschnee und von den Bäumen rieselnder Frost lag. Hier und dort waren abgebrochene Äste zu sehen, selten mal ein umgestürzter Baum. Tutari war wohl wirklich wahnsinnig, den Wald durch dieses nur schwer durchdringbare Gestrüpp durchqueren zu wollen, da sich auch nach drei Stunden der Wanderung noch kein Ende abzeichnete.
Vor Ihnen, in der Ferne, vielleicht einhundert Meter entfernt, zeichneten sich im heller werdenden Licht die Reste eines umgekippten Wagens ab. Es sah aus wie eine Kutsche, von heller Farbe. Sie war auf die Seite gefallen und wurde einstmals von zwei Pferden gezogen, welche tot vor der Kutsche lagen. Die Deichsel der Kutsche war gebrochen, der Kasten selbst von einfacher Machart. Es war keine typische Kutsche, sondern ein alter Reisewagen
[3], wie Mephala ihn aus ihrer Zeit als typisches Reisevehikel der Reichen kannte. Die Pferde waren massive Kaltblüter
[4] gewesen. Aus der Entfernung war nicht zu erkennen, wie sie genau gestorben waren. Nur der umgerissene Wagen gab einen Hinweis darauf.
Denn wer genau schaute, sah unter dem Wagen einen Oberkörper hervorschauen, der unter dem Reisewagen eingeklemmt war, aus einer Fensteröffnung hing zudem ein Arm heraus. In der Seite steckten grüngefiederter, sehr schmale, schwarze Pfeile, die in Alvanon gleich etwas auslösten, was in seinem lebenden Körper Adrenalin gewesen wäre. Die Gefahr war eine wohlbekannte Erinnerung. Albenpfeile. Der Elb konnte mindestens sieben Einschläge in dem Holz zählen. Ein Angriff? Aber was wollte die Kutsche an diesem Ort? Gehörten die erfrorenen Männer dazu? Waren sie und/oder der Reisewagen gar die Eskorte von Dhurek Ghassor? Es war ruhig, die Tierwelt ruhte im Winterschlaf und jene Tiere, welche diesen nicht hielten, warteten auf die ersten Sonnenstrahlen, ehe sie den Wald bevölkerten. Dies machte den Wald so ruhig, dass die Untoten in der Gefahr jetzt jeden Schritt hörten, den sie im Schnee machten. Sie hörten jeden morschen Knochen in ihrem Körper, die ohne die volle Muskelkraft knarzten und knirschten. Der Wald schien nicht bevölkert.
Ein Krachen! Irgendwo in der Ferne brach ein Ast unter dem Gewicht des auf ihn lasteten Schnees ab.