169. Tag im 366. Jahr des Ewigen Weges, 09:56 Uhr - Mayya Oase, östlicher Ausgang[/u]
Die Kamele waren unruhig unter der schon zu dieser Tageszeit sehr heißen Sonne. Mahlakar war der erste, der das Osttor erreichte, und er erblickte dort tatsächlich die Karawane, die bereit stehen sollte. Die beiden Ochsen vor dem Karren, der mit Nahrungsmitteln und Töpferwaren beladen war, wirkten ruhiger als die anderen Tiere und kauten entspannt das Mahl, was man ihnen vor dieser Reise serviert hatte. Wenn sie wussten, wohin es gehen sollte, ließen sie es sich nicht anmerken. Vielleicht war es dieser Tage besser, ein Ochse zu sein. Man machte sich weniger Sorgen wegen der am Himmel stehenden Sonne, die immer heißer brannte, und musste keine gefährlichen Aufträge erledigen. Die Wärter der Karawane begrüßten Mahlakar mit einer Verbeugung. Auch sie brachten einem das Gefühl entgegen, welches jeder der von dem Stammesführer Auserwählten verspürte: Niemand in der Zeltstadt wusste von ihrem Auftrag. Es gab keinen, der ihnen Glück wünschte, niemanden, der sich offen verabschiedete, wenn es nicht von ihnen ausging. Es schien, als würde dieser Auftrag offiziell nicht existieren. Auch bei den Karawanenwärtern nicht. Für sie war es ein Auftrag wie jeder andere auch. Man stellte für Reisegruppen die nötigen Mittel bereit, stellte keine Fragen – warum auch, denn die meisten Reisen waren uninteressant – und bliebt wie immer zurück in der Stadt.
Kurze Zeit nach Mahlakar erreichten auch Badawi und Tiatha den Aufbruchsort. Anhand der Sonne war es kurz vor der zehnten Stunde, man war also pünktlich und bereit. Damit alle mit den Kamelen zurechtkommen würden, erhielten die bereits Anwesenden eine erste Einweisung in den Umgang mit Kamelen. Für die meisten war dies sicherlich wichtig, denn nicht alle wussten, wie man ein Kamel behandeln musste, geschweige denn, auf welche Befehle die Kamele trainiert waren. Vor allem wusste man nun, wie man ohne Hilfe wieder auf die Kamele kam, nachdem man gerastet hatte.
Für Nuwairah war es noch ein geschäftiger Morgen. Der Weg führte sie in das Versorgungszelt, wo sie noch einige Besorgungen zu erledigen hatte. Dort wusste man schon Bescheid, dass sie kommen würde. Die dort arbeitenden Stammesmitglieder hatten allerdings auch die Anweisung bekommen, keine Fragen zu stellen. Diese Anweisung führten sie aus. Nuwairah bekam beinahe alle Gegenstände, die sie forderte. Einzig die Anforderungen, die sie an ihre Kleidung stellte, waren in der kurzen Zeit bis zum Aufbruch nicht zu bewerkstelligen. Man teilte ihr mit, dass solche Änderungen etwa einen Tag Arbeitszeit benötigen würden. Auch die Stange, nach der sie verlangte, war nicht vorrätig, aber man schaffte es, in sehr kurzer Zeit eine Stange zu organisieren, die den Anforderungen entsprach. Nachdem dies erledigt war, traf auch sie am Treffpunkt ein. Kurz bevor sie dort ankam, traf sie auf Kaveh, mit dem sie die letzten Meter des Weges teilte.
Kavehs früher Morgen war geprägt von Gesprächen mit direkten Untergebenen und Beratern von Häuptling Jamal. Es waren interessante und aufschlussreiche Gespräche, in denen er so einiges über die große Stadt des Feindes erfahren konnte. Man wusste zu berichten, dass die Wachen vor dem ersten Tor sehr speziell waren. Es waren Sonnenriesen, so sagte man sich, doch sie standen wohl nur zu repräsentativen Zwecken dort. Dennoch war es beunruhigend, dass die Stadt Zugriff auf Sonnenriesen hatte, denn wo zwei herkamen, gab es vielleicht noch mehr von ihnen. Die Sonnenriesen waren allerdings kein Hindernis, da das erste Tor der Stadt frei passierbar war. Von den Slums aus war der Marktdistrikt ohne Hindernisse frei erreichbar. Man wusste, dass die Wirtschaft ein wichtiger Aspekt der Stadt war und man auf ihn angewiesen war, wenn man weiterhin in Reichtum leben wollte.
Einer der Berater erzählte Kaveh, dass in Vecors Stolz demnächst ein großer Markt abgehalten werden sollte. Er wurde von den Stadtoberen ausgerufen und zu besonderen Ehren Vecors durchgeführt. War dies vielleicht ein Indiz darauf, dass in der Stadt etwas Besonderes vor sich ging? Ein solcher Markt ist in den letzten Jahrzehnten meistens dann ausgerufen worden, wenn ein neuer Herrscher eingesetzt wurde oder andere wichtige Veränderungen bevorstanden.
Eine letzte Information, die er noch erhalten konnte, handelte von den Verlorenen Söhnen. Eine Organisation in der Stadt, die die Ordnungshüter in Atem hielt. Es war wenig bis gar nichts über sie bekannt, aber sie waren anscheinend Adeodatus zugehörig und versuchten, religiöse Zeichen zu setzen, was unter anderem bereits Leben von Priestern gekostet hatte. Waren dies potentielle Verbündete?
Mit diesem neuen Wissen beladen, erreichte er zusammen mit Nuwairah die Karawane und die übrigen Mitreisenden. Auch die beiden Neuankömmlinge erhielten ihre Unterweisung in die Kunst des Kamelreitens.
Der letzte, der die Gruppe erreichte, war Mustafa, der in Begleitung eines Priesters erschien. Er hob entschuldigend eine Hand zum Gruße:
“Eh, verzeiht, dass ich ein wenig spät dran bin, aber ich wurde noch aufgehalten. Man wollte unbedingt noch die Geschichten meiner letzten Reisen hören und ich musste den Dieners Hrâuns mit mir nehmen.“ Er grüßte die Karawanenführer und nahm sich das letzte freie Kamel, in dessen Satteltaschen er einige lose Gegenstände verstaute.
[1] Der Priester war dort, um über die Reisenden den versprochenen Segen zu sprechen.
Mit fester Stimme sprach er:
“Auserwählte, hier steht ihr nun und seid vor einer Reise in die Feuer der Wüste. Es wird eine Reise voller Entbehrungen, doch voller Erfahrungen und Erkenntnisse. Jedes Hindernis macht einen stärker und die Feuer reinigen Körper und Seele. Ihr werdet wiederkehren und stärker sein, als zuvor. Gehet mit dem Segen Hrâuns, dem Herrn des Wahren Feuers, dem Vater der Flammen und dem Gebieter über die Glut. Ihr reist in seinem Namen, so wird sein Auge wachsam auf euch ruhen und die Flügel des Feuervogels werden sich schützend um euch legen.
Hrâun, ich bitte dich, achte auf diese wackeren Streiter und lass sie erfolgreich ihre Heimat wiederfinden. Sie reiten in deinem Namen und deinem Segen, sie bringen dir Ehre und Ruhm!
Das Feuer ist das Herz der Welt. Im Inneren wärmt das Feuer, vom Himmel her wärmt das Feuer. Doch merke, dass es nur einen wahren Herren über dieses Element gibt! Erkenne die Macht der Flamme, ihre reinigende Wirkung, ihre zerstörerische Kraft, ihre Kraft für Neuerungen! Bewundere nur die schlafenden Riesen und du siehst, welche Macht in dem Feuer steckt. Es kann die Erde erschüttern, die Luft vertilgen und das Wasser verdampfen lassen! Und ein Vulkanausbruch verursacht alle drei Sachen zugleich. Ein Vulkanausbruch ist der Beweis, dass das Feuer das wichtigste und mächtigste Element ist! Und ich bin der Herr über Vulkan, Magma und Lava! Und damit auch ein Herr der Fruchtbarkeit! Wenn du das erkannt hast, wird dir auch Segen des Feuers zu Teil. Erfreue mich mit den Gaben, die ich dir gab. Schmiede! Werke! Erschaffe! Mit dem Feuer, für das Feuer! Und erkenne auch, dass nur das Feuer dich erlösen und befreien kann und auch nur das Feuer, dich stärken und stählen kann. Doch wehe denen, die das innere Feuer in sich selbst oder anderen auslöschen! Wehe denen, die versuchen, das Feuer zu korrumpieren! Ihre letzte Chance ist nur noch die Tilgung oder Reinigung durch das Feuer.
So spricht Hrâun, möge er mit euch sein. Habt eine gute Reise und gehabt euch in Frieden!“ Dies waren die letzten Worte des Priesters, ehe er verschwand. Es war eine geläufige Segnung, die Reisende des Stammes erfuhren, ehe sie aufbrachen. Die Gefahren der Wüste waren allgegenwärtig, sodass jeder Händler des Stammes, der länger als einen Tag unterwegs war, dieses Segen erhielt.
Am Ende stand die Gruppe alleine bei den Kamelen. Sie waren bereit zum Aufbruch und der Weg führte hinaus in die Wüste. Bereits kurz nachdem sie aufgebrochen waren, fragte Mustafa:
“Wer soll eigentlich der offizielle Anführer unserer Karawane sein? Wir brauchen jemanden, der offiziell zu anderen sprechen kann. Das sollten wir rechtzeitig klären, finde ich.“