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Die Hohepriester des Nebels

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Sternenblut:
20. Goldenzeit im Jahre 457 nach Akish

Die Lichttunnel, die vor langer Zeit in der Zwillingswacht angelegt worden waren, und über ein kompliziertes Spiegelsystem das Licht von draußen in die beiden Höhlenstädte transportierte, tauchten den Tempelbezirk in ein angenehm helles Licht. Auf den Straßen, zwischen dem Nebeltempel und dem Zirkel des Richtspruchs, in der Händlergasse und Triamans Gasthaus, ja sogar bei der Pagode der Liebenden, wo sich die Halblinge sonst nur zu Hochzeiten einfanden, diskutierten die Bürger der Tiefen Wacht.
Nur selten waren die beiden Halblingsstädte so lebhaft wie im Augenblick. Die Bürgermeisterwahl stand an: Würde Janosch Zimmermann der neue Bürgermeister der Tiefen Wacht werden? Er galt als nachdenklicher Eigenbrötler, nicht unfreundlich, aber auch nicht allzu herzlich. Doch seit seinem Entschluss, sich zur Wahl zu stellen, ging er auf die anderen Halblinge zu, unterhielt sich mit ihnen und versuchte, ihre Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen zu verstehen.
Für noch mehr Aufregung aber sorgte sein Gegenkandidat: Dmiri Aryeon war der erste Nicht-Halbling, der sich jemals für dieses Amt zur Wahl gestellt hatte, ein waschechter Halb-Elf: Seine Mutter war eine Menschenfrau, die bereits schwanger in die Stadt gekommen war und hier eine neue Heimat gefunden hatte, während Dmiris Vater auf einer Reise von Räubern nahe des Großen Waldes ermordet worden war. Trotz seiner traurigen Geschichte war Dmiri ein lebhafter junger Mann. Aber viele Halblinge waren der Ansicht, dass der Halb-Elf sich niemals ganz in die Bedürfnisse des kleinen Volkes würde eindenken können, und war er mit seinen gerade mal fünfundzwanzig Jahren nicht auch viel zu jung?
Alles deutete also auf den gut doppelt so alten Janosch als Sieger hin – wäre da nicht die Jugend, die darauf hoffte, dass Dmiri ein wenig Veränderung bringen würde, vielleicht eine größere Festhalle bauen ließe oder dafür sorgte, dass der Schulunterricht interessanter gestaltet würde. Jeder ab zwölf Jahren hatte das Recht, zu wählen, und so war der Ausgang noch immer ungewiss.

Doch nicht jeden beschäftigte im Augenblick nur die Bürgermeisterwahl. Niemand hatte Hohepriester Marlan gesehen, seit Wochen nicht mehr, und dazu gab es im Moment ungewöhnlich viele Missionen für die Nebelwache. Nicht zu vergessen der plötzliche Wahnsinn des Uhrmachers Yerek, von dem manche befürchteten, der gleiche Wahnsinn habe auch Marlan befallen, weshalb ihn die anderen Priester wegsperrten. Dass diese versicherten, es gehe Marlan gut, verstärkte die Gerüchte nur…

Vielleicht würden einige wenige Auserwählte ja heute die Wahrheit über Marlan erfahren. Es waren Boten geschickt worden: Es wurde eine neue Gruppe für die Nebelwache gerufen. Fünf junge Priester des Nebeltempels hatten fünf Einwohner der Tiefen Wacht aufgerufen, sich am Abend zu melden. Mehr wusste keiner von ihnen. Es gab keinen Brief mit weiteren Erklärungen, nur die mündliche Botschaft des Priesters, der selbst nicht mehr wusste. Eben so, wie es immer ablief.

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Miriam sah Baltin unsicher an. Die junge Priesterin – sie war gerade einmal siebzehn Jahre alt – hatte Baltin die Botschaft überbracht, nachdem er einige Tempeleinkäufe erledigt und gerade wieder zur Tür hereingekommen war. Es war ungewöhnlich, wenn auch nicht einzigartig, dass ein Nebelpriester selbst zur Nebelwache gerufen wurde. Die junge Frau versuchte, einen Blick auf Baltins Augen zu erhaschen, die wie immer unter der Kapuze versteckt waren. Sie war nicht aufdringlich, eher besorgt. „Mehr weiß ich nicht. Nur, dass du heute Abend nach der Verkündung, wer der neue Bürgermeister ist, im Audienzraum der Hohepriester erscheinen sollst.“
Sie zögerte. Die beiden kannten sich seit über zwei Jahren, hatten sich immer gut verstanden, auch wenn sie sich nie allzu nahe gekommen waren. „Geht es dir gut?“

Am anderen Ende der Eingangshalle stand Torbrik, der junge Priester, der heute für das Kochen zuständig war. Alle wussten, dass Torbrik ein Auge auf Miriam geworfen hatte – vielleicht mit Ausnahme von Miriam selbst –, und der Halbling blieb mit finsterem Blick stehen, als er Baltin und sie zusammen sah. „Hast du die Einkäufe?“ rief er Baltin zu.

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Der alte Ab sah Silivros mit undeutbarem Blick an. Der junge Halbelf kannte diesen Blick – sein Lehrmeister setzte ihn immer dann auf, wenn er gegensätzliche Gefühle verspürte und sich nicht entscheiden konnte, welches davon er zum Ausdruck bringen wollte.

„Es ist eine große Ehre“, sagte er schließlich, ohne dass sich seine Miene veränderte. „Du stehst für die Sicherheit der Stadt und ihrer Bewohner ein, und vielleicht noch einiges mehr.“

Seine Finger trommelten auf den Tisch, und Silivros war klar, dass der Mensch noch nicht zuende gesprochen hatte. „Vermutlich wollen sie dich wegen deiner Heilerfähigkeiten dabei haben. Aber denk immer dran, du kannst noch mehr als das. Solche Missionen sind gefährlich, und vielleicht wirst du sogar kämpfen müssen.“

Ab hatte die gleiche Aussage, wenn auch mit immer anderen Worten, den ganzen Morgen über immer wieder gemacht. Das Thema schien ihn einfach nicht loszulassen, und dass er keine Antworten geben, sondern nur Vermutungen anstellen konnte, ärgerte ihn umso mehr. Ab hasste Vermutungen, insbesondere wenn es um das Wohl eines anderes Wesens ging. „Wissen, Glück und Gesundheit sind die drei höchsten Güter“, hatte er Silivros immer eingetrichtert.

„Wenn ihr in einen Kampf verwickelt werdet, denk nicht nur an die Anderen, achte auch auf deine eigene Gesundheit. Als Heiler ist dein Überleben möglicherweise der Garant für das Überleben der Anderen. Es kann notwendig sein, dass du ihr Leid ertragen musst, wenn deine Kräfte nicht für alle ausreichen.“

Dies war neu. Immer hatte Ab ihn gelehrt, das Wohl Anderer über sein eigenes zu stellen. Aber der Priester hatte Silivros auch noch nie in eine Umgebung schicken müssen, in der sein eigenes Wohl ernsthaft auf dem Spiel stand.

Plötzlich stand Ab von seinem Stuhl auf, den er dabei fast umwarf. „Hast du schon gepackt? Du wirst sicherlich einige Tage unterwegs sein, nimm dir ausreichend Kleidung und Nahrung mit. Und vielleicht etwas zum Schreiben, falls dir langweilig wird oder du wichtige Notizen machen musst.“

Er sah auf den Tisch, auf dem noch die Reste ihres Mittagessens standen. Ab hatte darauf bestanden, heute nicht gemeinsam mit den anderen Priestern zu essen. „Kümmer du dich um deine Sachen, ich räume ab.“

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Xabert warf Talia ein dankbares Lächeln zu. „Ich bin wirklich froh, dass wir dich haben“, flüsterte er ihr zu. „Wenn so viel los ist wie heute, sind deine langen Beine ein echter Segen.“ Der Gastwirt half selbst mit beim Verteilen der Getränke, so viel war zu tun. Doch im gleichen Moment wurde er auch schon wieder hinter der Theke gebraucht, und sputete sich an seinen eigentlichen Arbeitsplatz.

In der Tat war die Gaststätte, die direkt vor Herlons Stallungen lag, „rappelzappelvoll“, wie Xabert es ausdrückte. Das beherrschende Thema war die Bürgermeisterwahl. Gerade hatte Talia einige Krüge Honigbier an einen Tisch gebracht, als sich schon wieder die Tür öffnete. Der junge Mann, der hereinkam, war ein Nebelpriester, wie an seiner grauen Kutte leicht zu sehen war. Einige von ihnen trugen auch braun, aber die traditionelle Kleidung der Nebelpriester war silbrig grau.

Kurz sah er sich um, bis sein Blick auf Talia fiel. Zielstrebig ging er auf sie zu. „Verzeiht, ich muss kurz mit euch reden. Unter vier Augen. Habt ihr einen Moment?“

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Dindal sah mit zweifelndem Blick auf die Konstruktion seines Cousins. Die Grundidee war gut, wie es bei Fredric immer der Fall war. Aber die Umsetzung… er hatte die Vorstellungskraft, aber einfach nicht das Talent für solche Dinge.

Der Lastenarm, den Fredric aus einem massiven Baumstamm hergestellt hatte, ragte weit in die Straße ein, und in einem ledernen Tuch hing darin ein Maultier, das nervös röhrte. Gut einen Meter schwebte es über dem Straßenpflaster.

„Ich hatte es ganz genau ausgerechnet“, erklärte Fredric. „Es hätte das Gewicht des Esels tragen können müssen. Aber irgendetwas habe ich mit dem Fundament wohl doch falsch gemacht.“

Das Fundament, von dem Fredric sprach, war ein großer Felsbrocken, den er in eine Grube eingelassen hatte. Was Fredric nicht beachtet hatte, war, dass der runde Felsen sich bei genug Zugkraft zur Seite neigen würde. Und damit die ganze Lastkran-Konstruktion kurz davor stand, auf der Straße zu zerscheppern – inklusive darin gefangenem Maultier.

Um das zu verhindern, hatten Fredrics Mitarbeiter Seile um den Felsen geschlungen und hielten ihn mit reiner Muskelkraft auf seiner Position. Den fünf Männern – allesamt Halblinge – stand der Schweiß auf der Stirn, aber sie hielten tapfer stand – wenn auch wohl nicht mehr allzu lange.

„Hast du eine Idee?“ fragte Fredric kleinlaut. Vor wenigen Minuten war er zu ihm gerannt gekommen und hatte ihn um Hilfe gebeten, um eine ‚Katastrophe’ abzuwenden. Immer wieder schaffte es Fredric, mit der Unterstützung der richtigen Leute, das Schlimmste abzuwenden – und doch hielt ihn das nicht davon ab, es immer wieder zu versuchen. Man musste ihm zu Gute halten, dass einige seiner Erfindungen tatsächlich funktionierten. Von dem Geld, das er damit verdient hatte, finanzierte er nicht nur sein Leben, sondern auch seine Werkstatt und seine weiteren Erfindungen.

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