Badawi + KavehNach der kurzen Diskussion, wie sie nun weiter verfahren sollten, brachen Badawi und Kaveh auf, um zum Gottesdienst zu gelangen. Wohin sie mussten erschloss sich ihnen recht zügig, denn die Menschen, Elben und anderen Wesen strömten alle in die gleiche Richtung – zweifelsohne in die Richtung, in der der Gottesdienst stattfinden würde. Die Sonne am Himmel neigte sich bereits dem Untergang zu und würde in Kürze wohl den Horizont berühren, um zunächst mit ihm zu verschmelzen und schließlich das Licht mit sich zu nehmen. Vecor gab das Leben, und er nahm es auch. Manche Weise deuteten die Nacht als eine Mahnung Vecors, wie es ohne ihn auf der Enwe aussehen würde. Kalt und farblos, bar jeder Lebensgrundlage. Es waren Weise von Vecor, denn die Wissenden aus den Kreisen anderer Götter in der Wüste wussten längst um das Leben in der Wüste bei Nacht, wenn es nicht so heiß war, dass man sich die Füße verbrannte, wenn man zu lange über den Sand ging. Auch wussten viele von Nachtgewächsen zu berichten, die erst dann ihre Blütenpracht zeigten, wenn Raiva und Marnarn am Himmel zu sehen waren
[1].
Nach zehn Wegminuten erreichten die beiden mit dem Strom das Gebäude, von dem aus das Glockenläuten erklang. Sie befanden sich mittlerweile auf einem runden Platz, von dem aus sechs Straßen abgingen.
[2] Umrandet war der Platz, auf dem die Menschen in das scheinbar einzige Lehmgebäude der Oase strömten, von Palmen, die ein wenig Schatten spendeten. In der Mitte des Platzes befand sich der Tempel von Vecor und das Stimmengewirr aus seinem inneren ließ darauf schließen, dass er bereits gut besucht war.
Das Gebäude selbst war ebenfalls rund, und nachdem Kaveh und Badawi durch den Eingang hereingetreten waren, erkannten sie auch, dass es zwei Zonen für Besucher gab: eine für Vecorianer, eine für Gäste. In einem Kreis um eine auf den Boden gemalte Sonne spannte sich der Bereich der Vecorianer, außen herum war der Bereich der Besucher. Das Gebäude hatte in seiner Mitte über der Sonne ein Spiegelsystem, welches dafür sorgte, dass die Sonnenstrahlen dauerhaft auf die Sonne leuchteten und sie somit erhellten und zum Strahlen brachten. Die Wände waren ansonsten schlicht und bestanden auch im Inneren lediglich aus Lehm.
Noch immer läuteten die Glocken, noch immer strömten Leute herein. Badawi und Kaveh fanden noch Platz in einem Bereich recht weit außen, weit entfernt von der leuchtenden Sonne in der Mitte des Tempels. Die anderen Anwesenden knieten bereits auf dem Boden, so war es scheinbar Brauch hier. Auch neben den beiden kniete ein Anwesender, der krampfhaft etwas in den Händen hielt.
[3] Er wirkte nervös dabei, er zitterte. Man konnte befürchten, dass er das, was er in den Händen hielt, zerbrechen konnte, wenn er nicht aufpasste. Dabei murmelte er leise Worte vor sich hin, welche unter dem Glockengeläut jedoch beinahe verklangen.
[4] Er wiederholte die Worte wieder und wieder.
Nuwairah + MahlakarWährend Badawi und Kaveh zum Gottesdienst aufbrachen, machten sich Nuwairah und Mahlakar auf in Richtung des Gasthauses „Sonne und Mond“. Auf ihrem Weg kamen ihnen viele Leute entgegen, die wohl auf dem Weg zum Gottesdienst waren. Die beiden entfernten sich dabei vom Zentrum der Oase und kamen dabei schließlich auch wieder an dem alten Mann in der Bütte vorbei, den sie schon auf dem Weg zu ihrem Zelt passiert hatten. Scheinbar störten ihn die Glocken, denn er presste sich die Hände auf die Ohren und gab gut vernehmbar Klagelaute von sich, lamentierte dabei, dass Vecor seine Kreise störe und er doch nur Frieden und seinen Hunger stillen wolle.
Als sie das Gasthaus erreichten, fanden sie die Sitzplätze vor dem Gebäude, welches aus vielen langen Zelttuchbahnen bestand, verlassen vor. Niemand saß mehr draußen, um die Abendsonne zu genießen, die nicht mehr ganz so grimmig auf die Erde niederbrannte, wie noch am Nachmittag. Vor dem Eingang verkündete eine Tafel das Angebot des Tages – Hammeleintopf mit einer Karaffe Dattelwein für nur fünf Kupferlinge. Es roch draußen nach feinen Gewürzen und gebratenem Fleisch – eine willkommene Mahlzeit für jeden, der auf dem Marsch durch die Wüste einen Weg voller Entbehrungen erdulden musste.
Das Innere des Gasthauses wirkte einladend. Es gab einige Sitzgruppen aus Kissen, die um Wasserpfeifen und niedrige Tische herum angeordnet waren, ebenso wie improvisierte Stühle, die in vierergruppen um Fässer herum standen, die zu Tischen umfunktioniert wurden. Auf jedem der Tische stand eine kleine Öllampe, die bereits entzündet war und somit in dem Zelt für ein warmes, angenehmes Licht sorgte. Auch von den Deckenstreben hingen Öllampen herab, sodass es in dem Zelt nicht zu dunkel wurde. Am Rande des Zelts befand sich ein Tresen, hinter dem ein dicklicher Mensch stand und einen Krug spülte. Er war bereits in die Jahre gekommen und seine Haut spannte sich wie zähes Leder. Er war nicht der hübscheste Mann unter Vecors Antlitz, aber scheinbar wohl der Besitzer eines wichtigen Ortes in der Oase – das machte ihn zumindest zu einem Mann von Wert.
Sonst waren in dem Gasthaus nur drei Gestalten anwesend. Ein hochgewachsener Mensch saß an einer Wasserpfeife und genehmigte sich einen Zug. Vor ihm stand ein wenig Gebäck auf dem Tisch. Er war wie der Wirt nicht mehr der Jüngste und sein Bauch zeugte von Wohlstand, ebenso wie seine Gewänder aus edlem Tuch. Um seinen Hals trug er eine Kette, an der ein Amulett hing, auf dem eine Waage dargestellt war, die einen Geldbeutel mit Hafer aufwog.
[5] An einem der Fässer saß weiterhin eine junge Frau, die ein Gewand aus grobem Stoff trug. Sie sah apathisch auf den Tisch vor sich und hatte ihren Kopf auf ihre Hände gestützt, als ob sie über ein Unheil sinnieren würde.
Zuletzt war da noch ein Zwerg, der alleine in einer Ecke des Zeltes an einer Wasserpfeife saß, der leise vor sich hinredete, dabei immer wieder hektisch an der Wasserpfeife zog und sich umblickte.
[6]Der Wirt bemerkte die Neuankömmlinge und hieß sie willkommen:
“Seid gegrüßt, welche Freude, neue Gäste im Sonne und Mond begrüßen zu dürfen. Was kann ich für euch tun? Etwas zu essen? Wasserpfeife? Sagt dem alten Hamam, was er für euch tun kann!“